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Wie Manns Schwiegermutter Hitlers Druck standhielt

Adolf Hitler in München, anlässlich der feierlichen Grundsteinlegung des „Hauses der deutschen Kunst“ im Oktober 1935 Adolf Hitler in München, anlässlich der feierlichen Grundsteinlegung des „Hauses der deutschen Kunst“ im Oktober 1935
Adolf Hitler in München, anlässlich der feierlichen Grundsteinlegung des „Hauses der deutschen Kunst“ im Oktober 1935
Quelle: picture alliance / IBL Schweden
Hedwig Pringsheim war die Schwiegermutter Thomas Manns. Bis 1939 blieb sie in Deutschland. Ihre Briefe, die jetzt herauskommen, sind ein bewegendes Zeugnis aus dem Alltag des Dritten Reichs.

Format hatte sie ohne Frage, die alte Dame, die dem Holocaust nur knapp entrann. Das Mitleid, das ihr Schicksal während der Nazizeit weckt, liegt dennoch im Widerstreit mit anderen Gefühlen. Hedwig Pringsheim ist eine Verfolgte des Naziregimes, aber in das geläufige Schema passt sie nicht. Sie war ein Opfer, aber sie hatte stets Dienstboten. Sie war Jüdin, aber das Wort will auf sie nicht passen.

"Kein Gedanke an Judentum kommt auf, diesen Leuten gegenüber", schrieb Thomas Mann 1904 an seinen Bruder Heinrich, "man spürt nichts als Kultur". Hedwig Pringsheim war schwerreich und lachlustig, selbstgefällig und eigensinnig, querköpfig und unbelehrbar, bizarr und originell, verwöhnt und verblendet. Nicht typisch für irgendeine Klasse, aber in ihrer Einmaligkeit bemerkenswert.

Hochwillkommen ist deshalb die ausgezeichnete Edition ihrer Briefe an Katja Mann aus den Jahren 1933 bis 1941, die Dirk Heißerer jetzt im Wallstein-Verlag vorlegt, gefördert von mehreren namhaften Stiftungen, ohne die das Vorhaben nicht machbar gewesen wäre. Es sind 375 lange Briefe einer im Reich gebliebenen Jüdin an ihre emigrierte Tochter.

Geistertanz einer Greisin

Geisterhafter Tanz einer Greisin auf dünnen Brettern, unter denen die Hölle brodelt. Sie schreibt gut, aber sie ist auch eine Meisterin im Wegsehen, Verharmlosen und Ausweichen. Sie füllt Seite um Seite mit spitz pointierten Nebensächlichkeiten, um den Haupt- und Tatsachen zu entkommen. Das wiederum gibt auch den Nebensachen ein paradoxes Gewicht. Auch wenn sie nur tratscht, hört man die Geräusche des nationalsozialistischen München mit.

Es war deshalb eine richtige Entscheidung, den gesamten Briefbestand ungekürzt zu bringen, auch wenn dadurch eine riesige Unternehmung entstand – über sechshundert Seiten Briefe, mehr als tausend Seiten Erläuterungen, Materialien und Register. Im Kommentar findet man all das Ausgesparte, die Realitäten hinter den Anspielungen, die Dokumente der Nazibehörden, die Schicksale der Verschwundenen, die Inventarlisten der Kunstschätze.

Man erfährt, worum es eigentlich ging. Mit den Bässen dieses Kommentars gelesen, bekommt das Gezwitscher der Brieftexte eine konzertante Fülle, die nach kurzer Eingewöhnungszeit das Ohr gewinnt. Hedwig Pringsheim ist ein Phänomen. Es lohnt sich, dieses Luxuswesen zu studieren. Man spürt deutschlandwichtige Seelenschichten auf, die man so nicht kannte. Ihre Briefe an Katia sind die mit Abstand bedeutungsvollsten Dokumente, die aus ihrem Leben erhalten sind. Katjas Gegenbriefe gibt es leider nicht mehr.

Autorin von Rang

Der Ruhm kam erst spät und auf Umwegen zu Hedwig Pringsheim. Jahrzehntelang war sie vergessen. Vom Ruhm Thomas Manns zweigte dann zuerst ein schmales Sträßchen zu Katia ab, dann von diesem ein immer mehr sich verbreiternder Fahrweg zu ihrer Mutter. Was sich da herausbildete, ist kein nur abgeleiteter Tertiärruhm. Thomas Manns Schwiegermutter ist eine Briefschreiberin von Rang. Sie hat Persönlichkeit, Stil und eigene Kraft. Ihre Biografie schrieben Inge und Walter Jens – ein lesenswertes, zum Einstieg in die Pringsheim-Welt gut geeignetes Buch. Ihre Briefe an Maximilian Harden erschienen vor einigen Jahren. Tagebücher werden folgen.

Ihre Herkunft war exzeptionell. Hedwig kam aus einem Berliner Schriftstellerhaushalt. Sie war wenig begütert, aber höchst gebildet, auf der Höhe der Zeit und an Witz und Aufsässigkeit gewöhnt. Der Vater Ernst Dohm war Redakteur beim populären Satireblatt "Kladderadatsch", die Mutter Hedwig Dohm eine literarische Vorkämpferin für Frauenrechte.

Man kannte im Hause Dohm ganz Berlin, vom Kaiserhaus bis zur Sozialdemokratie. Tochter Hedwig war Schauspielerin, als sie den steinreichen Münchener Mathematiker Alfred Pringsheim kennenlernte und 1878 heiratete. Den Reichtum verdankte ihr Mann nicht der Mathematik, sondern seinem Vater, einem der Eisenbahnkönige des 19. Jahrhunderts, einem Mann jüdischer Herkunft, der sich von unten nach ganz oben durchgeboxt hatte.

Schleichende Enteignung

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Geld war also vorhanden. Weder Alfred noch Hedwig Pringsheim mussten je für Geld arbeiten. Wer da nicht moralisch verkommen will, muss Kultur haben – womit nicht Bildungswissen gemeint ist, sondern ein Selbstbewusstsein und eine Haltung. Bücher, Musik, Theater, Geselligkeit, Briefeschreiben: das hält aufrecht. Ohne Kultur hätten die alten Pringsheims ihren sozialen Abstieg nicht ertragen können. Dieser begann sanft und beschleunigte sich immer mehr. Ganz oben hatten sie begonnen, als es noch einen König von Bayern gab, die junge Hedwig als schönste Frau Münchens galt und Lenbach sie porträtierte.

Sie war eine erstrangige Expertin für gebildete Konversation, ihr Mann ein kultivierter Universitätsprofessor, in dessen gastfreier Neorenaissancevilla in der Arcisstraße die Münchener Hautevolée Musik hörte, Champagner trank und geistreiche Gespräche führte. Der Erste Weltkrieg dämpfte die Geselligkeit, die Inflation fraß einen Teil des Vermögens. Aber erst unter Hitler kamen die wuchtigeren Schicksalsschläge und die Demütigungen.

1933 mussten Pringsheims ihre Villa räumen, ausgerechnet in der Arcisstraße wollte Hitler seine Führerbauten errichten, alles, was im Weg stand, wurde abgerissen. Immerhin reichte das Geld noch für eine achtzimmrige Mietwohnung am Maximiliansplatz, freilich mussten sie sich sehr einschränken und vieles abstoßen, denn bisher hatten sie drei Stockwerke und 800 m2 Wohnfläche gehabt. 1935 wurde dem 85-jährigen Alfred Pringsheim im Zuge der Rassengesetze die Pension gekürzt, was ihm nicht sehr viel ausmachte, weil noch viel anderer Besitz da war. Die Uralten (wie sie sich nannten, nach Huij und Tuij im Joseph-Roman ihres Schwiegersohns) begannen, Kunstschätze zu verkaufen.

Hilfe von Winifred Wagner

1937 mussten sie erneut umziehen, es reichte jetzt noch zu einer Fünfzimmerwohnung im dritten Stock in der Widenmayerstraße. 1938 mußten sie die Reisepässe abgeben. Wieder wurden Vermögenswerte beschlagnahmt. Mit viel Glück gelang im Oktober 1939 die Ausreise nach Zürich. Dort waren es noch drei Zimmer in einem vornehmen Seniorenschloss. Das alte Ehepaar wurde nicht mehr heimisch. Alfred Pringsheim verstarb 1941, mit fast 91, Hedwig folgte 1942, mit 87 Jahren.

In ihrem allerletzten Brief an Katia Mann schreibt sie, alles sei ja so vorteilhaft, "ich kann es gar nicht vorteilhafter finden". Da leuchtet noch ein letzter Rest der Haltung auf, mit der sie ihr Leben bestand: mit einem unbeugsamen Optimismus, den man auch als virtuose Verdrängungsartistik bezeichnen könnte. Was ich nicht sehen will, ist auch nicht da. Ihre Gabe zur Schönfärberei ist eindrucksvoll. Sie entwickelt Euphemismen von schauriger Komik. Die Enteignung ihrer Kunstsammlungen kommentiert sie: "Man hat uns freundlichst erleichtert: Besitz ist Last", nun könne es niemand mehr stibitzen, "wir zeigten uns von diesen Sicherungsmaßregeln hochbefriedigt".

Bis zuletzt vertrauten sie auf Beziehungen, durch die sie Sondererlaubnisse zu erzielen hofften. Man war doch wer! Man hatte Richard Wagner gekannt! Anfangs half sogar Winifred Wagner, die gut mit dem "Führer" stand. Aber auch später gelang es immer wieder, mit Hilfe ranghoher Bekannter erträglichere Bedingungen auszuhandeln. Das Verbot, arische Dienstboten anzustellen, wurde durch eine Sonderbewilligung ausgehebelt. Das erleichterte das Einkaufen: "Denn obgleich an allen Läden steht, dass Juden der Zutritt verboten ist, haben unsere sehr arischen Mädchen überall Zutritt."

Ein liebenswürdiger SS-Mann

Anders als die große Mehrzahl der von Hitler Verfolgten hätte Hedwig Pringsheim mit ihrem Mann relativ leicht rechtzeitig emigrieren können. Aber sie lehnte das ab. "Lieber in Deutschland ehrlich sterben als in Kalifornien jämmerlich verderben", reimte sie noch 1938, ein bayerisches Bonmot parodierend. Am Ende musste sie doch hinaus, und wieder halfen gute Beziehungen.

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Aus Zürich schreibt sie rückblickend an Katja, wie es sich zugetragen hatte: "Da war ein S.S.-Mann, Obersturmführer, sogar wie man hörte, mit dem Allerhöchsten liiert. Dieser S.S.-Mann hatte den Auftrag, unser der Partei verkauftes Haus möglichst rasch zu evakuiren. So kam er auch mit Fay in Verbindung, der ihm klagte, wir wollten emigriren, könnten aber trotz allen Versuchen unsere Pässe nicht erlangen. Nun war dieser Mann, trotz Ober-Nazi ein liebenswürdiger, sehr gutartiger, verständnisvoller, und dazu noch ein hübscher jüngerer Herr, der sofort bereitwillig sagte: das will ich schon machen!

Er flog sofort nach Berlin, ging aufs Ministerium, und 2 Tage darauf hatten wir unsere Pässe! Sodass wir nun in fliegender Eile unsere Sachen in Ordnung brachten und am 31ten October in Zürich eintreffen konnten. Einen Tag später war der letzte Einreise-Termin abgelaufen und die Schweiz uns verschlossen! Gott segne den Obersturmführer! (Sie sind nämlich keineswegs alle Schweine, wie es ein irriger Glaube wähnt)."

Mit Witz gegen die Feldherrenhalle

Wo immer es etwas Schönes über Nazi-München zu berichten gibt, berichtet sie es. Aber man ist nie sicher, wie es gemeint ist. In einem Geist, der Nichtkundige täuschen sollte, aber für Kundige von Ironie trieft, schildert sie die Festivitäten am 9. November 1934: "Heute haben wir einen sehr erhebenden Trauer-Feiertag für unsere am 9. Nov. 23 gefallenen Märtyrer, die einst auch uns aus Schmach und Not befreit.

Die ganze Stadt halbmast geflaggt, auf der Straße nichts als Prachtgestalten von S.S., vor der Feldherrenhalle große Ovationen, und bei uns ziehen den ganzen Tag, da die Arcisstraße wegen Nichtmehrexistenz ja ausgeschaltet ist, Schaaren von S.A., S.S., H.J. mit Trommeln und Musik vorbei." Solidarität mit den Verfolgten ist hingegen kaum zu erkennen. Eher macht sie sich lustig über jüdische Ausdrücke, Gewohnheiten, Gesichtszüge. Späße, die heute im Halse stecken bleiben, gingen den Pringsheims flott von der Lippe. Ihr Hausarzt war für sein ein "jüdischer Charlatan".

Freilich ist vieles der Briefzensur geschuldet. Ironische Übernahmen von Nazi-Terminologie gehörten zur Verstellungstechnik. Zwischen-den-Zeilen-Geschriebenes ist seiner Natur nach mehrdeutig. Nicht alles Vernebelte ist politisch zu lesen. Der Ausgangspunkt der verdeckten Schreibweise ist die Familiensprache, mit der man sich schon immer von allem gewöhnlichen Volk distanziert hatte.

Deportation hieß "schwer verreist"

Da stand längst eine Verschlüsselungstechnik zur Verfügung, die Personal, Schauplätze und Sachverhalte codierte. Ihre Briefe stecken voller Spitznamen, Kürzel, Zitate, Anspielungen, die der Auflösung bedürfen. Ganz unentbehrlich ist deswegen der Kommentar, der mit unendlicher Mühe das riesige Personal aufschlüsselt, die Zeitungsausschnitte identifiziert, die Zitate (oft von Richard Wagner) nachweist und noch die dunkelsten Hintergründe aufhellt. Die Verfolgung der Juden ist nur selten ein Thema. Hedwig Pringsheim entwickelt dafür eigene Chiffren – wenn jemand "schwer verreist" war, dann war er interniert im KZ Dachau.

Katias Gegenbriefe lassen sich nur sehr fragmentarisch rekonstruieren. Die inneren Entwicklungen von Mutter und Tochter sind gegenläufig. Einer fallenden Linie bei den alten Pringsheims steht eine steigende bei Manns gegenüber. Das zunächst unerwartete, zunächst katastrophale Exil mit all seinen Verlusten erwies sich auf die Dauer nicht nur als das moralisch Richtige, sondern auch als erneuter sozialer Aufstieg. Thomas Mann wurde eine Art König des Exils, verkehrte in Washingtoner Regierungskreisen und errang Weltformat. Sein Wort war frei, während die Schwiegereltern im Reich allmählich erstickten.

Hedwig Pringsheim hatte Thomas Mann früh davor gewarnt, sich im Kampf gegen die Nazis allzusehr zu exponieren. In einem Brief von 1932, der prologartig den ersten Band der Edition eröffnet, schreibt sie an ihren Schwiegersohn, der Nazigräuel anprangern wollte: "Ich würde ja den Anti-Naziartikel zurückstellen; nicht aus Feigheit, sondern weil es meiner Meinung nach nicht dafür steht, sich Bomben und Handgranaten auszusetzen, wo man selbst mit deinem Namen und deiner Feder an den momentanen Zuständen nicht das geringste ändern wird."

Schwiegertommis Wut

Hätte Thomas Mann sich an solche Ratschläge gehalten, dann hätte er im Reich bleiben können. Anfangs wäre ihm nichts passiert, aber allmählich hätte man seine Familie und sein Leben zerstört und ihn materiell, seelisch und stilistisch ruiniert. Hedwig Pringsheim wollte das lange nicht einsehen. Auf die politischen Aktivitäten von Erika und Klaus Mann reagierte sie mit einem ständigen "Vorsicht!" und "Pst!" und "Hat doch sowieso keinen Zweck".

Anfangs kam sie noch jeden Sommer vierzehn Tage zu Besuch nach Küsnacht, wo Familie Mann von Ende 1933 bis 1938 lebte. Die alte Dame ging ihrem Schwiegertommi meistens schwer auf die Nerven. Er notiert am 4. Juli 1934 in sein Tagebuch: "Meine Gereiztheit und nervöse Belastung durch die Alten, namentlich den albernen und dürren Widerspruchsgeist von Katjas Mutter, eine Objektivität, die geistige Überlegenheit vorstellen soll, aber nichts als Unwissenheit und dünkelhafter Selbstschutz ist, ist sehr groß." Das ist ein strenges, aber im wesentlichen zutreffendes Urteil.

In Hedwig Pringsheim geht eine Kostbarkeit aus einer vergangenen Epoche unter. So wie sie war, musste man wohl sein, wenn man herkam, wo sie herkam, aus einer Welt, die es nicht mehr gab, die unter bestimmten Bedingungen einmal märchenhaften Glanz ausgestrahlt hatte, aber ohne diese Bedingungen auch eine so fähige Spielerin wie Hedwig Pringsheim zu einer tragischen Lächerlichkeit verdammte, die sich vergeblich stemmte gegen den reißenden Strom einer brutalen Zeit. Ihre Bühne kippte wie die Titanic, sie rutschte mit. Aber noch, während man sie taumeln und versinken sieht, darf man hingerissen sein vom Charme der alten Dame.

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