Heinrich Lübke: Schändliches Trauerspiel um den Bundespräsidenten - WELT
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Schändliches Trauerspiel um den Bundespräsidenten

Textchef ICON / Welt am Sonntag
Bundespräsident Lübke in Afghanistan 1967 Bundespräsident Lübke in Afghanistan 1967
König Mohammed Sahir Schah (l.) verabschiedet Bundespräsident Heinrich Lübke 1967 in Afghanistan mit militärischen Ehren
Quelle: picture alliance / dpa/dpa
Lange vor Christian Wulff rang Heinrich Lübke als Bundespräsident mit der Würde des Amtes. Lübke verhaspelte sich bei Reden und wurde als Nazi-Schreibtischtäter verunglimpft.

Das Beste, was es über den Bundespräsidenten noch zu sagen gab, war die Tatsache, dass er zu einer Art reich garniertem Sonntagsbraten für Satiriker, unnachgiebige Presseleute und selbst erklärte Moralapostel aller Art geworden war.

Die Verstrickungen aus der Vergangenheit, die ihn nun unaufhaltsam einzuholen drohten, klärte er nicht restlos auf. Weil er nicht wollte? Weil er nicht konnte? Und dann sein Auftreten: unsäglich!

Egal, wie sehr er sich mühte, in seinen Reden und Erklärungen verhaspelte er sich immer nur weiter und weiter. War er wirklich der Meinung, damit vor der Öffentlichkeit bestehen zu können? Oder erreichten ihn die teils böse-belustigten, teils verächtlichen Reaktionen kaum mehr? Selbst seine Frau, früh als würdige First Lady anerkannt, konnte ihm nun nicht mehr helfen. Es war ein schändliches Trauerspiel.

Man ahnt es – die Rede ist hier nicht von Christian Wulff . Der Mann, um den es geht, gab im Juni 1969 seinen Posten nach knapp zehn Jahren im Amt vorzeitig ab. Offiziell wollte er damit den Abstand zwischen der Wahl seines Nachfolgers und der Wahl zum 6. deutschen Bundestag am 28. September 1969 vergrößern.

Lübke, der "vergessene Präsident"

Doch man sagt wohl nicht zu viel, wenn man feststellt, dass in jenen Monaten sein Wirken in der NS-Zeit drängende Fragen aufwarf – angeblich hatte er am Barackenbau für Konzentrationslager mitgewirkt, die Meldung wurde von der Stasi lanciert und vom „Stern“ groß ausgebreitet – und dass seine Parteifreunde aus der Union schon lange auf Distanz gegangen waren.

Heinrich Lübke wich dem Sozialdemokraten Gustav Heinemann, die Große Koalition unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger wich im Herbst dem sozialliberalen Bündnis unter Kanzler Willy Brandt .

Der Historiker Rudolf Morsey hat Lübke in seiner umfassenden Biografie den „vergessenen Präsidenten“ genannt. Was sicher stimmt, wenn man berücksichtigt, dass bis zu eben jenem Buch aus dem Jahr 1996 kaum ein vollständiger Aufsatz, geschweige denn ein Standardwerk vorlag. Und doch lebt der Mann fort wie kaum ein anderer, der je das protokollarisch höchste Amt im Staate innehatte, wenn auch auf eine wenig schmeichelhafte Art.

„Meine Damen und Herren, liebe Neger“

Man muss kein Zeitzeuge sein, um von seinen legendären Versprechern – wahr oder einfach nur frei erfunden – und hochnotpeinlichen Auftritten gehört zu haben. Großeltern, Eltern, Lehrer, über Heinrich Lübke durfte sich jeder erhaben fühlen, man musste sich die Gags auf seine Kosten nicht einmal lange ausdenken.

Und hatten sie nicht Recht, die Großeltern, Eltern und Lehrer? Ja, ja, der Lübke, „Meine Damen und Herren, liebe Neger“, und das bei einem Staatsbesuch in Afrika. Großartig. „Equal goes it loose“ als englische Übersetzung von „Gleich geht's los“. Fantastisch. Beim Besuch in Japan den Namen der Stadt Osaka sagen wollen und dann über Okasa – ein Potenzmittel von zweifelhaftem Ruf – referiert.

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Unbezahlbar, gerade jetzt, da der Herr lange nicht mehr im Amt war. Wenig bis nichts ist einfacher, als auf Kosten dieses Mannes einen Heiterkeitserfolg zu erzielen, außer vielleicht, man redet jetzt über Wulff, und natürlich wird Lübke gerade jetzt wieder hervorgezerrt, natürlich hat der YouTube-Clip, der seine schlimmsten rhetorischen Schnitzer vorführt, derzeit Hochkonjunktur.

Keine sonderlichen Begabungen

Doch so einfach ist es nicht. Wer sich auch nur ein klein wenig mit dem Leben dieses Mannes befasst, der merkt, wie hier jemand mit seiner Vorstellung von Pflichterfüllung am Ende vielleicht scheiterte, das aber sicher nicht allein zu verantworten hatte. Heinrich Lübke kam 1894 in Enkhausen, das liegt im Sauerland, als Sohn eines Schumachers zur Welt, der sich nebenberuflich landwirtschaftlich betätigte.

Kleine Verhältnisse nennt man das, Lübke hat zeitlebens darauf rekurriert. Er war der zweitjüngste von acht Geschwistern, in der Schule half ihm der katholische Ortsgeistliche. Sein Abitur, 1913 am Gymnasium Petrinum in Brilon erworben, ließ keine sonderlichen Begabungen erkennen – „genügend“ hieß es in den meisten Fächern. Er begann ein Studium der Geodäsie, Landwirtschaft und Kulturbautechnik an der Landwirtschaftlichen Akademie in Bonn.

Der erste blinde Fleck als Kriegsfreiwilliger

Schon im August 1914 unterbrach er, um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Man kann hier von einem ersten blinden Fleck in seiner Biografie sprechen, überliefert ist nur, dass Lübke der Gefahr nie aus dem Weg ging, was seine Kameraden beeindruckte, und dass er mit einer Gasvergiftung im Lazarett lag. Sein letzter Dienstgrad war 1918 Leutnant der Reserve.

Keines dieser Worte lässt erahnen, was Lübke, der das Sterben bei Langemarck mit ansah, erlebte und wie groß die Leistung gewesen sein muss, das alles hinter sich zu lassen. In seiner Antrittsrede als Bundespräsident hatte er 1959 über diese Jahre zu berichten, er habe gelernt, „Verantwortung für Leben und Gesundheit anderer zu tragen“. Seine Treffen mit den alten Kameraden schilderte er als fröhliche Veranstaltungen.

Lübke verbrachte 20 Monate in Untersuchungshaft

Dass so jemand einer Jugend, die in den 60er-Jahren zumindest zu Teilen auf eine Bewusstseinsrevolte zusteuerte, die das persönliche Gespräch als Wert an sich entdeckt hatte, ein „väterlicher Freund“ werden könnte, das war schon zu Beginn seiner Präsidentschaft schwer vorstellbar.

Nach Kriegsende nahm Lübke sein Studium wieder auf und beendete es 1921 mit dem Examen als Vermessungs- und Kulturingenieur. Von 1921 bis 1924 studierte er Nationalökonomie in Münster und Berlin. Ab Oktober 1922 war er Geschäftsführer des Reichsverbandes landwirtschaftlicher Kleinbetriebe (ab 1925 auch Mittelbetriebe). 1926 wurde er Geschäftsführer der Deutschen Bauernschaft. Ein Fachmann für Agrarfragen, den die Nationalsozialisten aus dem Amt jagten und für 20 Monate in Untersuchungshaft steckten.

Unterschrift unter Bauzeichnungen eines Lagers

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Trotzdem arbeitete er von 1939 bis 1945 als Vermessungsingenieur und Bauleiter beim Architektur- und Ingenieurbüro Walter Schlempp, das der Verfügung des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“, Albert Speer, unterstand.

Lübkes Unterschrift findet sich unter Bauzeichnungen eines Lagers. Eben dieses nahm die Stasi zum Ende seiner Amtszeit als Präsident zum Anlass, Gerüchte über seine Rolle zu streuen und aufzubauschen, die dann in der Presse auftauchten und Lübke schließlich zur vorzeitigen Aufgabe veranlassten.

Zeichnungen nicht eindeutig einem KZ zuzuordnen

Heute weiß man, dass die entsprechenden Pausen für jede Art von Baracke geeignet gewesen wären, sie also nicht eindeutig einem KZ zuzuordnen sind. Lübke hatte nach dem Krieg über die Jahre lediglich zu sagen, er sei „im Bauwesen“ tätig gewesen.

Verlässliches findet sich seit 1953, seiner Zeit als Bundesminister für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten. Vorher hatte er das Amt in Nordrhein-Westfalen bekleidet. Sein Mitarbeiterstab beschrieb ihn als tüchtigen Experten, gründlich, gewissenhaft, korrekt, allerdings ohne jegliches rhetorisches Talent.

Lübke wollte belehren

Wo andere unterhielten, da wollte Lübke belehren, was eine Datenflut nach sich zog, die kein Zuhörer nachvollziehen konnte. Noch dazu liebte es der Chef, vom Manuskript abzuweichen, was schnell in einer rhetorischen Totalkatastrophe mündete.

Mit Kanzler Konrad Adenauer arbeitete Lübke reibungslos zusammen, ohne dass man sich mochte. So hätte es bleiben können, wenn – Obacht, es lauern Analogien zur Gegenwart –, wenn Adenauer also 1959 nicht schnell einen Kandidaten hätte präsentieren müssen.

Frau Wilhelmine wurde für sechs Fremdsprachen gelobt

Der Kanzler hatte sich selbst für das höchste Staatsamt ins Gespräch gebracht, war dann aber zurückgeschreckt, als ihm bewusst wurde, dass sein Einfluss rapide verfallen und ihn der verhasste Ludwig Erhard beerben würde.

Lübke wehrte sich, so gut er konnte, die Presse verfuhr ungnädig mit ihm, lobte allerdings seine Frau Wilhelmine dafür, dass sie sechs Fremdsprachen beherrschte, und ein Staatssekretär namens Sonnemann gab zu Protokoll, Lübke sei doch eine gute Wahl für Frauen, „weil er in einer unauffälligen Eleganz immer wie aus dem Ei gepellt“ daherkomme. Am 1. Juli 1959 wurde er im zweiten Wahlgang gewählt.

Stramm antikommunistisch und nah bei der Bundeswehr

Viel intellektuell Neues präsentierte er nicht, er war stramm antikommunistisch, als alter Reserveoffizier nah bei der Bundeswehr und mochte die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennen. Und doch kümmerte sich der Präsident um ein Gebiet, das bisher brachlag, ihm war es um die Entwicklungshilfe zu tun.

Den Kampf gegen „Hunger, Krankheit und Unwissenheit“ sah er als größte Herausforderung überhaupt an, er glaubte sogar, so den Ost-West-Konflikt beenden zu könne, grob formuliert, indem der Westen sich weltweit als deutlich bessere Alternative präsentierte. So bereiste er Afrika, war gezwungen, Englisch zu sprechen, was furchtbar schiefging, habituell wurde er den weißen Mann, der armen Schwarzen milde Gaben zukommen ließ, nie ganz los.

Rhetorische Probleme immer offensichtlicher

Wozu zu sagen ist, dass Heinrich Lübke seine Kindheit zu einer Zeit verlebte, in der Deutschland nach einem „Platz an der Sonne“ strebte, ein nettes Etikett für das Vorhaben, nun endlich als Kolonialherr aufzutreten. Vom Herrenmenschentum war bei Lübke nichts geblieben.

Seine rhetorischen Probleme wurden nun immer offensichtlicher, er redete zu viel, 950 Vorträge und Grußworte – aber was die Sache mit den „lieben Negern“ und „Equal goes it loose“ betrifft: Es ist erwiesen, dass „Spiegel“-Redakteure ihm diese Sätze bei Auslandsaufenthalten in den Mund legten und einfach abdruckten. Kein Ruhmesblatt für die Redaktion und für alle, die sie immer wieder unhinterfragt zitieren.

Lübkes Wiederwahl im Jahr 1964 war eigentlich kaum mehr vertretbar, trotzdem machten alle mit, immer unerbittlicher schritten seine schweren Durchblutungsstörungen des Gehirns, die auf Arterienverkalkung beruhten, voran. Dass er 1966 als wohl einziger Deutscher im Londoner Wembley-Stadion beim Finale der Fußball-WM den Ball beim dritten Tor der Engländer als zweifelsfrei „drin“ bezeichnete, verübelten ihm Teile der Fußball-Nation.

Passen "Ehrenmann" und billiges Geld zusammen?

Am Ende seiner Präsidentschaft war Heinrich Lübke ein schwer kranker Mann. Einmal außer Dienst, ignorierten ihn seine Parteifreunde. Er starb 1972 nach einem Krebsleiden. Offen muss die Frage bleiben, ob Lübke tatsächlich in die Lücke stieß, die ihm sein bei den Bürgerlichen beliebter Vorgänger Theodor Heuss bei den kleinen Leuten ließ.

Rudolf Morsey legt das nahe, allerdings ist seine Sympathie für Lübke unverhüllt. Vielleicht kann man es so sagen: Niemals hätte dieser „Ehrenmann und solide Präsident“ (Herbert Wehner) sich viel zu billiges Geld für eine „voll verklinkerte Wohnhölle am Stadtrand“ (Hans Zippert) geliehen.

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