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Harry Graf Kessler Europäer der Zukunft

Wo immer man die Tagebücher von Harry Graf Kessler aufschlägt, gerät man in einen Wirbel von Gesellschaft, von Namen, die man aus der Zeitgeschichte kennt, in ein Netz von Künstlern, von Dichtern, Malern, Bildhauern, Tänzern – und man gerät in einen Diskurs, in dem man erstaunt feststellt, wie Kessler alle diese Welten verbindet.

Von: Ulrike Voswinckel

Stand: 01.12.2012 | Archiv

Harry Graf Kessler | Bild: Rudolf Dührkoop (1848-1918)

"Berlin. 23. Februar. 1926. - Gefrühstückt bei der Gräfin Sierstorpff im Adlon mit Schuberts, Schacht, der Fürstin Henckel (Guidottos Mutter), Kraft Henckel, Ferdinand Stumm, Carnaps, Richard Kühlmann. Die alte Fürstin Henckel, die neben mir sass, klagte bitter über die Zustände in Polnisch Oberschlesien. Sie giengen dort Alle dem Ruin entgegen. (...) Nachher zum Ball bei Weismanns in der Wilhelmstrasse. Grosse Menschenmenge, etwas gemischt u. der Anblick nicht erfreulich. Alles klagt über die unerhörten Anforderungen, die die fieberhafte Gesellschaften-Fülle stellt. Frühstücke, Diners, mehrere Empfänge oder Bälle Tag für Tag u. Nacht für Nacht. Man kann nicht mehr durchhalten. Als Gegenbild die wirtschaftliche Depression. Die reichsten Leute wie Stumms, Henckels, Pless, Goldschmidt-Rothschilds halb pleite. Ein paar Worte mit Kanitz über Annette Kolb. - Elsa Brandström Blumen geschickt. (...) - Berlin. 28. Februar 1926. - Nach Mitternacht zu Vollmoeller am Pariser Platz, um die Baker zu sehen. Er hatte wieder eine sonderbare Gesellschaft beisammen, wo Niemand wusste, wer der Andere war (...)"

(H. G. Kessler)

Zwanzigtausend Seiten - ein ganzes Leben Tag für Tag

Kessler reist manchmal zweimal in der Woche zwischen Berlin, Paris, London und Weimar hin und her. Er ist Mäzen und Schriftsteller, er ist Diplomat und zeitweilig Museumsdirektor, er ist am Anfang Offizier und nachher der Rote Graf, ein Pazifist – und wie er all dieses erlebt und reflektiert hat, kann man nun in seinen Tagebüchern nachlesen, die 70 Jahre nach seinem Tod endlich vollständig veröffentlicht werden. Ungefähr 20 000 Seiten, ein ganzes Leben Tag für Tag, und was für ein Leben!

Harry Graf Kessler - Das Tagebuch (1880-1937)

Band 2

(Band 1, in dem es um Kesslers Kindheit geht, ist bisher noch nicht erschienen.)

Band 2 - Die Jahre 1892 – 1897

"Wir alle, begierig wartend seit Jahren auf diese Edition, haben Grund zum Feiern."
(Fritz J. Raddatz, "Die Zeit", 22.4.2004)

  • Autor: Harry Graf Kessler
  • Herausgeber: Günter Riederer, Jörg Schuster, Roland S. Kamzelak, Ulrich Ott
  • Gebundene Ausgabe: 776 Seiten
  • Verlag: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH (14. April 2004)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 376819812X
  • ISBN-13: 978-3768198127

Band 3

Band 3 - Die Jahre 1897 - 1905

Auch in diesen Jahren ist Kessler oft auf Reisen: Er studiert die Bestände der großen Museen, den Louvre, die National Gallery und die Tate Gallery, den Prado in Madrid. Zahlreich sind die Eintragungen, die dem künstlerischen Leben seiner Epoche gelten, den Sezessions- und Sonderaustellungen, den Begegnungen in den Salons, Kunsthandlungen und Ateliers. Auch hier erweist sich Kessler als glänzender Beobachter und Chronist des gesellschaftlichen Lebens. - Berlin und Weimar, wo der Graf die Leitung des Großherzoglichen Museums für Kunst und Gewerbe übernimmt, sind die Hauptschauplätze in Deutschland.

  • Autor: Harry Graf Kessler
  • Herausgeber: Carina Schäfer, Gabriele Biedermann, Roland S. Kamzelak, Ulrich Ott
  • Gebundene Ausgabe: 1199 Seiten
  • Verlag: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH (22. September 2004)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3768198138
  • ISBN-13: 978-3768198134

Band 4

Band 4 - Die Jahre 1906 – 1914

Harry Graf Kessler tritt als Leiter des Großherzoglichen Museums für Kunst in Weimar zurück. Er schildert Eindrücke und Personen auf seinen Reisen zwischen Paris, London, Berlin und Weimar und detailliert eine Griechenlandreise mit Hofmannsthal und Aristide Maillol. Die Pläne für ein gigantisches Nietzsche-Denkmal in Weimar werden erörtert. Politik und Kulturleben spielen auch in diesen Aufzeichnungen die herausragende Rolle. Und schon ein flüchtiger Überblick über Kesslers Begegnungen, die er in diesem Band schildert, weckt die äußerste Neugier. - Der Leser begegnet Sarah Bernhardt, Pierre Bonnard, Edward Gordon Craig, Gabriele d'Annunzio, Eleonore Duse, Maximilian Harden, Walther Rathenau, Max Reinhardt, Rainer Maria Rilke, Auguste Rodin, George Bernard Shaw, Richard Strauss, Carl Sternheim, Igor Strawinsky und anderen.

  • Autor: Harry Graf Kessler
  • Herausgeber: Jörg Schuster, Roland S. Kamzelak, Ulrich Ott
  • Gebundene Ausgabe: 1270 Seiten
  • Verlag: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH (Oktober 2005)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3768198146
  • ISBN-13: 978-3768198141

Band 5

Band 5 - Die Jahre 1914 – 1916

1915 erscheinen in Kesslers Tagebuch unheimliche Bilder von menschenleeren Landschaften, immer wieder klingt die Vorstellung vom riesigen russischen "Märchenreich" an, in das die deutschen und österreichischen Truppen einmarschieren. Im Oktober und November 1915 folgen detaillierte Aufzeichnungen über den Verlauf der Schlacht um Czartorysk. - Im April 1916 wird Kessler an die Westfront versetzt, um dort bei Verdun an der wohl bekanntesten Schlacht des 1. Weltkriegs teilzunehmen. Eindringlich schildert das Tagebuch die sinnlosen Kämpfe, die hohe Verluste an Mensch und Material forderten. Im Mai 1916 fährt Kessler dienstlich nach Berlin und kehrt nie wieder an die Front zurück.

  • Autor: Harry Graf Kessler
  • Gebundene Ausgabe: 820 Seiten
  • Verlag: Klett-Cotta; Auflage: 1
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3768198154
  • ISBN-13: 978-3768198158

Band 6

Band 6 - Die Jahre 1916 – 1918

Kessler arbeitet seit Ende 1916 an der Gesandtschaft in Bern als Leiter der deutschen Kulturpropaganda in der Schweiz. Er organisiert Theater- und Operngastspiele, notiert die Schwierigkeiten von Kunstausstellungen im Krieg und die Aktionen der Kinopropaganda. - Weiterhin: Berichte über Intrigen, Spionage und Geheimverhandlungen in der Schweiz. Unterredungen mit Hindenburg und Ludendorff im deutschen Hauptquartier. Teilnahme an der Aushandlung der deutsch-russischen Verträge im Sommer 1918. Freilassung des polnischen Generals Pilsudski aus der Festungshaft in Magdeburg. Novemberrevolution 1918 in Berlin. Kessler als erster deutscher Gesandter in Polen. - Begegnungen mit Johannes R. Becher, Matthias Erzberger, George Grosz, John Heartfield, Annette Kolb, Else Lasker-Schüler, Rene Schickele, Gustav Stresemann, Fritz und Curt von Unruh und Theodor Wolff.

  • Autor: Harry Graf Kessler
  • Herausgeber: Günter Riederer, Roland S. Kamzelak, Ulrich Ott
  • Gebundene Ausgabe: 962 Seiten
  • Verlag: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH (Juli 2006)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3768198162
  • ISBN-13: 978-3768198165

Band 7

Band 7 - Die Jahre 1919 – 1923

Kessler schildert in diesem Band u.a.: den Spartakus-Aufstand in Berlin und den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die Weimarer Nationalversammlung und den Beginn der Weimarer Republik. Die Unterzeichnung des Versailler Vertrags und die Szene der politischen Clubs in Berlin. Die Redaktionstreffen der "Deutschen Nation". Dann die beginnenden pazifistischen Aktivitäten: die Deutsche Friedensgesellschaft, der Bund Neues Vaterland und die Schrift "Richtlinien für einen wahren Völkerbund" (1920).

  • Autor: Harry Graf Kessler
  • Herausgeber: Angela Reinthal, Roland S. Kamzelak, Ulrich Ott
  • Gebundene Ausgabe: 1095 Seiten
  • Verlag: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH (August 2007)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3768198170
  • ISBN-13: 978-3768198172

Band 8

Band 8 - Die Jahre 1923 – 1926

Kesslers Notizen gelten in diesem Band seiner Reise nach Williamstown und der Teilnahme am "Institute of Politics" im August 1923. Weiterhin der Rückreise über Lissabon, Madeira und Teneriffa. - Der Vorschlag Stresemanns, deutscher Botschafter in London zu werden, scheitert an Vorbehalten aus dem Auswärtigen Amt. Danach (1924) erneute Vortragsreise in die USA. Dabei kommt es auch zu einem Zusammentreffen mit dem amerikanischen Präsidenten Coolidge. Als inoffizieller Beobachter ist Kessler bei der 5. Völkerbundtagung in Genf im Herbst 1924.

  • Autor: Harry Graf Kessler
  • Herausgeber: Roland S. Kamzelak, Ulrich Ott
  • Gebundene Ausgabe: 1097 Seiten
  • Verlag: Klett-Cotta; Auflage: 1., Aufl.
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3768198189
  • ISBN-13: 978-3768198189

Band 9

Band 9 - Die Jahre 1926 – 1937

In diesem Band kommentiert Kessler die politischen Entwicklungen der Zeit vom Ende der Weimarer Republik bis zum Beginn des Nationalsozialismus. Im Februar 1933 nahm er am Kongress "Das Freie Wort" in der Berliner Krolloper teil, der letzten großen Protestaktion für Meinungs-, Rede-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit. Während eines anschließenden Paris-Aufenthalts wurde ihm mitgeteilt, dass er sich mit einer Rückkehr nach Deutschland in Gefahr bringen würde. Kesslers Wunsch, zu einem späteren Zeitpunkt nach Deutschland zurückzukehren, ließ sich nie verwirklichen. Der Aufenthalt in Paris mündete ins Exil. Von November 1933 bis Mai 1935 lebte er in Palma de Mallorca und arbeitete dort an seinen Memoiren. Am 30. November 1937 starb Kessler in Lyon.

  • Autor: Harry Graf Kessler
  • Gebundene Ausgabe: 948 Seiten
  • Verlag: Klett-Cotta; Auflage: 1. (14. April 2010)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3768198197
  • ISBN-13: 978-3768198196

Eine "Grundurkunde deutscher Zeitgeschichte"

Malerfürst Franz von Stuck

Ob er mit Franz von Stuck über die Gründung des Deutschen Künstlerbundes verhandelt und nach der Eröffnung der Ausstellung in München mit dem Prinzregenten diniert oder bei Aristide Maillol in der Nähe von Paris eine Plastik bestellt - alles ist Tag für Tag notiert und bildet insgesamt eine "Grundurkunde deutscher Zeitgeschichte" (Gerhard Schuster), die Kesslers Ruhm als meistzitierter Augenzeuge der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Auch 75 Jahre nach seinem Tod 1937 in Frankreich kann man anhand der Tagebücher feststellen, dass seine Pläne für Europa keineswegs veraltet sind; als Stichworte seien nur der Völkerbund erwähnt und die Rolle der ästhetischen Erziehung, die er nicht allein den Bildungsbürgern zukommen lassen wollte.

Ulrike Voswinckel hat mit dem ausgewiesenen Kessler-Spezialisten Gerhard Schuster gesprochen, der sich intensiv mit Kesslers Tagebüchern auseinandergesetzt hat.


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