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Der rätselhafte Kanzler

Heinrich Brüning

Der rätselhafte Kanzler
War er der „Totengräber der Weimarer Republik“ oder „Weimars letzte Chance“? An Heinrich Brüning, Reichskanzler von März 1930 bis Mai 1932, scheiden sich die Geister bis heute. Der Politiker der katholischen Zentrumspartei setzte auf sachorientiertes Krisenmanagement, doch die Zeit, die er dafür benötigt hätte, bekam er nicht.

Am 30. März 1930, im zwölften Jahr der Weimarer Republik, zog der elfte Kanzler an der Spitze des 18. Kabinetts in die Berliner Reichskanzlei ein. Nachdem die SPD-geführte Große Koalition, die weniger als zwei Jahre im Amt gewesen war, im Streit über eine Beitragserhöhung für die Arbeitslosenversicherung zerbrochen war, stellte Heinrich Brüning, der Vorsitzende der Zentrums-Fraktion im Reichstag, eine Regierung aus Ministern vor allem des Zentrums und seiner bayerischen Schwesterpartei BVP (Bayerische Volkspartei) sowie aus den beiden liberalen Parteien und einzelnen weiter rechts stehenden Politikern zusammen. Sowohl die Herausforderungen an diese Regierung als auch ihre historische Bedeutung sollten sich bald als ganz und gar außergewöhnlich erweisen.

Der neue Kanzler war alles andere als ein Charismatiker. Heinrich Brüning war vielmehr eine verschlossene Persönlichkeit, die auch ihrer engsten Umgebung immer wieder Rätsel aufgab. Erst 44 Jahre alt, war Brüning zehn Jahre jünger als Konrad Ade?nauer und ganz anders als dieser: In Münster zwar auch tiefkatholisch sozialisiert – allerdings westfälisch, nicht rheinisch –, sensibel und hochgebildet, war Brüning eine schwerblütige und pessimistische, persönlich bedürfnislose, ja asketische und wenig gesellige, insgesamt eine komplizierte Natur. Preußisch in der Grundhaltung, beruflich aber bis kurz vor seinem 30. Lebensjahr unentschlossen, meldete er sich nach Studien der Rechtswissenschaft, der Philosophie und Geschichte, der Germanistik, der Staatswissenschaften und der Nationalökonomie bei Ausbruch des Krieges als Freiwilliger. Der Krieg mochte Klarheit schaffen, und er prägte Heinrich Brüning, der in einer Maschinengewehr-Scharfschützen-Abteilung Verwendung fand.

Mit Kriegsniederlage und Revolution brach für ihn eine Welt zusammen, das erste deutsche Trauma des 20. Jahrhunderts manifestierte sich in Brüning ganz persönlich. Der vor dem Krieg so unentschlossen gewesen war, ihn drängte es nun zur Tat. So zog es ihn nach Berlin, wo er im politischen Katholizismus und in der christlichen Gewerkschaftsbewegung politisch aufstieg, seit 1924 als Mitglied des Reichstags, als ein ebenso preußisch-nationaler wie katholischer Konservativer. Wegen seiner Sachorientierung und als Fachmann hochgeschätzt, hatte er jedoch nie ein Regierungsamt innegehabt, ehe er zum Reichskanzler ernannt wurde. Ohne administrative Erfahrung, mußte er eine Regierung steuern, die bereits in schweren Wassern operierte und alsbald in unvorhersehbare Unwetter geriet, in denen ihr der Wind aus allen Richtungen eisig und schneidend ins Gesicht blies. Zum schweren Seegang bei Amtsantritt zählte die allenthalben so empfundene Krise des Parlamentarismus, des politischen Systems. Das Scheitern der Großen Koalition im März 1930, das Brüning in die Reichskanzlei führte, war vor diesem Hintergrund mehr als eine gewöhnliche Regierungskrise gewesen, sondern es stand für eine Krise des politischen Systems und seiner Handlungsfähigkeit. Weit verbreitet war die „Meinung, daß das Parlament die schweren innenpolitischen Fragen nicht lösen kann“, wie der württembergische Staatspräsident Eugen Bolz formulierte, und daß es, wie selbst der Sozialdemokrat Julius Leber kundtat, „mit der alten Form der Parteiherrschaft nicht mehr weiterging.“

Kritik an der Effizienz der parlamentarischen Demokratie und ihrer labilen Regierungen fand auch bei den republikanischen, demokratischen Parteien an der Wende von den 1920er zu den 1930er Jahren zunehmende Verbreitung. Parlamentarisches Regieren war in Deutschland nicht eingeübt: daß es nämlich nicht mehr wie im Konstitutionalismus des Kaiserreichs so war, daß die Front der politischen Auseinandersetzung zwischen Parlament und Regierung verlief, sondern vielmehr innerhalb des Parlaments, zwischen der Regierungsmehrheit unter Einschluß der Regierung auf der einen und der oppositionellen Minderheit auf der anderen Seite. Parlamentarisches Regieren hatte die Republik in ihrer krisengeschüttelten Geschichte aber auch nicht einüben können. So stand das nicht fest etablierte politische System gleich zur Gänze, stand die gesamte Staatsform zur Disposition, als sich die Probleme mehrten. Die Republiktreuen rieben sich ohne sonderlichen Enthusiasmus für die Republik in der Regierungsverantwortung auf.

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Die alten preußisch-konservativen Eliten, wie sie vor allem in der Umgebung des Reichspräsidenten Hindenburg Einfluß ausübten, strebten demgegenüber eine antidemokratische Rechtsregierung, jedenfalls eine antiparlamentarische Regierung unter Ausschluß der SPD an, und andere Feinde der Republik verfolgten noch viel radikalere Ziele einer Diktatur: die Kommunisten auf der einen, die Nationalsozialisten auf der anderen Seite, unter Einschluß eines hohen Maßes an Gewaltausübung im politischen Alltag. Zu Beginn der 1930er Jahre herrschte in Deutschland im Grunde Bürgerkrieg.

Prof. Dr. Andreas Rödder

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♦ Elek|tro|phy|sio|lo|gie  〈f. 19; unz.〉 Zweig der Physiologie, der sich mit den elektr. Erscheinungen der Organismen befasst

♦ Die Buchstabenfolge elek|tr… kann in Fremdwörtern auch elekt|r… getrennt werden.

In|flu|en|za  〈f. 10; unz.; Med.〉 = echte Grippe (1) [<ital. influenza … mehr

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