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Deutschland Rücktritt als Präsident

Als Lübke den Köhler machte

Leitender Redakteur Geschichte
Bundespräsident Heinrich Lübke trat 1969 zurück. Die Presse war monatelang über ihn hergefallen. Am Ende fehlte ihm Geschick, um seinen ramponierten Ruf in der Öffentlichkeit zu retten Bundespräsident Heinrich Lübke trat 1969 zurück. Die Presse war monatelang über ihn hergefallen. Am Ende fehlte ihm Geschick, um seinen ramponierten Ruf in der Öffentlichkeit zu retten
Bundespräsident Heinrich Lübke trat 1969 zurück. Die Presse war monatelang über ihn hergefallen. Am Ende fehlte ihm Geschick, um seinen ramponierten Ruf in der Öffentlichkeit zu re...tten
Quelle: dpa
Für den Rücktritt Köhlers gibt es einen Präzedenzfall: 1969 gab Heinrich Lübke vorzeitig auf. Wegen einer ehrverletzenden Kampagne.

Bisher ist in 61 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte nur einmal ein Bundespräsident zurückgetreten. Heinrich Lübke kündigte am 14. Oktober 1968 an, sein Amt aufgeben zu wollen – zum 30. Juni 1969. Aus „staatspolitischen Gründen“, so begründete es das damals bereits 74 Jahre alte Staatsoberhaupt, solle eine „angemessene Frist“ zwischen der Wahl seines Nachfolgers und der Neuwahl zum Bundestag gelegt werden, die im September 1969 anstand. Der tatsächliche Grund war jedoch, dass die deutsche Politik Lübke in einer hochsensiblen Frage allein gelassen hatte.

Der Rücktrittsankündigung, der sich anders als jetzt vermutlich bei Köhlers Demission mit sofortiger Wirkung ein monatelanges Gezerre anschloss, war die wohl folgenreichste politische Kampgange der Nachkriegsgeschichte vorausgegangen.

Schon 1964 und erneut 1966 hatte der oberste SED-Propagandist Albert Norden von Ost-Berlin aus versucht, eine öffentliche Kampagne gegen Lübke vom Zaun zu brechen, beidesmal jedoch mit wenig Erfolg jedenfalls bei der westdeutschen und internationalen Presse. Zu durchsichtig waren die Vorwürfe, der Bundespräsident sei im Zweiten Weltkrieg ein Günstling der Gestapo gewesen und habe mitgewirkt an der Errichtung von Konzentrationslagern. Zwar nutzten sozialistisch gesinnte Studenten und das linksradikale Magazin „Konkret“ die Vorwürfe als Steinbruch, doch in der breiten westdeutschen Öffentlichkeit erzielten sie damit kaum Resonanz.

Erst als das Magazin „Der Stern“, damals die auflagenstärkste Illustrierte Europas, am 28. Januar 1968 ein „Gutachten“ des US-Schriftexperten J. Howard Haring veröffentlichte, änderte sich die Lage. Der Sachverständige hatte einige der von der Stasi verfälschten Dokumente für echt erklärt; das Bundesinnenministerium kritisierte allerdings „fachliche Mängel“ des Gutachtens und stellte fest, Harings Schlußfolgerungen widersprächen „den Gesetzen der Logik“.

„Stern“-Chefredakteur Henri Nannen ließ nun eine Reihe von Artikeln und selbst verfasste Editorials folgen, in denen er die Tonlage weiter verschärfte. Am 4. Februar 1968 schrieb er: „Wir haben einen greisen Bundespräsidenten, der in seinen Mannesjahren am Bau von KZ-Unterkünften beteiligt war.“ Zwei Wochen später attestierte das Blatt dem 73jährigen Staatsoberhaupt „Angst vor der Wahrheit“ und nannte es die „entscheidende Frage, ob die Lübke-Unterschriften auf Bauplänen für KZ-Häftlingsbaracken echt sind“.

Schließlich blies Nannen zum ganz großen Angriff: Unter der zynischen Überschrift „Eine Chance für Heinrich Lübke“ bemitleidete er den Bundespräsidenten für die „bedauernswerte Figur, die Sie in Ihrem Amt bieten. Sie sind ganz einfach kleinkariert.“ Höhnisch fuhr der „Stern“-Chef fort: „Darum treten Sie zurück, Herr Lübke. Tun Sie es sofort. Sie haben die Chance, Ihrem Land endlich einen wirklichen Dienst zu erweisen.“

Im Februar 1968 fand sich kein anderes Thema so regelmäßig auf den Politik- und Kommentarseiten deutscher Zeitungen. Die „Süddeutsche Zeitung“ zum Beispiel diagnostizierte der Bundesrepublik ein „Leiden an Lübke“, die sozial-demokratische „Neue Rhein-Zeitung“ legte ihm den Rücktritt nahe. Die konservative „Rheinischen Post“ schrieb, um den Bundespräsidenten sei eine „Atmosphäre der Unsicherheit und des Gerüchts“ entstanden, von der auf jeden Fall „etwas hängenbleiben“ werde. Ein Rücktritt bedeute allerdings eine große Gefahr, denn dieser Schritt könnte als „Eingeständnis einer Schuld“ interpretiert werden.

Der „Spiegel“ attackierte Lübke nicht ganz so scharf wie der „Stern“, doch auch Rudolf Augsteins Magazin diagnostizierte im März auf seiner Titelseite die „Präsidenten-Krise“ und zeigte bitter-böse Lübke-Karikaturen, die das Staatsoberhaupt der Lächerlichkeit preisgaben.

Selbst das Bundeskabinett beriet über die Attacken. Eine Verleumdungsklage gegen Nannen könnte zum „Schauprozess“ gegen das Staatsoberhaupt werden, warnte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger – und Lübke damit weiter schwächen. Der Bundespräsident war tief enttäuscht; er stehe nun „praktisch ohne Rückhalt im Kabinett“ da. Der Bundesvorstand der SPD immerhin versicherte dem Staatsoberhaupt, ihm beizustehen, um eine ähnliche öffentliche Demontage wie jene des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert 1924/25 zu verhindern.

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Schließlich entschied sich Lübke für eine Fernsehansprache – und tat sich damit keinen Gefallen. Denn ein großer Redner war er nie gewesen. So kam seine Argumentation in der Öffentlichkeit als teilweises Schuldeingeständnis an. Nur 18 Prozent der repräsentativ ausgesuchten Deutschen einer Allensbach-Umfrage fanden Lübkes Auftritt „überzeugend“ oder „gut“; 43 Prozent dagegen antworten, die Ansprache habe sie „nicht überzeugt“. 17 Prozent waren unentschieden, und 22 Prozent hatten von der Ansprache nichts mitbekommen. Die „Welt am Sonntag“ beschrieb Lübkes unglückliche Position treffend: „Wehrt sich der Bundespräsident, so begibt er sich der Würde seines Amtes. Schweigt er, so wird dies als Schuldbekenntnis genommen.“

Ende März 1968 versetzte ein SPD-Bundestagsabgeordneter dem Präsidenten den bislang schlimmsten Schlag: Franz Marx weigerte sich, das ihm verliehene Bundesverdienstkreuz anzunehmen. Marx hatte im Dritten Reich im KZ Dachau gelitten und gab als Begründung für das Ausschlagen des Ordens an, Lübkes „Beteiligung an KZ-Bauten“ sei nicht geklärt. Später legte Marx nach und betonte, er habe das Bundesverdienstkreuz abgelehnt, weil Lübke „an den Konstruktionsplänen für die KZ-Lager führend beteiligt“ gewesen sei. Der spektakuläre Schritt erregte den Bundespräsidenten derartig, dass er intern seinen Rücktritt androhte, was jedoch dementiert wurde, als einige Zeitungen davon Wind bekamen.

Im Frühsommer 1968 begannen immer mehr CDU-Spitzenpolitiker und von ihnen angesprochene Vertrauenspersonen des Bundespräsidenten, auf Lübke einzuwirken und ihn zum vorzeitigen Amtsverzicht zu drängen. Tatsächlich baute das Staatsoberhaupt infolge der Kampagne körperlich stark ab; ein Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen wäre begründet gewesen, hätte aber als Schuldeingeständnis gewertet werden können. Im Sommer spekulierten immer mehr gut informierte Blätter über einen vorzeitigen Amtsverzicht; der „Spiegel“ zum Beispiel tippte auf den Mai 1969, die WELT auf den März. Sowohl linksliberale als auch konservative Leitartikler begrüßten Lübkes vermutete Bereitschaft, vorzeitig zu gehen.

Sachlich war an den Vorwürfen gegen Heinrich Lübke übrigens nichts. Die tatsächlich von seiner Arbeitsgruppe angefertigten Pläne für Barackenlager hatten mit KZs nichts zu tun, wie 1992 die an der Anti-Lübke-Kampagne beteiligten Stasi-Desinformationsexperten Günter Bohnsack und Herbert Brehmer einräumten. Über Lübke fanden sich im Archiv der mit der NS-Vergangenheit befassten Abteilung des MfS Akten, die seine Tätigkeit in einer Baugruppe namens Schlempp während der Nazizeit dokumentierten. Allerdings gaben die beiden ehemaligen MfS-Offiziere zugleich zu: „Es gab auch Baupläne für Baracken; aber dass diese für Gefangene in Konzentrationslager gedacht waren, ging aus den Zeichnungen nicht hervor, auch aus jenen nicht, an denen Lübke mitgearbeitet hatte. So konnte nur unterstellt werden, dass er von der späteren Nutzung wusste.“

Beweisen ließen sich diese Behauptungen aufgrund der überlieferten Akten jedoch nicht. Das änderten die MfS-Experten umgehend: „Also ergänzten wir das vorliegende Material, so dass es zweifelsfrei ,bewies’, was wir beweisen wollten: dass Bundespräsident Lübke dereinst mitgebaut hatte an den KZ der Nazis.“ Obwohl dieses Geständnis schon mehr als 18 Jahre lang bekannt ist, hält sich bis heute in der deutschen Öffentlichkeit das Gerücht, Lübke sei ein „KZ-Baumeister“ gewesen.

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