Der Moment der Wahrheit kam genau um 19.15 Uhr. Um diese Zeit am 8. September 1998 betraten zwei Männer und zwei Frauen im normannischen Dorf Sainte-Honorinela-Guillaume das Lokal „La Coulande“. In dem 327-Seelen-Ort lebte schon seit fünf Jahren ein zugewanderter Deutscher namens „Dirk Clausen“, und auch an diesem frühen Abend saß er als zunächst einziger Gast an der Bar vor einem Bier. Doch diesmal wurde ihm eine Frage gestellt, die er schon lange gefürchtet hatte: „Sind Sie Hans-Joachim Klein?“
Als er bestätigte (er wusste, dass Leugnen aussichtslos war), klickten Handschellen. Nach mehr als 22 Jahren hatten Zielfahnder des Bundeskriminalamtes (BKA) in enger Abstimmung mit der französischen Polizei seine Flucht beendet. Nachbarn hatte der vermeintliche „Clausen“ übrigens erzählt, er sei Journalist – man hielt das offenbar für denkbar. Serge Clerembaux, der Bürgermeister von Sainte-Honorinela-Guillaume ließ sich mit den Worten zitieren: „Ein so netter Bursche. Schade, dass er jetzt weg ist.“
Hans-Joachim Klein war nicht irgendein Gesuchter und erst recht kein „netter Bursche“, weder vor noch während und auch nicht nach seiner Zeit im engsten Kreis der „Revolutionären Zellen“ (RZ) und an der Seite des linken Terrorsöldners „Carlos“ alias Ilich Ramirez Sanchez. Wie kaum jemand anderer stand er für die Kontakte zwischen deutschem linksradikalem Establishment und dem linksextremistischen Terror.
Nach einer Kindheit und Jugend in schwierigen Verhältnissen war der 1947 geborene Klein Anfang der 1970er-Jahre zur „Putzgruppe“ in Frankfurt gestoßen, einer Truppe gewalttätiger junger Männer, die (wie später und bis heute der „schwarze Block“) bei Demonstrationen Polizisten angriff. Solche Gruppen gab es in der Bundesrepublik nach 1968 einige, doch die Frankfurter waren durch ihren zeitweiligen Anführer besonders relevant – der hieß nämlich Joschka Fischer.
Doch Klein kannte nicht nur Fischer, sondern auch Daniel Cohn-Bendit, den deutsch-französischen Aktivisten der Mai-Aufstände 1968 in Paris, und Klaus Croissant, den Terroranwalt und späteren Stasi-Spitzel. Der Öffentlichkeit erstmals bekannt wurde Klein im Dezember 1974, als er den fast blinden französischen Denker Jean-Paul Sartre zu einem offiziellen Besuch beim angeblich „isolierten“ Terroristen Andreas Baader ins Gefängnis Stuttgart-Stammheim fuhr – und dabei gefilmt und fotografiert wurde.
Sein zweiter Auftritt vor der Weltöffentlichkeit war dann mit drei Toten verbunden: Klein gehört zu dem Terrorkommando, mit dem „Carlos“ am 21. Dezember 1975 gegen 11.45 Uhr das Hauptquartier der Organisation der Erdöl exportierenden Staaten (Opec) in Wien überfiel. Ein Österreicher, ein Iraker und ein Libyer wurden umgehend erschossen. Gegen 11.52 Uhr hatten die sechs Angreifer mehr als 60 Geiseln in ihrer Hand.
Bei einem Schusswechsel mit österreichischen Polizisten wurde Klein getroffen und schwer verletzt: Ein Geschoss traf ihn im Bauch und blieb neben seiner Wirbelsäule stecken. Daraufhin bot „Carlos“ eine „Feuerpause“ an, um ihren verwundeten Genossen medizinisch versorgen zu lassen. Gegen 13.25 Uhr wurde Klein abgeholt und ins Allgemeine Krankenhaus eingeliefert, wo man ihn umgehend operierte. Am folgenden Morgen wurde er auf einer Trage direkt zum Flugzeug gebracht, das „Carlos“ für den Abflug mit 33 Geiseln erpresst hatte. Die DC-9 landete in Algier, wo alle Geiseln unversehrt freikamen. „Carlos“, seine Mittäter und auch Hans-Joachim Klein tauchten unter.
Nach seiner Genesung sagte sich Klein vom Terror los und schickte sogar 1977 – ein dramatischer Effekt! – eine Waffe mit seinen Fingerabdrücken an das Büro Rom des Hamburger Magazins „Der Spiegel“. An seiner Gesinnung jedoch änderte sich nichts: Er sprach von der Bundesrepublik als der „westdeutschen Wanzenrepublik“.
Ein „JEMAND“ (das Wort war tatsächlich großgeschrieben) habe ihn aus der Terrorszene herausgeholt. Erst viele Jahre später wurde bekannt, dass ein solcher „Jemand“ Cohn-Bendit gewesen war – ob auch Joschka Fischer, blieb ungeklärt.
Klein stilisierte sich in einem „Spiegel“-Gespräch 1978 zum geläuterten Aussteiger, ließ sogar ein peinlich weinerliches Buch mit dem Titel „Rückkehr in die Menschlichkeit. Appell eines ausgestiegenen Terroristen“ folgen, natürlich mit einem Nachwort von Cohn-Bendit. Doch die einzig relevanten Schritte zur Reue machte er nicht: Weder stellte er sich, noch gab er sein Wissen preis. Stattdessen blieb Klein untergetaucht – in Frankreich, wie viele Jahre später klar wurde.
In der linksextremen Szene galt Klein bald als Phantom. Alles Mögliche wurde ihm nachgesagt, bis hin zu einer aktiven Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst Mossad in Counterterrorism. Tatsächlich lebte er illegal in Frankreich und hatte mit einer Einheimischen zwei Kinder. Allerdings traf er sich zweimal, jeweils in Paris, mit einem Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, 1988 und 1993. Zum Aufgeben war Klein aber noch nicht bereit.
Ab Mitte der 1990er-Jahre sondierte Klein Möglichkeiten, einen Deal mit den deutschen Behörden auszuhandeln. Wieder war es Daniel Cohn-Bendit, der ihm half und 1997 einen Kontakt zu einem versierten Strafverteidiger herstellte. Doch statt sich schlicht zu stellen, suchte Klein den großen Auftritt. Er nahm Kontakt zu der Hamburger Illustrierten „Der Stern“auf, um ein Exklusivinterview und eine Bilderstrecke zu verabreden – Vorbereitung für sein Wiederauftauchen aus der Illegalität.
Das Kalkül: Telefone von Journalisten abzuhören ist im Rechtsstaat untersagt. Doch die Ermittler kamen auf juristisch saubere Weise an die Verbindungsdaten, stellten so fest, welches Telefon in Frankreich Klein benutzt hatte – und diese Nummer durfte abgehört werden. Nun kreisten die Zielfahnder den Gesuchten schnell ein – bis am 8. September 1998 die Handschellen klickten.
Die Anklage vor dem Landgericht Frankfurt lautetete auf Mittäterschaft bei dreifachem Mord, das an sich erwartbare Strafmaß „lebenslänglich“, was bei ähnlich belasteten Terroristen zu 15 bis 20 Jahren hinter Gittern geführt hatte. Doch Hans-Joachim Klein entschied sich, als Kronzeuge auszusagen. Er belastete einen anderen RZ-Terroristen schwer – doch seine Angaben stimmten nicht, sodass dieser Mann aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden musste. Hatte Klein die Justiz vorgeführt? Viel spricht dafür, doch beweisbar war es nicht.
So profitierte er von der Kronzeugen-Regelung, obwohl seine Angaben nichts aufgeklärt hatten. Statt der wegen seiner unstrittigen, von Fernsehkameras dokumentierten Beteiligung am Dreifachmord in Wien eigentlich zwingenden Strafe „lebenslänglich“ erhielt er nur neun Jahre wegen dreifachen vollendeten Mordes, Mordversuchs und Geiselnahme. Schon 2003, nach nur fünf Jahren hinter Gittern, kam der vermeintlich geläuterte Terrorist wieder frei. Ein weiteres Mal verlud er die Justiz mit falschen Aussagen gegen eine RZ-Terroristin 2013.
Nach seiner Entlassung aus der Haft kehrte Hans-Joachim Klein nach Sainte-Honorinela-Guillaume zurück, wo er am 9. November 2022 im Alter von fast 75 Jahren starb. Mit dem Vorzeige-Grünen Daniel Cohn-Bendit soll der Terrorist bis zuletzt befreundet gewesen sein.
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