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Der Post-Streik und seine unheilvolle Parallele im Jahr 1974

Finanz-Redakteur
Die Einigung Anfang 1974 war ein Wendepunkt, nicht nur für die Gewerkschaft ÖTV. Doch im Vergleich zu damals zeigen sich auch Unterschiede Die Einigung Anfang 1974 war ein Wendepunkt, nicht nur für die Gewerkschaft ÖTV. Doch im Vergleich zu damals zeigen sich auch Unterschiede
Die Einigung Anfang 1974 war ein Wendepunkt. Doch im Vergleich zu damals zeigen sich heute auch Unterschiede
Quelle: pa/dpa/Oliver Berg
Millionen Briefe bleiben dieser Tage liegen: Die Post streikt und fordert 15 Prozent mehr Lohn. Vor genau 49 Jahren endete in der Bundesrepublik ein erstaunlich ähnlicher Streit. Doch für viele galt der Tarifabschluss erst als Beginn einer tiefen wirtschaftlichen Krise.

Worum geht es

Bei seiner Rede im Bundestag wurde der Kanzler erstaunlich deutlich: „Vorstellungen und Wünsche, wie wir sie in diesen Tagen zugunsten der Angehörigen des öffentlichen Dienstes gehört haben, können nicht verwirklicht werden“, sagte er, und die Abgeordneten der SPD klatschten. „Über zehn Prozent, gar 15 Prozent – dies lässt sich vernünftigerweise nicht darstellen.“

Der Kanzler hieß nicht Olaf Scholz, sondern Willy Brandt, der sich auf eine Tarifauseinandersetzung zwischen der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes und den Arbeitgebern bezog, die vor genau 49 Jahren stattfand. Diese weist jedoch erstaunliche Parallelen zum aktuellen Konflikt zwischen Ver.di und der Post auf.

Auch damals war die Inflation zuvor stark gestiegen, auch damals wegen der Energiepreise, auch damals forderte die Gewerkschaft 15 Prozent mehr Lohn, auch damals kam es zum Streik. Doch 1974 endete der Streit mit einer Einigung, die in die Geschichte einging und fortan vielen als Startschuss für die tiefe wirtschaftliche Krise der Siebzigerjahre galt.

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Im Herbst 1973 war der Ölpreis explodiert. Grund war auch damals ein Krieg, der Angriff der arabischen Staaten auf Israel. Die USA unterstützen Israel in diesem sogenannten Jom-Kippur-Krieg, worauf die arabischen Staaten ein Ölembargo gegen die USA verhängten und ihre Fördermengen drastisch kürzten.

Der Ölpreis vervierfachte sich als Folge davon von drei auf zwölf Dollar, und das löste eine tiefe Rezession und einen kräftigen Anstieg der Teuerung aus. Im Dezember 1973 erreichte die Inflationsrate in Deutschland 7,92 Prozent.

Doch anders als heute schnürte die Bundesregierung keine Entlastungspakete, und die Gewerkschaften waren noch mächtige Institutionen. Sie forderten drastische Gehaltserhöhungen.

Die Duellanten Genscher und Kluncker

Am 27. November hatten sie in der Stahlindustrie bereits ein Lohnplus von 12,5 Prozent durchgesetzt, und am gleichen Tag stellte die Vorgängerorganisation von Ver.di, die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), ihre Forderung auf: ein Plus von 15 Prozent, mindestens jedoch 185 D-Mark sowie ein Urlaubsgeld von einheitlich 300 D-Mark.

Verhandlungspartner war Innenminister Hans-Dietrich Genscher, und diesem war klar, dass solche Forderungen natürlich nie das Endergebnis darstellen. Sie werden aufgestellt, die Gegenseite reagiert empört, macht ein weit niedrigeres Angebot, und am Ende einigt man sich irgendwo in der Mitte. So geht das Spiel. Wichtig ist nur, dass man vorher keine roten Linien zieht, denn das führt nur zu einer Verhärtung der Positionen.

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (links) und der Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV Heinz Kluncker
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (links) und der Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV Heinz Kluncker
Quelle: pa/Lutz Rauschnick

Doch genau das tat Kanzler Brandt mit eben jener Rede im Bundestag, als er sich öffentlich festlegte, dass der Abschluss nicht über zehn Prozent liegen dürfe, und er wiederholte das mehrmals. Damit war jedoch klar, was ÖTV-Chef Heinz Kluncker erreichen wollte und musste, um bei seinen Mitgliedern bestehen zu können: Einen Abschluss über zehn Prozent.

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Die Verhandlungen zogen sich über Wochen, doch die Fronten waren verhärtet. Schließlich rief die ÖTV zur Urabstimmung, bei der 91 Prozent für einen Streik stimmten. Ab dem 10. Februar 1974 blieben Ämter geschlossen, die Müllabfuhr kam nicht mehr, die Post wurde nicht mehr befördert, Bahnen und Busse standen still.

Es dauerte nur drei Tage, dann war die öffentliche Stimmung gekippt und die öffentlichen Arbeitgeber mürbe. Sie boten jetzt eine Lohnerhöhung von elf Prozent an, mindestens jedoch 170 D-Mark. Für die untersten Lohngruppen ergab sich dadurch sogar ein Lohnplus von 17 Prozent. Die ÖTV nahm das Angebot an, Heinz Kluncker wähnte sich als Sieger.

Kluncker im Fadenkreuz

Doch was folgte, würde man heute wohl als „Shit Storm“ bezeichnen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sah im Verhandlungsergebnis „eine Niederlage für die Bürger, für die Volkswirtschaft, für die Autorität staatlicher Führung (und zwar jedweder parteipolitischer Couleur und aller Stufen), für die Stabilität der Mark“. Die Arbeitgeber anderer Branchen wetterten ebenso wie die Opposition aus CDU/CSU. Aber auch SPD-intern wurde kontrovers diskutiert, mancher beklagte eine Verfilzung von SPD und Gewerkschaft zum Schaden der Volkswirtschaft.

Hauptzielscheibe der Kritik war ÖTV-Chef Kluncker. Er wurde zum Inbegriff der angeblichen schädlichen Übermacht der Gewerkschaften stilisiert, was auch an seinem Äußeren lag: Er wog 150 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,88 Metern und dominierte allein dadurch jedes Foto mit den Protagonisten der Gegenseite.

Tatsächlich waren die Tarifabschlüsse Ende 1973/Anfang 1974 ein Wendepunkt, nicht nur jener der ÖTV, auch andere Branchen standen deren Abschluss nicht nach. Sie lagen alle weit über der Inflationsrate und dem Produktivitätszuwachs. 1974 stiegen daher die Einkommen aus Unternehmertätigkeit nur noch um 0,4 Prozent, die Einkommen aus nicht selbstständiger Arbeit dagegen um 7,9 Prozent.

Unternehmertum lohnte sich immer weniger – wegen der hohen Löhne, aber auch wegen der hohen Energiekosten. Der einzige Ausweg lag in Rationalisierungen. Arbeitskräfte wurden radikal durch Maschinen ersetzt, just zu einer Zeit, als die Babyboomer allmählich in den Arbeitsmarkt drängten und das Angebot an Arbeitskräften drastisch stieg. Die Folge war Massenarbeitslosigkeit, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zum zentralen Problem der Bundesrepublik werden sollte. Und der Tarifabschluss der ÖTV vom Februar 1974 galt vielen fortan als das Fanal, das diese Entwicklung einleitete.

Das war er natürlich nur bedingt. Schon in den Sechzigerjahren waren die Löhne schneller gestiegen als Inflation und Produktivität, und das war nicht von der ÖTV allein getrieben. Aber 1974 war der Höhepunkt einer Entwicklung, die sich danach nur sehr langsam umkehrte.

Die 1974-Vergleich und seine Grenzen

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Und heute? Die Parallelen springen natürlich ins Auge: hohe Inflation, hohe Energiepreise, 15 Prozent Lohnforderung. Doch die Unterschiede sind letztlich größer: Die Löhne sind in Deutschland über viele Jahre weit weniger gestiegen als die Unternehmensgewinne, die Macht der Gewerkschaften ist sehr begrenzt und sie waren auch in den vergangenen Monaten, als die Preise galoppierten, relativ zurückhaltend. Das wiederum lag auch an den Entlastungspaketen der Regierung.

Und schließlich drängen derzeit nicht Millionen zusätzlicher Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt, im Gegenteil. Die Zahl der Erwerbstätigen wird in den kommenden Jahren erheblich schrumpfen. Allerdings könnte genau dies den Arbeitnehmern künftig mehr Macht geben und zu deutlich schneller steigenden Löhnen führen. Insofern könnte ein hoher Tarifabschluss bei der Post dann doch auch diesmal zu einem Wendepunkt werden.

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