Hans Modrow: „Man hat mich selbst als frei gewählten Abgeordneten bespitzelt“

Hans Modrow: „Man hat mich selbst als frei gewählten Abgeordneten bespitzelt“

Der frühere DDR-Regierungschef wurde mehr als 60 Jahre von BND und Verfassungsschutz überwacht. Nun hat er als erster Ostdeutscher Akteneinsicht erzwungen.

Hans Modrow<br>
Hans Modrow
Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Berlin-Im Arbeitszimmer von Hans Modrow im DDR-Zehngeschosser nahe der Karl-Marx-Allee ist kaum noch Platz. Auf den Tischen liegen Stapel von Büchern und Zeitungen, in den Regalen stehen noch mehr Bücher, Fotos und Gastgeschenke – Holzskulpturen von Japan-Reisen, ein ausgestopftes Krokodil, das Modrow von Fidel Castro geschenkt bekam. Vor allem aber stapeln sich Akten bei dem Mann, der zwischen Dezember 1989 und April 1990 Chef der DDR-Übergangsregierung war und heute Vorsitzender des Ältestenrates der Linken ist. Es sind Akten von Geheimdiensten, aber sie stammen ausnahmsweise nicht aus den Archiven der Staatssicherheit, sondern von BND und Verfassungsschutz. Hans Modrow wurde jahrzehntelang von bundesdeutschen Spionen beschattet und konnte als erster Ostdeutscher Akteneinsicht durchsetzen. Im Exklusivinterview mit der Berliner Zeitung erzählt der 93-Jährige, wie er das geschafft hat und warum es ihm so wichtig ist.

Herr Modrow, Sie sitzen zu Hause auf Bergen von Papier alles Akten, die der Bundesnachrichtendienst (BND) und der Verfassungsschutz über Sie angelegt haben. Wie lange mussten Sie um deren Herausgabe kämpfen?

Fast ein halbes Jahrzehnt, bis das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig 2018 meine Klage auf Akteneinsicht zugelassen hat. Ich bekomme seither Auskünfte, nicht die Akten selbst.

Was heißt Auskünfte, und wer hat sie verfasst?

Ich vermute, ein ganzer Personenkreis des BNDs hat die Dokumente über mich gesichtet, zusammengestellt und dann in sogenannten Jahresscheiben an mich gesandt. Freilich unter Beachtung der gesetzlichen Schutzfrist von 30 Jahren und unter Wahrung des Quellenschutzes. Denn selbst wenn Informanten schon tot sind, gebe es doch deren Kinder, die geschützt werden müssten, argumentierten BND-Vertreter vor Gericht.

Warum nach so vielen Jahren diese Geheimniskrämerei?

Damit ich nicht rausbekomme, wer mich im Auftrage des BNDs bespitzelt und wie der Nachrichtendienst überhaupt gegen die DDR gearbeitet hat. Ein Gesetz schützt ihn, weil die Offenlegung der westdeutschen Geheimdienstakten angeblich eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik darstellt. Das scheint albern, ist aber gesetzlich verbrieft. Darum durfte das Bundesverwaltungsgericht nur mein individuelles Recht auf Auskunft durchsetzen, und das einzig zu konkreten von mir benannten Ereignissen.

Warum haben die Richter dann so lange gebraucht?

Die haben mir erklärt, ich hätte ihnen einen Vorgang aufgezwungen, den sie so noch nie behandelt haben – es sei das erste Mal, dass ein Ostdeutscher auf Herausgabe seiner westdeutschen Geheimdienstakten geklagt habe. Ein historischer Vorgang.

Mit dem Sie was erreichen wollten?

Gleichbehandlung und Objektivität. Nach Gründung beider deutscher Staaten herrschte jahrzehntelang Kalter Krieg zwischen ihnen. Entsprechend aktiv waren die Dienste in Ost wie in West. Nur heute liest sich ihre Geschichte so, als habe es mit dem BND einen guten und mit der Stasi einen bösen Nachrichtendienst gegeben – eine ziemlich einseitige Sicht.

Für wen oder was, vermuten Sie, hat sich der BND im Osten interessiert?

Ich vermute gar nichts. Ich bleibe bei den Fakten.

Welche Fakten zum Beispiel?

Zum Beispiel geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Partei Die Linke von 2014 im Bundestag hervor, dass über die Jahrzehnte der deutschen Teilung hinweg mindestens 71.500 Ostdeutsche vom BND und seinem Vorläufer der Organisation Gehlen beobachtet oder direkt ausgeforscht worden sind. Die BRD-Dienste müssen also viele Zuträger und V-Leute in der DDR gehabt haben, die für sie unterwegs waren – vermutlich mehr als das MfS in der BRD Agenten und IM führte.

Ab wann sind Sie in das Visier der westdeutschen Geheimdienste geraten?

Der BND war vom Juli 1958 bis April 1990 an mir dran. Der Verfassungsschutz wiederum hat von 1965 bis zum 1. März 2013 Informationen „im Zusammenhang mit linksextremistischen Bestrebungen“ über mich gesammelt und archiviert. Wobei, wie es hieß, der „Zeitraum seit dem Jahr 1951“ ebenfalls erfasst worden sei. Bekanntlich war der Verfassungsschutz Ende 1950 gegründet worden.

„Ich vermute gar nichts“: der 93-Jährige in Berlin
„Ich vermute gar nichts“: der 93-Jährige in BerlinBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Das heißt, dass man Sie auch noch in Ihrer Zeit als Bundestags- und Europaabgeordneter ausgeforscht hat?

Das Ungeheuerliche ist ja, dass man mich selbst als sogenannten frei gewählten Abgeordneten bespitzelt hat – ein klarer Verstoß gegen deutsches Recht. 1990 gab es keine Stunde null für die westdeutschen Geheimdienste – sie machten so weiter wie im Kalten Krieg.

Warum waren Sie schon in den Fünfzigerjahren für den BND interessant?

Ich war damals Vorsitzender der FDJ von ganz Berlin, kandidierte 1958 für das Abgeordnetenhaus in Schöneberg. Schon damit stand ich als DDR-Funktionsträger bei vielen Diensten auf dem Zettel. Und das war damals eher „normal“, die Viermächte-Stadt Berlin war doch seinerzeit die Welthauptstadt der Geheimdienste.

Hans Modrow
wurde 1928 in Jasenitz im heutigen Polen geboren. Sein Vater arbeitete als Seemann und Bäcker und war Mitglied der NSDAP, seine Mutter Hausfrau. Modrow lernte Maschinenschlosser und wurde mit 17 zum Volkssturm einberufen, er kam vier Jahre in sowjetische Kriegsgefangenschaft, besuchte in dieser Zeit eine Antifa-Schule.
1949 nach Deutschland zurückgekehrt, arbeitete er als Maschinenschlosser in Hennigsdorf, wurde FDJ-, später SED-Funktionär und promovierte in Betriebswirtschaft.
Von 1973 bis November 1989 war er 1. Sekretär der Bezirksleitung in Dresden, vom 13.11.1989 bis 12. April 1990 Ministerpräsident der DDR. Danach saß er für die PDS/Linke in der Volkskammer, im Bundestag und im Europaparlament. Heute ist er Vorsitzender des Ältestenrates der Linken.
Hans Modrow lebt in Berlin. Er hat zwei Töchter, von denen eine bereits gestorben ist, drei Enkel und vier Urenkel.

Was genau berichtete der BND über Sie?

Belangloses und Interessantes, wie immer bei solchen Berichten. Die Jugendpolitik der SED, die im Wesentlichen über die FDJ durchgesetzt wurde, war damals ziemlich kreativ. Ich selbst unterhielt intensive Kontakte zu politischen Funktionären, Künstlern, Schriftstellern in allen Berliner Stadtteilen. Schon das schien dem Geheimdienst von Bedeutung. Später kamen Personal-Analysen zu möglichen Kaderperspektiven hinzu.

Haben Sie Neues aus den Akten über sich erfahren?

Ein BND-Mann sagte während einer Prozesspause in Leipzig zu mir: Sie können sich doch freuen, Herr Modrow. Sie haben wahrscheinlich noch nie so positive Beurteilungen bekommen wie von uns.

BND-Agenten haben Ihnen also bescheinigt, was für ein kluger und feiner Kerl Sie gewesen sind?

So ungefähr. Aber das war eher ein vergiftetes Lob.

Warum?

Weil man mit solchen Lobhudeleien das Gegenteil erreichen kann oder gar will. Geheimdienste gehen zumeist davon aus, dass die Gegenseite von den Dossiers erfährt. Also wenn man mich über den grünen Klee lobte und als künftigen Aufsteiger handelte, riefen sie damit automatisch auch meine Kritiker in Ost-Berlin auf den Plan.

„Berichte zu meinem Verhalten im Politbüro“: der Linke-Politiker in seinem Arbeitszimmer
„Berichte zu meinem Verhalten im Politbüro“: der Linke-Politiker in seinem ArbeitszimmerBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Was haben Sie noch erfahren?

1988, so steht es in den BND-Unterlagen, haben sich Gorbatschow und der damalige polnische Staats- und Parteichef Wojciech Jaruzelski bei einem Treffen in Warschau auch über die Honecker-Nachfolge ausgetauscht und meinen Namen genannt. Das meldete der BND umgehend nach Bonn. Dort landete auch seine Einschätzung über meine Rolle in den Beziehungen der DDR zu Japan. Nicht der eigentlich zuständige ZK-Sekretär Günter Mittag oder der Außenhandelsminister Gerhard Beil, sondern der 1. Sekretär der Dresdner SED-Bezirksleitung Modrow hatte nach Auffassung des BNDs die Schlüsselrolle in den Beziehungen zu Japan. Ich bin doch zu DDR-Zeiten wiederholt nach Japan gereist. Allein darüber gibt es 20 Akten beim BND.

Kannte Honecker die BND-Berichte?

Sicherlich nicht alle. Aber es gibt zwei Berichte, die das annehmen lassen. In dem einen geht es um meinen Besuch in Baden-Württemberg im September 1989, wo ich in Stuttgart Vier-Augen-Gespräche mit Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) und mit der stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden Herta Däubler-Gmelin hatte. Nach meiner Rückkehr warf mir Honecker vor, dass ich in beiden Gesprächen die DDR-Interessen nicht nachdrücklich vertreten habe. Da habe ich mich schon gefragt: Woher wollte er das eigentlich wissen?

Und der zweite Bericht?

Im Januar 1989 habe ich an Erich Honecker im üblichen Monatsbericht darauf aufmerksam gemacht, dass die Konzentration auf die Hauptstadt Berlin immer größere Lücken in die Versorgung in den Bezirken reißt und die Produktion in den Kombinaten oft stillsteht, weil oft Zulieferungen ausbleiben. Es waren die akuten DDR-Probleme, die ich am Beispiel des Bezirkes Dresden ansprach. Diesen Brief hat Honecker an Günter Mittag weitergereicht. Und der schickte eine rund hundertköpfige Kommission vier Wochen lang in den Bezirk Dresden. Sie sollte Belege für meine Unfähigkeit finden, die kluge Politik der Parteizentrale durchzusetzen.

Auch das wusste der BND?

Ja, und er hat Berichte zu meinem Verhalten im Politbüro verfasst, als ich dort im Februar 1989 zu den Untersuchungsergebnissen der Kommission Stellung nehmen musste.

Der BND saß also mit in der Politbürositzung?

Ob er dort mit einem Spion vertreten war oder ob Politbüromitglieder bzw. deren Mitarbeiter vom Bundesnachrichtendienst abgeschöpft wurden, weiß ich nicht. Mir liegt aber eine – wenngleich schlecht lesbare – Kopie einer BND-Verschlusssache vor, in der es unter Bezugnahme auf ein DDR-Dokument heißt, „im Auftrag des Staatsratsvorsitzenden E. Honecker weise ich Sie an, einen Sondervorgang wegen des Verdachtes der Vorbereitung von Hochverratshandlungen gegen den Ersten Bezirkssekretär Modrow zu eröffnen“. Und weiter heißt es dort, „dass Modrow sogar im privaten Bereich (in der Wohnung) abgehört worden war.“

Das heißt, die eigenen Genossen haben Sie bespitzelt, und einer der Spione hat den BND darüber informiert?

Zumindest ist alles reichlich mysteriös. Weder geht aus dem BND-Papier hervor, wer da im Auftrag Honeckers einen sogenannten Sondervorgang eröffnen sollte, noch kann das ein offizielles DDR-Protokoll gewesen sein: Ich war 1. Sekretär der Bezirksleitung Dresden der SED, kein „Erster Bezirkssekretär Modrow.“ Das hätte in einer amtlichen Vorlage nie so falsch gestanden.

Aber Sie vermuten, dass es Mielkes Leute waren?

Der BND-Bericht lässt das vermuten. Hier als Beispiel ein Zitat vom BND: Im ZK-Apparat und im MfS werde „immer wieder auf Modrows vielfältige (von der Partei nicht abgesegnete) Kontakte zu den Sowjets hingewiesen, bei denen ‚sein Freund Wolf‘ eine Sonderrolle“ spiele.

„Ich wollte in den Osten und dort helfen, das Land aufzubauen“: Hans Modrow über das Kriegsende
„Ich wollte in den Osten und dort helfen, das Land aufzubauen“: Hans Modrow über das KriegsendeBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Der Freund Wolf war Markus Wolf?

Ja, der Chef der Hauptverwaltung Aufklärung im MfS. Er hat fast seine gesamte Kindheit und Jugend in der Sowjetunion verbracht. Aber nun kommt es: Mielke, heißt es weiter beim BND, habe „berechtigterweise geschlussfolgert, dass Modrow der ranghöchste Informant in der DDR für die Sowjets sei“. Deshalb habe Mielke auf Weisung Honeckers eine „MfS-Sondergruppe“ ins Leben gerufen, die alle Kontakte Modrows zu den Sowjets habe „kontrollieren“ sollen. Ich kann das nicht für bare Münze nehmen, will aber auch nicht spekulieren, ob das frei erfunden war.

Wir würden aber gerne spekulieren: War der BND-Zuträger vielleicht Günter Mittag höchstpersönlich? Er hat nach der Wende in einem Interview behauptet, dass man ihn verdächtigt habe, ein BND-Spion zu sein.

Der KGB hat ihn lange Zeit verdächtigt, für den BND zu arbeiten – das stimmt. Aber einen konkreten und belastbaren Verdacht gegenüber Mittag hatte der sowjetische Geheimdienst nicht.

Gegen wen dann?

Den hatte man vornehmlich gegenüber Herbert Häber. Der war als Leiter der West-Abteilung im SED-Zentralkomitee viel und meist unbeaufsichtigt in der BRD. Schon allein daraus entwickelte sich, gerade unter den Sowjets, mehr und mehr Misstrauen. Man hat ihn dann von seinen Funktionen entbunden und aus dem Politbüro entlassen. Aber das war weit vor der erwähnten Politbürositzung zum Fall Modrow.

Bleibt die Frage, waren Sie der ranghöchste KGB-Informant in der DDR, wie der BND vermutete?

Ich wurde nie angefragt und habe nie etwas unterschrieben. Ich war kein Informant, sondern ein politischer Freund in vielen Gesprächen.

Haben Sie mal diese BND-Berichte mit dem verglichen, was dazu in ihrer Stasi-Akte steht?

Die Akteneinsicht dazu habe ich bei der Gauck-Behörde beantragt. Fehlanzeige: Entweder gab es kaum etwas oder aber, wovon ich ausgehe, es wurde alles geschreddert. Aber nachdem ich nun die Auskünfte vom BND hatte, habe ich direkt bei Roland Jahn noch einmal angefragt, ob es nicht doch dazu einen Vorgang in seiner Behörde gibt. Vor wenigen Tagen bekam ich einen Anruf einer Archiv-Mitarbeiterin, dass man danach sucht und ich bald Auskunft erhalten kann. Es kann also sein, dass doch noch etwas gefunden wird.

Fragen Sie doch mal bei Ihren russischen Freunden nach, ob es in Moskau Unterlagen dazu gibt.

Ich weiß, dass gleich nach dem Mauerfall Dossiers von drei Personen von der Bezirksverwaltung des MfS zur KGB-Dienststelle in Dresden gebracht worden sind, damit sie nicht verschwinden können. Einer dieser drei Operativen Vorgänge (OPV) betraf mich, ein anderer General Madwedew, der Chef der Residenz in Dresden war, wo auch Putin diente. Die daran beteiligten beiden Stasileute sind tot, und Moskau hat die Hände gehoben.

Woher kommen Ihre guten Beziehungen zu Russland?

Drei Dinge: das Feuer des Zweiten Weltkrieges, die Erfahrungen in der Kriegsgefangenschaft und die Begegnung mit wunderbaren Menschen in der Antifa-Schule.

Dabei waren Sie als 17-Jähriger im Volkssturm für Hitler und danach in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nein. Der sowjetische Hauptmann hat mich ordentlich behandelt, die deutschen Kameraden nicht. Als ich im Lager Bäume fällen und in Moskau in einer Fabrik Säcke schleppen musste, steckten mir die selbst hungernden Russen Brot zu. Und da war auch eine große Lager-Bibliothek, in der ich oft saß und viel gelesen habe. Das wurde bemerkt, weshalb man mich eines Tages fragte: Willst du lernen? Ich wollte. Die Masse der deutschen Kriegsgefangenen war natürlich gegen die Russen, sie wollten fast alle nach der Entlassung in die Westzonen. Ich aber wollte in den Osten und dort helfen, das Land aufzubauen. Das war eine Art Wiedergutmachung.

„Ein Zeitzeuge, der Fakten vorlegt“: Modrow will weitermachen.
„Ein Zeitzeuge, der Fakten vorlegt“: Modrow will weitermachen.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Sie haben sich mit Ihrer Entscheidung für die DDR gegen Ihre Familie, die fast alle in Hamburg und Niedersachsen untergekommen sind, entschieden. Warum?

Nur die Schwester meiner Mutter war in Königs Wusterhausen geblieben, das trifft zu. Allerdings war meine Entscheidung für die Ostzone keine Entscheidung gegen meine Familie. Dass der Kalte Krieg mit seinen Konsequenzen Familien – nicht nur die Familie Modrow – derart brutal trennen würde, war 1949 so doch nicht absehbar. Deutschland war damals in Besatzungszonen, nicht in zwei sich feindlich gegenüberstehende Staaten geteilt.

Haben Sie sich gefreut, als viele Jahre später die Mauer fiel?

Das ist nicht so einfach. Ich habe nicht damit gerechnet und ich konnte mich darüber nicht freuen. Ich war für die Grenzöffnung und ich war für Reisefreiheit, aber geordnet, ich wollte, dass die Grenzen sicher bleiben.

Aus der Zeit nach der Maueröffnung, als Sie Ministerpräsident der DDR waren, ist ein berühmter Satz von Ihnen überliefert. In einem Gespräch mit Wolfgang Berghofer, dem damaligen Oberbürgermeister Dresdens, sollen Sie gesagt haben: „Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige.“ Und die Schuldigen, sagten Sie angeblich auch, sollen die Stasi-Mitarbeiter sein, nicht die SED.

Einen solchen Satz habe ich nie gesagt, für ein solch dummes Manöver hätte ich mich auch nicht hergegeben. Ich hatte damals als Ministerpräsident anderes zu tun, als die SED zu retten. Ich musste die Transformation eines ganzen Staates organisieren. Das war, wenn auch nur für kurze Zeit, meine vornehmliche Aufgabe.

Aber letztlich ist es so passiert. Die Stasi war der Sündenbock.

Irgendeiner muss ja immer schuld sein, um das eigene Handeln zu legitimieren. Ich darf daran erinnern, dass in den Neunzigerjahren etwa 100.000 Ermittlungsverfahren gegen ehemalige DDR-Bürger eingeleitet wurden, darunter mehr als die Hälfte gegen DDR-Juristen – nicht etwa gegen einstige MfS-Mitarbeiter. Am Ende gab es weniger als tausend Verurteilungen, unter denen waren auch einige ehemalige Geheimdienstler.

Sie waren ein halbes Jahr Ministerpräsident. Mehr nicht. Frustriert Sie das im Rückblick?

Was soll mich frustrieren? Dass es mir als Regierungschef gelungen ist, Chaos und Blutvergießen zu verhindern? In anderen Staaten starben Menschen beim Regimewechsel, bei uns gab es keine Gewalt. Was immer vergessen wird: In der DDR standen mehrere Hunderttausend im Staatsdienst und unter Waffen. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass der Übergang friedlich blieb und heute von einer friedlichen Revolution gesprochen wird, weil sie die Waffen abgaben und nicht einsetzten. Wenn ich frustriert bin, dann allenfalls darüber, dass der Beitrag dieser Ostdeutschen völlig ignoriert wird und sie stattdessen jahrelang diffamiert und geschmäht wurden und noch werden.

Aber noch mal: Innerhalb eines halben Jahres sind Sie vom Hoffnungsträger zur Altlast geworden. Waren Sie gar nicht enttäuscht, dass es so schnell vorbei war?

Nein. Es war doch klar, dass meine Partei keine Mehrheit bekommen würde. Politische Ämter sind immer befristet. Zumindest sollte es so sein.

Und wie Sie vom Westen behandelt wurden, von Kohl, war das demütigend?

Nein, denn er musste mich akzeptieren. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Der Abzug der russischen Truppen aus Deutschland. Jelzin und Kohl vereinbarten die Verabschiedung in Weimar, 1992, 93. Die Russen waren entsetzt, Stabschef Kolesnikow sagte zu mir, die Demütigung sei unerträglich. Die Rote Armee habe Weimar nicht befreit, sie sei auch nicht in Buchenwald gewesen, sondern in Berlin, wo die letzte große Schlacht war. Ich habe Kohl im Auswärtigen Ausschuss angesprochen. Und nach 14 Tagen war klar: Die russischen Alliierten werden in Ost-Berlin verabschiedet. Ich habe nie aufgehört, mich mit meinen Möglichkeiten zu engagieren. Aber die überhebliche Haltung gegenüber den Russen ist gleich geblieben. Bis heute. Und das ist die wahre Enttäuschung für mich: Dass ich jetzt in einem Deutschland lebe, das größer geworden ist und in dem ich wieder Furcht vor Krieg habe, weil ich mir nicht hätte vorstellen können, dass die Nato mit ihrem Mitgliedsland Deutschland wieder an einer Grenze steht. Das ist für mich das Fatale und das Schicksal meines Lebens.

Sie meinen die Grenze zu Russland?

Ja. Und selbst wenn es sich nur um ein kleines Bundeswehr-Kontingent handelt, so kann ich doch nicht so tun, als korrespondiere dieses Großmanöver nicht mit der seit Jahren betriebenen Russlandhetze. Und das im 80. Jahr nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Die gleiche Verantwortung, die wir gegenüber den Juden und dem jüdischen Staat wegen des Holocaust demütig wahrnehmen, verdienen auch die Russen und deren Staat. Wir haben mindestens 27 Millionen Bürger der Sowjetunion umgebracht, die meisten davon waren Russen.

Sie sind 93. Was soll in der Geschichtsschreibung über Sie gesagt werden?

Ich befinde nicht, wie über mein Leben geurteilt wird.

Haben Sie etwas bereut, haben Sie Fehler gemacht?

Niemand ist frei von Fehlern.

Welche schreiben Sie sich zu?

Mein größter war, dass ich mit 17 meinte, mein Vaterland gegen die Rote Armee verteidigen zu müssen. Als ich auf dem Weg ins Lager Tausende Kilometer über „verbrannte Erde“ fuhr und sah, was meine Landsleute angerichtet und anderen Völkern angetan hatten, schämte ich mich fast zu Tode.

Und dass Sie so sehr an das System, den Sozialismus geglaubt haben, mit all diesen Widersprüchen, war das kein Fehler?

Nein. Da halte ich es mit dem großen deutschen Dichter Peter Hacks, der der Überzeugung war, dass ein schlechter Sozialismus immer noch besser sei als ein guter Kapitalismus.

Hacks ist tot und eine andere Zeit ist längst angebrochen. Wäre die Sache mit dem Sozialismus anders gelaufen, wenn statt Krenz Modrow Honecker gestürzt hätte?

Manche Protagonisten denken das noch heute und machen mir immer noch Vorwürfe, dass ich mich in den letzten Monaten der DDR mit offener Kritik zu sehr zurückgehalten habe. Aber ich finde, es ergibt wenig Sinn, jetzt die Geschichte mit Konjunktiven zu versehen. Krenz ist Nachfolger von Honecker geworden – der Ausgang ist bekannt.

Haben Sie noch Kontakt zu Egon Krenz?

Wenn wir uns sehen, dann reden wir schon noch miteinander.

Und Lothar de Maizière, wie ist das Verhältnis zu Ihrem Nachfolger?

Ich habe einen Übergang gestaltet, de Maizière hat eine Übergabe und Übernahme organisiert. Er hat Anpassungsgesetze verabschiedet.

Was treibt Sie in Ihrem Alter noch an, sich mit Geheimdienstakten auseinanderzusetzen und weiter Bücher zu schreiben?

Meine Enkel und Urenkel sollen von mir Auskunft über ihre Familie erhalten, über die Geschichte, die mit ihr verbunden ist und welche Rolle ich dabei gespielt habe.

Das treibt Sie an?

Ja, das treibt mich weiter an. Aber auch die Geschichtsklitterung in diesem Lande. Ich will aufzeigen, wer aus meiner Sicht Geschichte klittert. Für die der Staat dann noch zig Millionen von Euro ausgibt.

Sie wollen dagegen anschreiben?

Ich bin kein Geschichtsschreiber, sondern ein Zeitzeuge, der Fakten vorlegt. Historiker sollen dann über das urteilen, was ich zu sagen hatte und noch zu sagen haben werde.