Der Bundespräsident - Reden und Interviews - Verleihung des Schillerpreises der Stadt Mannheim an Emine Sevgi Özdamar

Verleihung des Schillerpreises der Stadt Mannheim an Emine Sevgi Özdamar

Schwerpunktthema: Rede

Mannheim, , 27. November 2022

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 27. November bei der Verleihung des Schillerpreises in Mannheim die Laudatio auf die Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar gehalten: "Deutsch, das ist für Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, die Sprache, in der, wie Sie es so wunderbar beschreiben, die Wörter keine Kindheit haben. Eine Sprache, in der die Wörter keine Kindheit haben – das gilt nicht nur für Sie, sondern für alle, die mit einer anderen Sprache aufgewachsen sind. Und doch entschieden Sie sich für diese Sprache, mit einer Radikalität, die wir alle nur bewundern können."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Übergabe des Schillerpreises der Stadt Mannheim an Emine Sevgi Özdamar in der Kunsthalle Mannheim

Eine Wand sagte: ,Ich werde das Land verlassen. Wie Mari und Diana nach Europa wandern.‘ Die andere Wand sagte: ,Gut, zieh nur hin. Wohlan, hetz dich ab, wie ein schneller Hund, renn hin zu diesem Europa.‘ Die dritte Wand, vor der ich im Bett lag, sagte: ,Ach mein Kind, wie jung ist dein Blut, so gastfreundlich für verrückte Taten.‘ Dann schlägt die Wanduhr des Nachbarn zweimal und die Erzählerin spricht es laut aus: ‘Ich werde gehen.‘

Welche erzählerische Kraft, welche Phantasie entfalten sich in diesen wenigen Sätzen. Welches Panorama öffnen Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, schon gleich zu Anfang Ihres jüngsten Romans Ein von Schatten begrenzter Raum. Eine Kirche, Krähen, Moskitos, die alle sprechen können. Ein Anfang und ein Ende wie in einer griechischen Tragödie, auf einer kleinen türkischen Insel gegenüber von Lesbos: Die Türkei und Europa, dieser Spannungsbogen ist hier schon weit geöffnet. Und es geht hier schon um große Fragen, die die Menschen immer umgetrieben haben: Gehen oder Bleiben, Vertrautes und Fremdes, Vertreibung und Verlust. Schon diese ersten Seiten haben mich tief berührt, haben mich hineingezogen in diese Geschichte voller Geschichten. Sicher ist es vielen von Ihnen hier im Saal genauso gegangen, die dieses wunderbare Buch gelesen haben.

Liebe Gäste, es ist mir eine ganz besondere Ehre und eine große Freude, heute die Laudatio zur Verleihung des Schillerpreises der Stadt Mannheim zu halten. Haben Sie ganz herzlichen Dank für die Einladung! Und das Wichtigste vorneweg: Schon an dieser Stelle meinen herzlichen Glückwunsch an Sie, die Trägerin des Schillerpreises von Mannheim! Herzlichen Glückwunsch, liebe, verehrte Emine Sevgi Özdamar!

Liebe Emine Sevgi Özdamar, ich erinnere mich gut an unsere letzte Begegnung, im Februar 2020. Damals waren Sie zu Gast bei einer Veranstaltung in Schloss Bellevue. Zu einem Heimatabend hatte ich eingeladen. Und natürlich war es ein Heimatabend der etwas anderen Art: Es ging um die Literatur, Kunst, Musik von Menschen, deren Familien nicht schon seit Generationen in Deutschland leben; Menschen, die in unser Land gekommen sind – und um die Frage, was Heimat bedeutet. Heimat, dieses so deutsche Wort.

Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, haben damals aus Ihrer Erzählung Berlin, Stadt der Vögel gelesen. Die Erzählerin schildert darin, wie sie vor Jahrzehnten zum ersten Mal nach Berlin kam und die Stadt ihr wie ein Bühnenbild erschien, wie ein begrenzter Raum – ein Bild, das Sie offenbar schon lange begleitet. Berlin, das war eine graue, müde Stadt, mit Lücken in den Häuserreihen, Einschusslöchern in den Wänden und einsamen alten Frauen in den Parks. Die wenigen Ausländer saßen dort wie bunte Vögel auf den Bäumen, schreiben Sie.

Welche poetische Kraft auch hier, liebe Emine Sevgi Özdamar. Eine Kraft, die an jenem Abend alle in ihren Bann gezogen hat. Es war still, sehr still, als Sie lasen. Denn es ging ja um Ihr Lebensthema und das der meisten Gäste: Grenzen zu überschreiten und zu überwinden, die Heimat zu verlassen, eine neue Heimat zu finden, vielleicht auch mehrere Heimaten im Herzen zu tragen.

Dass man Grenzen akzeptieren muss, dass man sie aber auch überschreiten, überwinden, sich von ihnen befreien und sich über sie hinwegsetzen und dann sehr frei sein kann, das gehört zu den existentiellen Erfahrungen im Leben und ganz besonders auch zu Ihrem Leben. Und vielleicht liegt darin ja eine Annäherung an Ihr Werk, liebe Emine Sevgi Özdamar. Denn um Grenzen, um die geht es in Ihrem Leben – und in Ihrem künstlerischen Schaffen. Sie haben viele Grenzen überschritten und überwunden: geographische, politische, aber auch kulturelle, ästhetische, sprachliche. Räume sind von Schatten begrenzt und die Menschen darin werden von diesen Schatten bedrängt. Aber ihre Konturen, ihre Identität werden dadurch umso deutlicher. In diesen Räumen, mit diesen Räumen eröffnen sich auch ganz neue Möglichkeiten, neue Freiheiten.

Mitte der 1970er Jahre verließen Sie als junge Schauspielerin die Türkei und gingen wieder nach Deutschland, wieder nach Berlin, in das geteilte und vom Krieg gezeichnete Berlin, wo Sie schon einmal als sehr junge Frau gelebt hatten. Nach dem Militärputsch verdunkelten Gewalt, Unfreiheit und Willkür den Alltag bis in den letzten Winkel hinein. Die Türkei war jetzt wieder ein Land, wo das Töten erlaubt war. Ich werde gehen, sagt die Erzählerin in ihrem neuesten Roman – trotz all der widerstreitenden Gefühle, die sie hat. Und gegangen sind auch Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar. Gehen, das hieß damals, Ihre Familie, Ihr Land, Ihre Sprache zu verlassen. Dass Sie sehr viel später im Leben zumindest teilweise wieder in der Türkei leben würden, auf eben jener Insel im Mittelmeer, das wussten Sie damals noch nicht.

Erlauben Sie mir einen kleinen Sprung zurück in die Geschichte, in das Deutschland der Kleinstaaten und Fürsten. Die völlige Trennung von Vaterland und Familie, die beschrieb auch ein junger Mann fast 200 Jahre bevor Sie damals die Türkei verließen, liebe Emine Sevgi Özdamar. Dieser junge Mann floh hierher nach Mannheim, um Unfreiheit, Willkür und Haft zu entkommen – erstaunliche Parallelen. Auch der noch vollkommen unbekannte Friedrich Schiller überwand damals Grenzen, geographische, in einem Deutschland der Kleinstaaten, aber auch ästhetische und sprachliche – mit seinem hier uraufgeführten Erstlingswerk Die Räuber. Es wurde zur Sensation.

Und es gibt noch eine Linie, die sich zu Friedrich Schiller ziehen lässt: die Leidenschaft für das Theater. Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, heißt es in Schillers Schriften über die ästhetische Erziehung des Menschen.

Zu spielen und ganz Mensch zu sein, erst am Theater, später in Filmen, das hat Ihr Leben und Ihr künstlerisches Werk geprägt, liebe Emine Sevgi Özdamar. In der Türkei, wo Sie mit zwölf Jahren zum ersten Mal auf einer großen Bühne standen und später die Schauspielschule in Istanbul besucht haben. In Berlin, wo Sie mit Benno Besson und Matthias Langhoff an der Volksbühne arbeiteten, im damaligen Ostberlin. Auch da überwanden Sie eine Grenze, eine, die besonders schwer zu überwinden war: die Mauer. Sie lebten in Westberlin und arbeiteten in Ostberlin, gingen in der geteilten Stadt hin und her mit großer Selbstverständlichkeit. Und: Selbstverständlich wurde dort auf Deutsch inszeniert. Jener Sprache also, von der Sie kein Wort verstanden, als Sie 1965, mit 18 Jahren, zum ersten Mal nach Deutschland gekommen waren.

Es war das Deutschland, in das nach dem Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland aus dem Jahr 1961 Zehntausende von Menschen in überfüllten Zügen ankamen, um hier zu arbeiten. Gastarbeiter nannten wir Deutsche sie damals, bevor Max Frisch uns aufklärte: Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.

Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, haben dieses zusammengesetzte Wort wunderbar ironisch und lakonisch zugleich in seine Bestandteile zerlegt: Bei einem Gastarbeiter denken Sie an zwei Personen, an einen Gast und einen, der arbeitet. Eine Erfahrung, die Sie auch selbst gemacht und später literarisch umgesetzt haben. Ein paar Monate lang verdienten Sie Ihr Geld in einer Fabrik in Westberlin. Ihr Weg führte Sie dann noch einmal zurück in die Türkei und dann eben wieder nach Berlin. Denn Sie träumten von etwas anderem: zu spielen und ganz Mensch zu sein.

Es folgten Aufenthalte in Paris, in Avignon, in Bochum, Frankfurt, Düsseldorf, wo Sie als Schauspielerin, Regisseurin und Autorin arbeiteten – und all diesen Orten und all den Menschen, denen Sie dort begegnet sind, begegnen auch wir zuerst in Ihren Theaterstücken und später in Ihren Romanen.

In Ein von Schatten begrenzter Raum begegnen wir ihnen noch einmal neu. Welch fulminantes Erinnerungswerk! Wenn ich von einem Roman spreche, ist auch das nur eine Annäherung. Denn Sie sprengen in diesem Buch das Genre Roman virtuos. Sie spielen mit eigener Erinnerung und literarischer Erzählung und lassen mit der Sprache etwas ganz Neues entstehen: mit Ihrer sehr eigenen, funkelnden, poetischen, traurigen und sehr komischen, kurzum Ihrer überbordenden Sprache!

Dieses Werk nimmt uns mit auf eine Reise zwischen der Türkei, Deutschland und Frankreich, es entführt uns in so viele Welten und ist bevölkert von so vielen Menschen, dass einem manchmal fast schwindelig werden kann. Immer sind Sie den Menschen, Ihren Figuren zutiefst zugewandt. Und immer sehen wir als Leserinnen und Leser all diese Welten und Menschen mit einem fremden und vertrauten Blick zugleich, der sich die Welt anverwandelt. Einem Blick, wie man ihn wohl nur haben kann, wenn man sich wie Sie zwischen all diesen Welten ständig hin- und herbewegt und in mehreren Ländern, an vielen Orten gewohnt, ja vielleicht sogar seine Heimat hat.

Heimat, dieser in der deutschen Geschichte so oft missbrauchte Begriff, lässt sich nicht leicht fassen und schon gar nicht verordnen. Es ist ein schillernder Begriff, einer, der sich mit Gefühlen, Erinnerung und Vertrautheit verbindet, mit Orten und Menschen, mit Gerüchen, Essen, der Sprache. Menschen sind in der Geschichte immer gewandert. Und auch in unser Land wandern seit Jahrhunderten – und vor allem in den letzten Jahrzehnten – Menschen zu. Sie suchen hier eine neue Heimat. Und sie alle bringen ihre Heimat mit. Ich bleibe überzeugt, dass ein Mensch mehrere Heimaten haben kann, die er im Herzen trägt. Heimat gibt es auch im Plural!

Und so habe ich auch Ihr Buch gelesen, liebe Emine Sevgi Özdamar. Dieses Buch ist auch eine Suche nach einer längst vergangenen, einer für Sie – oder die Erzählerin – auch sehr glücklichen Zeit. Sie entführen uns darin in das graue Berlin der Mauerjahre – und in die im Gegensatz dazu für Sie flirrende Bohème im Paris der Siebziger und Achtziger. Ein Paris, das noch nicht erschüttert wurde von islamistischen Terroranschlägen. Sie entführen uns in ein Nachkriegseuropa, das zumindest westlich des Eisernen Vorhangs geprägt war vom Glauben an Utopien und an die Kraft der Kunst. In diesem Teil Europas machte im Rückblick von heute aus die Hölle eine Pause, so beschreiben Sie es. Aber es ist auch ein Europa der Exilanten und der Fremdheit. Eines der Toten und der Trauer.

Mit Sprache etwas Neues schaffen, das ist der Kunst vorbehalten. Aber was bedeutet es, sich eine fremde Sprache so anzueignen, dass man sich in ihr nicht nur verständigen kann, sondern dass man in dieser Sprache lebt, träumt, arbeitet, schreibt? Dass man in dieser neuen Sprache zur Künstlerin wird?

In Ihrem Roman Die Brücke vom Goldenen Horn schildert die Ich-Erzählerin, was ihre ersten deutschen Wörter waren, um in Berlin Zucker, Salz und Eier zu kaufen: Schak Schak, eee, gak gak gak. Ich, der ich in Deutschland aufgewachsen bin und immer Deutsch gesprochen, gelesen, gedacht habe, kann kaum ermessen, welch weiter Weg es war bis zu Ihren so kunstvollen Büchern, liebe Emine Sevgi Özdamar, bis zu einer mit bedeutenden Literaturpreisen gekrönten Schriftstellerin.

Deutsch, das ist für Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, die Sprache, in der, wie Sie es so wunderbar beschreiben, die Wörter keine Kindheit haben. Eine Sprache, in der die Wörter keine Kindheit haben – das gilt nicht nur für Sie, sondern für alle, die mit einer anderen Sprache aufgewachsen sind. Und doch entschieden Sie sich für diese Sprache, mit einer Radikalität, die wir alle nur bewundern können.

Sie verschlangen deutsche Theaterstücke, die deutsche Literatur. Sie wohnen, so haben Sie es immer wieder gesagt, in deutschen Schriftstellerinnen und Dramatikern: in Heinrich Heine, Bertolt Brecht, Heinrich Böll, Herbert Achternbusch, Franz-Xaver Kroetz, Thomas Brasch, Hannah Arendt und vielen anderen mehr. Sie wurden Ihnen zur Heimat. Ich liebte es, in einem Land zu leben, das lebensfähig war, schreiben Sie. Ich hatte ja kein lebensfähiges Land. Deswegen wohnte ich jetzt in deutschen Schriftstellern. Eine schönere und zugleich traurigere Liebeserklärung kann ich mir nur schwer vorstellen.

Die Sprache, die Muttersprache, die Mutterzunge zu verlieren, das ist eine existentielle Erfahrung für jeden Menschen, der sein Land verlassen muss, und das gilt erst recht für Schriftstellerinnen und Schriftsteller. In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin, heißt es in Ihrem ersten Erzählband Mutterzunge.

Wie verzweifelt waren deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Klaus und Thomas Mann, Nelly Sachs, Mascha Kaléko, Hilde Domin, Stefan Zweig und viele andere, die vor dem Nationalsozialimus fliehen mussten, weil sie ihre Sprache, ihre Muttersprache, die Sprache, in der sie dachten, sprachen, schrieben, verloren hatten. Das Vaterland kann man verlieren, aber die Muttersprache ist der unverlierbare Besitz, die Heimat der Heimatlosen, schrieb Klaus Mann im Exil.

Heute, in einer globalisierten Welt, ist es selbstverständlicher als damals, dass Menschen mehrere Sprachen sprechen. Aber die Sprache und damit ein Stück der eigenen Identität zu verlieren, das ist und bleibt eine existentielle Erfahrung, die in vielen Werken unserer neueren Literatur eine Rolle spielt. Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, Sie haben eine neue Sprache gefunden – und das im doppelten Sinne. Sie waren eine der ersten Schriftstellerinnen aus der Türkei, die auf Deutsch schreiben. Schreiben? Auch das ist nur eine Annäherung.

Wenn ich mir dieses Bild zu eigen machen darf: Sie wohnen in der deutschen Sprache und das so meisterhaft wie nur wenige, deren Muttersprache Deutsch ist. Und auch wenn Sie sich selbst nicht in dieser Rolle sehen: Sie haben damit viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller in unserem Land inspiriert und ihnen Mut gemacht, deren Mutterzunge ebenfalls nicht Deutsch ist und deren Werke heute unsere Literatur bereichern. Und das zu einer Zeit, als der Begriff migrantisch oder migrantische Literatur noch längst nicht gebräuchlich war. Die Entscheidung für die Literatur habe ich auch Emine Sevgi Özdamar zu verdanken, schrieb erst kürzlich der in diesem Jahr mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnete Dichter Dinçer Güçyeter.

Aber: Ihre Kunst mit dem Stempel migrantische Literatur zu versehen, auch damit würde man Ihnen in keiner Weise gerecht – und auch nicht den vielen anderen Künstlerinnen und Künstlern, die aus unserer Literatur gar nicht mehr wegzudenken sind. Solche Stereotypen und Denkmuster haben viel zu lange unsere Wahrnehmung geprägt. So ironisch wie scharfsinnig haben Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, mit dem Bild gespielt, das sich viele Deutsche von Ihnen gemacht haben – und wenn ich sage spielen, ist das nicht nur literarisch, sondern auch ganz wörtlich zu verstehen: Als türkische Frau in Deutschland waren Sie immer sofort die türkische Putzfrau – anders konnte es ja gar nicht sein, selbst als Schauspielerin auf der Bühne. Und Sie haben sie gespielt, diese türkische Putzfrau, uns, den Deutschen, mit Ironie und Witz den Spiegel vorgehalten!

Mit Stereotypen belegt zu werden, auf Ablehnung als Fremde zu stoßen, diskriminiert, diffamiert, ausgegrenzt oder gar Opfer von Hass und Gewalt zu werden: Das ist eine Erfahrung, die viele Menschen, die zu uns nach Deutschland gekommen sind, teilen. In der Fremde wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, weil er andauernd daran erinnert wird, dass er fremd ist, warnt auch der Chor der Krähen in Ein von Schatten begrenzter Raum.

Auch Menschen, die schon in der zweiten, dritten oder vierten Generation hier leben, berichten mir immer wieder, wie sehr sie darunter leiden, als Fremde betrachtet, nicht als Teil unserer Gesellschaft anerkannt zu werden.

Die Menschen, die zu uns gekommen sind, haben nicht nur sich verändert. Das mussten sie. Sie haben auch unser Land, sie haben uns verändert. Ohne sie wäre Deutschland nach dem Krieg nicht zu Wohlstand gekommen. Sie alle haben auch unsere Kultur, unsere Musik und Literatur, unsere Küche, unsere Lebensgewohnheiten verändert und bereichert. Sie haben Deutschland zu einem offeneren und vielfältigeren Land gemacht. Heute sind wir nicht ein Land, in dem Menschen mit Migrationshintergrund leben. Nein, wir sind ein Land mit Migrationshintergrund! Eine Realität, zu der sich die Deutschen erst spät bekennen sollten.

Alle, die zu uns gekommen sind, haben ihre Geschichte und ihre Geschichten mitgebracht. Aber sie werden noch immer viel zu wenig gehört. Ich bin überzeugt, dass ihre Geschichten viel stärker Teil unseres gemeinsamen Wir werden müssen. Ihre Geschichten sind ein Teil von uns. Sie sind Teil unserer Geschichte, unserer gemeinsamen Geschichte.

Literatur ist Gedächtnis, hat es Franco Biondi, der ebenfalls in Deutschland lebende und aus Italien stammende Schriftsteller, einmal formuliert. Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, Sie haben uns Ihre Geschichte und so viele wunderbare Geschichten geschenkt. Und Sie schenken uns noch etwas: Gedächtnis und eine ganz eigene Geschichte unserer Geschichte. Eine, die unsere Literatur und damit uns alle so viel reicher macht. Dafür möchte ich Ihnen heute von ganzem Herzen danken. Ich gratuliere Ihnen zum Schillerpreis. Und wenn ich mir noch etwas wünschen darf: Schenken Sie uns bitte noch viele funkelnde, poetische, traurige und komische, überbordende Geschichten! Lassen Sie uns als Leserinnen und Leser noch in vielen Ihrer Geschichten wohnen, liebe Emine Sevgi Özdamar.