Harald Welzer zum Ukraine-Krieg: „Mir ist dieses Hau-druff-Denken unverständlich“

Harald Welzer zum Ukraine-Krieg: „Mir ist dieses Hau-druff-Denken unverständlich“

Harald Welzer im Interview über das medienkritische Buch „Die vierte Gewalt“, das er mit Richard David Precht geschrieben hat. Und über den offenen Brief.

Harald Welzer
Harald WelzerDebora Mittelstaedt

Binnen drei Monaten haben der Soziologe Harald Welzer und der Philosoph und Publizist Richard David Precht ihr erstes gemeinsames Buch geschrieben: „Die vierte Gewalt“. Sie setzen sich darin kritisch mit dem Journalismus auseinander. Eine ihrer wichtigsten Thesen lautet, dass diese sich immer stärker aneinander angleichen und die öffentliche und veröffentlichte Meinung zunehmend auseinanderfallen. Wir sprachen per Videocall mit Harald Welzer. 

Herr Welzer, Sie erwähnen in Ihrem Buch gleich eingangs eine Allensbach-Studie aus dem Jahr 2021, nach der 44 Prozent der Befragten sagen, dass man in Deutschland seine Meinung nicht frei äußern könne. Gehören Sie zu diesen 44 Prozent?

Nein! Natürlich haben wir in diesem Land Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit. Das schließt aber nicht aus, dass durch Mechanismen, die Richard David Precht und ich beschreiben, eine Vereinheitlichung von Auffassungen und Haltungen entsteht.

Sie zitieren diese Studie auch, um auf den Vertrauensverlust in die Medien hinzuweisen, oder?

Ja, und das ist nicht der einzige Befund. Auch Meinungsumfragen oder indirekte Indikatoren wie der Organisationsgrad in Parteien oder Vereinen weisen auf Erosionsprozesse hin. Man muss jedoch vorsichtig sein, diese zu bewerten. Wenn Leute sich von Parteien abkehren, ist das möglicherweise kein Zeichen von Politikverdrossenheit, sondern von Politikinteresse. Manche fühlen sich nur in Parteien nicht mehr aufgehoben oder angesprochen. Aber generell kann man diesen Erosionstrend bestätigen, und gerade die Leitmedien hätten die Aufgabe, dem entgegenzusteuern. Denn eine funktionierende Öffentlichkeit ist extrem wichtig für die Demokratie.

Sie konstatieren eine Vereinheitlichung, aber auch eine Polarisierung. Die gibt es ja nicht nur im Journalismus, sondern sie ist ein gesellschaftliches Phänomen.

Es ist ja auch so verlockend, sich auf die Seite der Eindeutigkeit zu schlagen und alle anderen als Idioten zu bezeichnen. Ich habe das ja auch schon in bestimmten Debatten getan. Das ist ein Sog. Wenn etwas erstmal polarisiert ist, kann man es als einzelner schwer aushalten, nicht auf einer Seite zu stehen. Und wenn man dazwischensteht, ist man im Kreuzfeuer, und das ist auch gar nicht so einfach. Das sind kulturelle Veränderungen, die man sehr aufmerksam beobachten muss. Sich auf eine Seite zu schlagen, ist die einfache Variante. Dann ist man ja auch safe.

Man möchte Teil des Rudels sein, das ist ja genetisch in uns drin. Aber was den Vertrauensverlust angeht: Was sind denn Ihrer Ansicht nach die Hauptgründe dafür?

Der Vertrauensverlust in die Medien korrespondiert mit einem Vertrauensverlust in das demokratische System insgesamt. Auf die Medien bezogen hat es viel mit der Konkurrenz der Direktmedien wie Twitter zu tun. Viele können nicht sauber zwischen den Informationen aus diesen beiden Systemen unterscheiden. Dazu kommt, dass die Qualitätsmedien Stilelemente aus den Direktmedien übernommen haben. Und dann wird es kritisch, weil eines dieser Elemente die Personalisierung ist. Also dass man Menschen nicht für das, was sie sagen, diskutiert oder kritisiert, sondern für das, was sie sind oder zu sein scheinen.

Was genau heißt das?

Das heißt, wenn ich mich öffentlich äußere, muss ich immer damit rechnen, dass gesagt wird: Welzer ist ein Arschloch. Und nicht: Da redet er Unsinn. Menschen, die vielleicht noch etwas werden möchten, überlegen angesichts dessen, ob sie am demokratischen Diskurs teilnehmen. Denn es kann gefährlich sein, sich öffentlich zu artikulieren. Leute, die irgendwelche Appelle unterschrieben haben, werden aus Veranstaltungen ausgeladen, sie werden in bestimmte Kreise nicht einbezogen, werden für Preise nicht vorgeschlagen.

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Zur Person
Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Mitbegründer und Direktor der Stiftung „Futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“, die alternative Lebensstile und Wirtschaftsformen fördert.
Publizistisch hat Welzer sich intensiv mit der Nazi-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt. Zusammen mit dem Militärhistoriker Sönke Neitzel brachte er 2011 das Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ heraus. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, untersuchte er 2005 in seiner Studie „Täter“. In dem 2002  u.a. von ihm herausgegebenen Buch „Opa war kein Nazi“ beschäftigt sich Welzer mit der Zeit des Nationalsozialismus aus sozialpsychologischer Sicht, indem er das Verhalten von Menschen im Alltag sowie Formen familiärer Erinnerungstradierung untersucht. 

Sie sprechen von dem offenen Brief an Olaf Scholz, in dem Sie sich gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und für Verhandlungen mit Russland einsetzen.

Das ist ein Beispiel von vielen. Sobald man als umstritten gilt, hat man es sehr schwer.

Sie gelten ja seit dem offenen Brief und Ihrem Auftritt bei Anne Will zusammen mit Andrij Melnyk als umstritten.

Ja, aber mir ist es egal. Ich finde das eher interessant. Als Sozialpsychologe finde ich ja immer interessant, wie Menschen Dinge wahrnehmen. Richard David Precht und ich können dieses Buch auch deshalb schreiben, weil wir von niemandem abhängig sind. Aber wenn ich mir vorstelle, ich wäre Mitte 30 und würde als Autorin oder Autor einen wesentlichen Teil meines Einkommens durch öffentliche Lesungen erzielen oder müsste in die Stipendien- und Preismelange kommen, dann überlege ich mir dreimal, ob ich mich äußere. Und wenn ich Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler bin und noch nicht am Ende der Hierarchie angekommen, dann überlege ich es mir fünfmal. Und wir reden immer über Einlassungen im Rahmen des Grundgesetzes, nicht über Volksverhetzendes oder Staatsfeindliches. Wir reden von Interventionen von Leuten, die etwas von der Sache verstehen. Also Äußerungen, die man eigentlich im Sinne des Meinungspluralismus begrüßen müsste. So etwas brauchen wir doch in einer Demokratie. Wenn diese Menschen verstummen, dann ist das schlecht.

Dann sind wir jetzt doch wieder bei der Allensbach-Umfrage und den 44 Prozent, die meinen, man könne seine Meinung nicht frei äußern.

Das ist subtiler. Es ist ja nicht so, dass da irgendwelche „linksversifften Mächte“ in Kooperation mit dem Bundeskanzler auswählen, was gesagt werden darf und was nicht. Es ist ein soziales Klima der Offenheit oder Geschlossenheit des Sprechens, das erzeugt wird. Das ist ein komplizierter Prozess. Und da muss man verdammt aufpassen, das darf nicht passieren.

Zurück zum Journalismus. Sie schreiben den Medien eine selektive Blindheit zu, die in eine mangelhafte Repräsentation von Haltungen in der Bevölkerung mündet, in ein journalistisches Rudeldenken. Aber ist das Bild nicht doch vielfältiger? In der Berliner Zeitung wurde Olaf Scholz vehement verteidigt, so wie auch Sie verteidigt wurden nach Ihrem Auftritt bei Anne Will. Ist das nicht selektive Blindheit Ihrerseits?

Leider nein. Wir können uns da auf medienwissenschaftliche Analysen in Bezug auf die Pandemieberichterstattung und -kommentierung und auf das Flüchtlingsgeschehen ab 2015 stützen. Und da kommt man zu dem Befund, dass die Berichterstattung erstaunlich einheitlich ist und sich vorwiegend auf die Spitzenpolitik konzentriert und nicht darauf, wie die Gesellschaft versucht hat, das Geschehen zu bewältigen. Die Auswertung für den Ukraine-Krieg kommt im Dezember, aber da gibt es in den Leitmedien bei der Darstellung des Kriegsgeschehens ja auch eine unglaubliche Einheitlichkeit. Die Beispiele, die Sie nennen, waren die Ausnahme. Die Berücksichtigung anderer Gesichtspunkte geschieht höchst sporadisch.

Wie entsteht denn dieser Meinungsmainstream?

Alle Großereignisse der letzten Jahre weichen von der normalen Erwartung ab. Das heißt, es gibt kein Skript, kein Drehbuch, keine Erfahrung. Das ist für alle Beteiligten verunsichernd. Für die Politikprofis wie für die Medienprofis. Und je bedrohlicher die Situation ist, desto größer wird der Wunsch, Eindeutigkeit zu erzeugen. Gerade im Fall von Kriegen einigt man sich schnell auf eine manichäische Sicht auf die Ereignisse: Es muss etwas richtig sein und etwas falsch, etwas gut und etwas böse. Das beobachten wir seit einem halben Jahr. Je vereinfachter das Narrativ ist, desto dramatischer wirken abweichende Positionen.

Könnte die Eindeutigkeit, mit der dieser Krieg betrachtet wird, nicht durch die historische Erfahrung der Deutschen begründet sein?

In der Gemengelage der Motive mag das eine Rolle spielen. Es werden historische Versatzstücke in Anspruch genommen, als Begründung für die einzig richtige Haltung. Wenn man sich das historisch präzise anguckt, ist es eben nicht einfach. Wie lange hat es denn gedauert, bis tatsächlich etwas gegen die Judenvernichtung unternommen wurde? Das hat bis Kriegsende gedauert, und es war die Rote Armee, die Auschwitz befreit hat. Das kommt in der Diskussion aber nicht vor, denn das waren ja Russen.

Ein weitere Diagnose, die Sie in Ihrem Buch stellen, lautet: Journalisten wollen über Politik nicht nur berichten, sie wollen Politik machen. Aber Journalisten haben doch in Kommentaren und Leitartikeln immer Politik kritisiert, Verbesserungsvorschläge gemacht. Wo sehen Sie den qualitativen Sprung?

Es ist einfach sehr, sehr massiv geworden.

Also ist die Dosis das Problem?

Ja, aber auch die Community der Ärzte, die die Dosis verschreiben. Denken Sie nur an die Inkriminierung des Satzes von Angela Merkel: Wir schaffen das. Ein Satz von der Kanzlerin in einer freiheitlichen Demokratie gesprochen, die sehr reich ist und große Handlungsmöglichkeiten hat, ist zu einem unmöglichen Satz geworden. Ein Instrument der Demontage. Und jetzt die massive Kritik an der Weigerung von Scholz, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, obwohl er dafür gute Argumente hat, und das weder in der internationalen Presse so kritisch betrachtet wird noch von den Bündnispartnern. Welche Rolle spielen denn dann die Leute in den Medien, die das forcieren. Welches Mandat nehmen sie für sich in Anspruch?

Sie sprechen ja sogar von Mediokratie, von einer Kolonisierung der Politik durch die Medien. Es gibt doch aber auch eine Wechselwirkung zwischen Politik und Medien. Politiker beschäftigen Spindoktoren und Kommunikationsberater und versuchen, die Medien für sich zu instrumentalisieren, oder?

Klar, es gehören immer two to tango. Man kann bei Gerhard Schröder anfangen, dem Medienkanzler. Und man kann gucken, wer bei wem Pressesprecher wird, aus welchem Medium die kommen und wohin die hinterher zurückgehen. Diese Übergangszonen gibt es schon relativ lange, aber unter veränderten Bedingungen der medialen Kommunikation werden die möglicherweise wirksamer und die Rollen verändern sich ein bisschen mehr. Wir beschreiben ja einen Prozess, und es bedeutet auch nicht, dass alle so agieren. Aber es gibt diese Tendenzen.

Sie konstatieren auch, dass die vierte Gewalt keiner Kontrolle unterliegt. Mir fehlt die Fantasie, mir vorzustellen, wie so eine Kontrolle aussehen könnte. Gibt es diese nicht eigentlich schon? Sie haben nun zum Beispiel dieses Buch geschrieben, und im Fall Relotius haben mit Verzögerung die Selbstreinigungskräfte des Journalismus doch auch funktioniert, oder?

In Bezug auf die Öffentlich-Rechtlichen müsste man sich Gedanken über die Zusammensetzung der Kontrollgremien machen. Die privaten Medien müssten sich immer wieder vergewissern, was ihre Aufgabe ist, ob sie dieser gerecht werden und wie sie neue Entwicklungen inkorporieren können. Politischer Journalismus müsste reflektieren, wie die neuen Medien das politische Handeln verändert haben. Stichwort: Selenskyj, der in allen Parlamenten zugeschaltet wurde oder die Außenminister in Talkshows. Das verändert ja das politische Feld. Hinsichtlich anderer gesellschaftlicher Entwicklungen macht man doch auch diesen Schritt zurück und fragt: Sind wir noch da, wo wir sein wollten, sind wir noch die Antwort auf die Frage, die einst gestellt worden ist, und weshalb es uns gibt. Das müsste auch bei der Ausbildung von Journalisten eine Rolle spielen.

Ihr Menetekel sind die USA, mit ihrer erodierten Medienlandschaft und ihrer erodierten Demokratie. Was war zuerst da? Und es gibt ja noch ein ganz anderes Problem: Die Zeitungen verlieren Leser.

Zeitungen haben ja schon vor dem Internet Leser verloren. Und in den USA hat man das brutale Sterben der Regionalzeitungen gehabt. Dieser Prozess wurde dann durch das Aufkommen der sozialen Medien massiv beschleunigt und hält bis heute an. Donald Trump trat in eine Erosionssituation hinein, ohne diese hätte es ihn auch nie gegeben. Und er versteht es, die Direktmedien auf geniale Weise für sich zu nutzen. Damit verändert er das politische Feld. Dass er sich um keine Konventionen schert, hängt direkt mit dem Einsatz dieses Mediums zusammen. Und dass er sagt, die etablierten Medien produzieren nur fake news, ist auch ein Element dessen. Zu verstehen, dass gesellschaftliche Prozesse dann instrumentalisiert werden können, wenn politische Kräfte bestimmte Medien und Medienstrategien haben – das muss man verstehen, und das macht unsere gegenwärtige Situation so brisant. Deshalb sind die USA so ein fürchterliches Beispiel. Da wollen wir nicht hin.

Es sind einige Monate vergangen, seit Sie den offenen Brief an Olaf Scholz unterschrieben haben. Wie sehen Sie Ihre damalige Position in Bezug auf die aktuelle Situation?

Meine Besorgnis in Hinblick auf eine mögliche Eskalation ist mindestens so groß wie zu Anfang des Krieges. Durch die Rückeroberungserfolge der Ukraine steigt ja die Unsicherheit in Bezug darauf, was der Diktator mit dieser Situation macht. Mir ist in Betracht dessen dieses Hau-druff-Denken wieder nicht verständlich. Und was mich besonders fertigmacht, ist dieser komische Triumphalismus. Eine Siegesgewissheit von Beteiligten, die aber nicht direkt beteiligt sind. Das macht mir als Sozialpsychologen große Sorgen.

Sehen Sie Siegesgewissheit in Deutschland?

Da machen die Ukrainer 6000 Quadratkilometer Geländegewinne, übrigens nicht in Schlachten, sondern weil die Gegner abziehen und sie die Gebiete übernehmen. Das ist von außen überhaupt nicht zureichend zu deuten. Aber da wird gleich Morgenluft gewittert. Und wie vor drei, vier Monaten sind die Kriegsziele immer noch völlig unklar, für die der Westen steht. Sind das die Kriegsziele der Ukrainer inklusive der Rückeroberung der Krim? Wenn nein, welche sind es dann?

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