Gängige Erklärungen verdienen stets Misstrauen. Bald nach dem 8. Mai 1945 bezeugten viele ehemalige deutsche Beamte, Hitler und ein paar Nationalsozialisten um ihn herum allein hätten mit diktatorisch durchgesetzten Befehlen erst das Volk in der Mitte Europas dominiert und anschließend ein Reich, das 1942 von der Biskaya bis in den Kaukasus, vom Nordmeer bis zur Sahara reichte. Doch das war nie überzeugend, denn es handelte sich um den Versuch von Mitwirkenden auf allen Ebenen, eigene Verstrickungen kleinzureden.
Nun vollendet der Band über die „Regierung Hitler“ in den Jahren 1944/45 (Verlag de Gruyter-Oldenbourg. 921 S., 109,95 Euro) die Großedition „Akten der Reichskanzlei“, die 1968 begonnen worden war, und fördert ein anderes Bild zutage. 33 Bände, teilweise als Doppelbände, sind seither über die Zeit 1919 bis 1943 erschienen – obwohl doch das Kabinett Hitler am 5. Februar 1938 das letzte Mal zusammentrat. Weshalb übrigens der in der im Januar 1939 eingeweihten Neuen Reichskanzlei von Albert Speer eingerichtete, 256 Quadratmeter große Kabinettssaal kein einziges Mal für seinen eigentlichen Zweck genutzt wurde. Wie also regierte Hitler wirklich, wenn es keine Ministerrunden mehr gab?
Die Gespräche im Kabinett, das trotz des 1919 eingeführten Frauenwahlrechts rein männlich blieb, bildeten in der Zeit bis Anfang 1933 stets das Machtzentrum, also die entscheidende Institution der staatlichen Exekutive. Dagegen tagte die Regierung Hitler insgesamt keine hundertmal – und damit im Schnitt nur achtmal pro Jahr. Tatsächlich versammelte der erste und einzige nationalsozialistische Reichskanzler (die gut 32 Stunden Amtszeit seines Nachfolgers Joseph Goebbels vom Nachmittag des 30. April bis zum Abend des 1. Mai 1945 kann man vernachlässigen), aber vor allem in den ersten anderthalb Jahren seine Minister um sich: 1933/34 nämlich 79-mal. 1936 gab es dann nur noch vier, 1937 immerhin sechs und 1938 eine einzige, die letzte Kabinettssitzung.
Der Kern der Edition „Akten der Reichskanzlei“ aus der Weimarer Republik, die für die Zeit bis Januar 1933 online verfügbar ist, machen die Kabinettsprotokolle aus. Sie wurden im Zuge der Editionsarbeit um weiteres Material aus den einschlägigen Beständen im Bundesarchiv ergänzt und erlauben so Einblicke in das Regierungshandeln der Kabinette bis einschließlich des Kurzzeitkanzlers Kurt von Schleicher um die Jahreswende 1932/33, eine klassische Aufgabe für Historiker.
Doch weil im Dritten Reich Kabinettssitzungen seit 1935 kaum mehr stattfanden, gibt es auch keine Protokolle, um die herum man weiteres Material gruppieren kann, sodass die Arbeitsweise der Regierung Hitler nachvollziehbar wäre. Das aber ist eine zentrale Herausforderung für Historiker, die sich mit Hitlers Herrschaftspraxis befassen.
Faule Kompromisse
Sie hatte viel mit seiner Faulheit, man kann auch sagen: seinem Desinteresse zu tun. Seit seinem Eintritt in die (Partei-)Politik prägte seine Aversion gegen konzentrierte Schreibtischarbeit alle Abläufe. In der Regel ließ Hitler, ob in der NSDAP oder ab 1933 im Staat, konkurrierende Personen, Ämter und Abteilungen, später Ministerien ihre Interessenkonflikte miteinander austragen. Selbst entschied er nur dann, wenn ein Dissens zwischen den Beteiligten zur Konfrontation statt zum (meist faulen) Kompromiss führte. Dann gab es oft einen „Führererlass“ oder eine Weisung – und wessen Position er dann unterstützte, hing mehr davon ab, wer dem Diktator die Angelegenheit vortrug; sachliche Erwägungen spielten dabei selten eine Rolle. Diese Art der Entscheidungsfindung gab jenen Personen besonders viel Macht, die unmittelbar Zugang zum Diktator hatten. Historiker beschreiben die Machtausübung im Dritten Reich deshalb mit dem Wort Polykratie.
Für die oberste Ebene des Dritten Reiches, eben die Reichsregierung, zeigt das die nun abgeschlossene Edition. Denn die Spitzenverwaltung blieb tatsächlich bis zum Beginn der sowjetischen Schlussoffensive gegen Berlin Mitte April 1945 aktiv. Die letzte dokumentierte Staatssekretärsbesprechung – diese waren an die Stelle der ordentlichen Kabinettssitzungen getreten – datiert vom 18. April 1945 und drehte sich um „Flüchtlingsfragen“ und die Ernährungslage; ferner wurde der Vorschlag einer „Reichsfestung Tirol“ von den Anwesenden „durchgesprochen“ – besser bekannt als „Alpenfestung“, die freilich nie eingerichtet wurde.
„Die Führerdiktatur bediente sich zur Durchsetzung ihrer Ziele nach wie vor traditioneller Organe und Instrumente“, schreibt Friedrich Hartmannsgruber, der langjährige Bearbeiter der Edition, in seinem Vorwort. Eine entscheidende Bedeutung kam dabei Hans-Heinrich Lammers zu, seit dem 30. Januar 1933 Chef der Reichskanzlei und sicher das am wenigsten bekannte Mitglied der NS-Führung. Denn während das politische Gewicht des Kabinetts als Gremium des Austausches und der Koordination der unterschiedlichen Interessen zunächst mangels regelmäßiger Treffen rapide sank und dann gänzlich verschwand, stieg die Bedeutung des Amtes des Reichskanzlers.
Die Kanzlei wurde zu einer Art „Clearing-Stelle“ der Regierungsarbeit, schreiben die Herausgeber der Edition, Hans-Günter Hockerts für die Bayerische Akademie der Wissenschaften und Michael Hollmann für das Bundesarchiv. Die Koordination der Regierungstätigkeit ging an Lammers’ Beamte über. Was so nicht geklärt werden konnte, wurde Thema von Staatssekretärsbesprechungen, von denen allein von Juli 1944 bis April 1945 gleich zehn stattfanden. Auch die berüchtigte Wannseekonferenz über die „Endlösung der Judenfrage“ am 20. Januar 1942, also deutlich vor dem Zeitraum des neuen Bandes, war ein solches Treffen von Staatssekretären.
Die Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Regierungsapparates und die Beharrungskräfte dagegen illustriert gut ein Fall aus dem Hoch- und Spätsommer 1944. Der Bearbeiter des letzten Bandes, Hauke Marahrens, schildert in der Einleitung, wie Goebbels seit Juli 1944 als „Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“ versuchte, an der Staatsverwaltung vorbei über die zu „Reichsverteidigungskommissare“ ernannten NSDAP-Gauleiter eine alternative Befehlskette von oben nach unten zu etablieren, abseits der üblichen bürokratisch-beamtenstaatlichen Dienstwege.
Reichskanzleichef Lammers machte gute Miene zu dieser geplanten Entmachtung seiner eigenen Institution und schlug Goebbels selbst als „Kompromisskandidaten“ für die faktische Leitung der Staatsverwaltung vor – dies allerdings im Wissen, dass der Propagandaminister ebenso wie die Gauleiter mit ihren Parteiapparaten auf die bestehende Reichsverwaltung angewiesen waren, um irgendetwas zu erreichen.
Hitlers Sekretär und faktischer NSDAP-Chef Martin Bormann verfügte am 1. August 1944, dass NSDAP-Funktionäre nicht mehr „als Zuschauer an Fußballspielen, Pferderennen etc. teilnehmen“ dürften, um den Eindruck zu vermeiden, sie hätten für derlei Vergnügungen noch „Zeit und Muße“. Der Hitler-Vertraute legte Wert auf die Feststellung: „In dieser Zeit wird nicht mehr gefeiert, sondern unermüdlich und unablässig gearbeitet.“
Goebbels ausgetrickst
Das scheiterte freilich nicht nur an der mangelnden Qualifikation nahezu aller NSDAP-Funktionäre, sondern auch an trickreichen Rückzugsgefechten von Staatsbeamten. Detailliert lässt sich in der Edition zum Beispiel nachvollziehen, wie der Reichskabinettsrat Leo Killy, laut NS-Rassenwahn selbst „Mischling 2. Grades“ und verheiratet mit einer Frau, die sogar als „Mischling 1. Grades“ galt, Goebbels’ Einfluss faktisch hintertrieb.
Am 2. September 1944 schrieb der 59-jährige Jurist an Lammers: „Der Reichsbevollmächtigte für den totalen Kriegseinsatz hat nicht das Recht anzuordnen, dass er auch bei diesen Verwaltungsanordnungen oder beim Erlass von Rechtsvorschriften beteiligt wird.“ Bürokratisch bremste Killy die Ambitionen des Propagandaministers aus: „Seine Befugnisse erschöpfen sich vielmehr mit den Richtung gebenden Weisungen allgemeiner Art.“
Über die Motive des hohen Beamten besteht allerdings Unklarheit – er war, wiewohl „jüdisch versippt“, seit dem 1.Oktober 1932 (also vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler) Mitglied der NSDAP. Im Krieg war er dann sogar für „Juden- und Mischlingssachen“ zuständig und arbeitete dabei seinem Vorgesetzten Staatssekretär Friedrich Wilhelm Kritzinger zu, der die Reichskanzlei 1942 zum Beispiel auf der Wannseekonferenz vertrat.
Killy wurde im November 1944 angeblich krankheitsbedingt beurlaubt. Er überlebte den Krieg und setzte sich erstaunlicherweise nach 1945 massiv für eine Organisation ein, die eine Wiedereinstellung nationalsozialistisch belasteter Ex-Beamter in den Staatsdienst unterstützte. So eine überraschende Wendung zu klären, ist nicht Aufgabe einer Edition; das müsste im Rahmen einer Killy-Biografie geschehen. Der letzte Band zur „Regierung Hitler“, der das Gesamtprojekt „Akten der Reichskanzlei“ abschließt, bietet aber zahlreiche Ansatzpunkte für solche weitergehende Forschungen.
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