Abitur im Zweiten Weltkrieg: „Unterricht bei der Flak war seltsam“ - WELT
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Geschichte Notabitur im Zweiten Weltkrieg

„Der ,normale Unterricht‘ bei der Flak war natürlich seltsam“

In der Debatte über Prüfungen unter Corona-Bedingungen fällt schnell das Wort vom „Notabitur“. Das hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben, allerdings unter gänzlich anderen Bedingungen, wie sich Hans-Dietrich Genscher erinnerte.
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Luftwaffenhelfer (Jahrgang 1927) am Kommandogerät 40 (B I) der 8,8-cm-Flak-Batterie in Berlin-Karow (August 1943) Luftwaffenhelfer (Jahrgang 1927) am Kommandogerät 40 (B I) der 8,8-cm-Flak-Batterie in Berlin-Karow (August 1943)
"Wir durften morgens länger schlafen", erinnerte sich Hans-Dietrich Genscher an seine Schulzeit – Luftwaffenhelfer des Jahrgang 1927 in einer 8,8-Batterie
Quelle: Wikipedia/Heinz Radtke

Die wenigsten Schüler lernen aus Begeisterung. Noch weniger legen gern Prüfungen ab, von denen ihr künftiger Lebensweg zumindest auch abhängt. Daher sind Schüler oberer Klassen eigentlich immer dafür, wenn Leistungsanforderungen herabgesetzt werden. So zum Beispiel auch ein Jugendlicher aus Halle namens Hans-Dietrich Genscher.

Im Frühjahr 1943 wurde der spätere Bundesaußenminister wie die meisten männlichen Oberschüler der Jahrgänge 1926 und 1927 aus dem normalen Unterricht herausgezogen. Sie wurden gruppenweise in Flakbatterien verlegt, die meist, aber nicht immer in der Nähe ihrer Heimatstädte stationiert waren. „Noch immer hatten wir wöchentlich dreimal fünf Stunden Schulunterricht“, berichtete Genscher in seinen „Erinnerungen“: „Dabei entfielen die neusprachlichen Fächer, also Englisch und Französisch, Latein aber wurde fortgesetzt, ebenso Deutsch, Geschichte und die Naturwissenschaften.“

Klassenfoto in der Oberrealschule Dresden-Johannstadt im Jahr 1939. Die Jungs der Klasse des Oberstudiendirektors Jehmlich tragen fast vollzählig die Uniform der Hitler-Jugend. An der Wand hängt ein Bild des Leipziger Völkerschlachtdenkmal. Foto: Sammlung Zimmermann
Von der Schulbank in den Krieg: Klassenfoto einer Oberrealschule 1939
Quelle: picture alliance / ZB

Weil aber nicht jede Art von Unterricht in den kargen Unterkünften neben den Flakkanonen gegeben werden konnte, fuhren Genscher und seine Kameraden gelegentlich zurück nach Halle, um im Realgymnasium einen ganzen Vormittag lang Experimente zu machen. „Der ,normale‘ Schulunterricht bei der Flak war demgegenüber natürlich seltsam. Für die eine Klasse fand er in der Kantine statt, für die andere in der Dorfkneipe.“ Hatte es in der Nacht zuvor Fliegeralarm gegeben, hatten die Flakhelfer also an ihren Kanonen gewartet oder sogar geschossen, „dann durften wir morgens länger schlafen, und der Unterricht fiel aus“.

Ehrlicherweise gestand Genscher rückblickend ein: „Das fanden wir gar nicht so unangenehm. Jedenfalls hatten wir keine schulischen Entzugserscheinungen: Der Erfolg des pädagogischen Bemühens unserer Lehrer war begrenzt.“

Nach so einem rudimentären Unterricht (normal waren seinerzeit in den oberen Klassen mindestens 30 Wochenstunden, nicht die Hälfte) konnten Jugendliche natürlich keine normale Abiturprüfung ablegen. Das war jedoch kein Problem, denn der Staat hatte vorgesorgt.

Schon im März 1937 war für den seinerzeit im Zuge der Aufrüstung der Wehrmacht dringend benötigten Offiziersnachwuchs eine Sonderprüfung für Unterprimaner (Schüler der zwölften Klasse) gegeben, anschließend eine Verkürzung der Gymnasialzeit auf generell zwölf Jahre. Mit Kriegsbeginn 1939 wurde dann das Abitur anfangs noch freiwillig sehr ausgedünnt. Ab Ende 1941 wurde das sogenannte Notabitur zum Normalfall für 18-jährige männliche Jugendliche. Denn die Ostfront brauchte ständig Nachschub an jungen Soldaten.

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Nach der Niederlage in Stalingrad wurde den Abiturienten der Jahrgänge 1924 und 1925 auch die reduzierte schriftliche Abiturprüfung ganz erlassen. Sie absolvierten meist nur noch eine mündliche Prüfung und erhielten dann ein Zeugnis mit „Reifevermerk“, dessen Noten sich an den vorangegangenen Jahren orientierten.

Genscher gehörte zur nächstjüngeren Altersgruppe von Oberschülern, die bei den personell ausgedünnten Flakeinheiten entstandene Lücken zu schließen hatten. Für die meisten von ihnen fiel ab dem Frühjahr 1944 auch der reduzierte Unterricht fast völlig weg, denn von da an drohten nicht nur in der Nacht Luftangriffe der Royal Air Force, sondern auch am Tage durch das US Bomber Command. Die Flakgeschütze mussten also rund um die Uhr einsatzbereit sein – deshalb erhielten die meisten Flakhelfer in der zwöften Klasse ihr Reifezeugnis ganz ohne Prüfung.

Flakhelfer 20.9.1943 2. Weltkrieg / Luftkrieg: - Flakhelfer. - Foto, 20. September 1943.
Ganze Schuljahrgänge wurden bei Kriegsende als Flakhelfer eingezogen
Quelle: picture-alliance / akg-images

Übrigens waren Lehrlinge, also Absolventen der achtjährigen Volks- und der zehnjährigen Mittelschulen, die anschließend einen Beruf lernten, von der Einziehung als Flakhelfer meist ausgenommen. Sie sollten, zumindest wenn sie potenziell kriegswichtige Tätigkeiten beispielsweise in der Metallverarbeitung oder auch als Bäcker lernten, ihre Ausbildung abschließen, bevor sie mit 18 oder spätestens 20 Jahren eingezogen wurden. Die Bildung der Oberschüler, die auf ein anschließendes Studium zielte, schien weniger bedeutsam.

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Allerdings betraf die Einberufung männlicher Jugendlicher als Flakhelfer 1943/44 nur eine relativ kleine Gruppe. Denn knapp 90 Prozent aller Schüler machten vor 1939 lediglich einen Volks- oder Mittelschulabschluss; weitere etwa fünf Prozent besuchten zwar eine Oberschule, gingen jedoch vor der oder ohne eine bestandene Abiturprüfung ab. „Nur fünf bis maximal acht Prozent erwarben mit dem Abitur die Hochschulreife“, bilanzierte der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“.

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Nur rund ein Prozent aller Deutschen (also einschließlich der Mädchen) des Jahrgangs 1920 erreichten den Abschluss des Abiturs. Vier Fünftel von ihnen stammten aus bildungsbürgerlichen Familien. Insofern betraf das Notabitur nach den Regeln von 1937 bis 1944 (in den letzten Monaten des Krieges gab es gar keinen Schulunterricht und erst recht keine Prüfungen mehr) lediglich eine kleine Gruppe.

Das ist gegenwärtig, wo erneut über möglicherweise bevorstehende Formen eines Notabiturs debattiert wird, anders. Aktuell liegt der Anteil an Schulabgängern mit einem Zeugnis der Hochschulreife nach einem rasanten Anstieg von 1950 bis 2012 (Höchstwert von fast 60 Prozent) und einem kleinen Nachgeben seither bei 2018 ziemlich genau bei 50 Prozent.

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So gesehen müsste die Lage aktuell also weitaus schlimmer sein als im Zweiten Weltkrieg. Denn wenn wieder ein Notabitur eingeführt würde, wäre diesmal ein zehnmal höherer Anteil des Schülerjahrganges betroffen als 1943/44.

Übrigens musste Hans-Dietrich Genscher wie die meisten Absolventen eines Notabiturs nach Kriegsende doch noch einmal die Schulbank drücken. Er hatte sich im Januar 1945 zur Wehrmacht gemeldet, um der zumindest möglichen Einziehung zur Waffen-SS zu entgehen. Anfang Mai geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurde an die Briten überstellt, die ihn nach gut zwei Monaten entließen – so verfuhren die Westmächte bei den meisten 18- bis 20-jährigen Gefangenen.

Hans-Dietrich Genscher 2009 in seinem alten Gymnasium in Halle
Ex-Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (1927–2016) beim Besuch seines alten Gymnasiums 2009 in Halle
Quelle: picture-alliance/ ZB

Ab Dezember 1945 besuchte Genscher wieder in Halle an seiner alten Schule (die heute seinen Namen trägt) einen Abiturergänzungskurs. Seine nachgeholte Reifeprüfung im April 1946 bestand einerseits aus mündlichen und schriftlichen Prüfungen in den Hauptfächern, darunter Latein; andererseits aus einem Aufsatz über die „Lehren aus dem Nürnberger Prozess“, der seinerzeit noch andauerte. Mit einem nun vollwertigen Abiturzeugnis schrieb sich Genscher zum Sommersemester 1946 an der Universität Halle ein, in Rechts- und Volkswirtschaft. Sein weiterer Lebensweg ist bekannt.

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