Der Vorsitzende der Allianz der Liberalen und Demokraten, Guy Verhofstadt, fordert ein stärkeres Europa. Er ist einer der möglichen Nachfolger von Jean-Claude Juncker für das Amt des Europäischen Kommissionspräsidenten.
**Im Vorfeld der Europawahlen interviewt euronews die SpitzenkandidatInnen für das Amt des/der EU-KommissionspräsidentIn. Dieses Mal zu Gast bei "Raw Questions": Guy Verhofstadt, Vorsitzender der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE).
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Fast ein Jahrzehnt lang war er Premierminister seines Heimatlandes Belgien. 2003 führte er die gleichgeschlechtliche Ehe ein. Auf der Weltbühne erteilte er den Briten und Amerikanern eine Absage für den Einmarsch in den Irak. Guy Verhofstadt ist eines der bekanntesten Gesichter des Europäischen Parlaments und einer der europäischen Unterhändler für den Brexit. Er glaubt an eine gemeinsame europäische Antwort auf die Flüchtlingskrise, ist Verfechter sauberer Energie - und er will die gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranbringen.
Darren McCaffrey: Es ist für jeden offensichtlich, dass Sie in vielerlei Hinsicht einen beeindruckenden Lebenslauf haben. Aber ist es nicht eher hinderlich, dass Sie eine Art etablierter Berufspolitiker sind, der mit dem Otto-Normal-Verbraucher wenig gemein hat.
Guy Verhofstadt: Das stimmt. Ich habe in meinem Leben nichts anderes als Politik gemacht. In Gent fing alles an... Ich war Gemeinderat - danach ging ich in die Landespolitik. Sie haben recht, das Einzige von dem ich Ahnung habe, ist die Politik. Aber ich bin der Meinung, dass das kein Problem ist. Es geht mehr um die eigene Einstellung. Ich versuche, Politik mit Leidenschaft zu machen - Visionen zu haben. Ich bin davon überzeugt, dass das die beiden Dinge sind, die einen guten Politiker ausmachen; nicht der öffentlichen Meinung hinterherlaufen, sondern versuchen, die öffentliche Meinung mitzugestalten.
Migration
Frage aus dem Publikum: Sie haben im Parlament öfter von einer politischen Krise gesprochen, die auf dem Rücken der Migranten ausgetragen wird. Wissenschaftliche Daten belegen, dass diese Krise tatsächlich einen ganz anderen Ursprung hat. Wie würden Sie dieses Problem als Präsident der Europäischen Kommission lösen?
Guy Verhofstadt: Diese Krise hat ihren Ursprung vor allem in einem Mangel europäischer Politik. Deshalb zeigen Nationalisten und Populisten mit dem Finger auf Europa. Es gibt keine europäische Küstenwache und kein europäisches Asylsystem, denn das Dublin-Verfahren ist im Prinzip das Gegenteil einer europäischen Lösung. Es gibt kein europäisches Migrationssystem - keinen legalen Weg nach Europa. Das Erste, was ich tun würde, wäre zu versuchen, die Tragödien im Mittelmeer mit diesen drei genannten Punkten zu verhindern.
Darren McCaffrey: Aber eine Sache, die sie nicht genannt haben, ist, dass es gar keinen gemeinsamen europäischen Kurs oder zumindest eine entsprechende Einigung gibt. Vor dem Hintergrund Ihrer Haltung gegenüber populistischen Politikern - zum Beispiel in Italien oder Ungarn - wie würden Sie es schaffen, Europa von einer gemeinsamen Migrationspolitik zu überzeugen?
Guy Verhofstadt: Unter Einsatz der Mehrheitsregel. All das, was der Europäische Rat heute tut, setzt einen Konsens voraus - das haben die Mitgliedstaaten so beschlossen. Aber eine absolute Übereinkunft werden wir nicht erreichen. Es wird immer ein Land geben, dass nicht hinter einer bestimmten Politik steht. Deshalb hilft nur eine Mehrheitsentscheidung. Wenn wir die Mehrheitsregel anwenden, können wir die Europäische Küstenwache durchsetzen, das Dublin-Verfahren und das Asylsystem reformieren - und in Sachen Wirtschaftsmigration vorankommen.
Tesa Arcilla: Wir haben volle Boote gesehen, in denen man auf Rettung wartete, wir haben geschlossene Grenzen gesehen. Was sagen Sie den Verantwortlichen?
Guy Verhofstadt: Es ist ein Skandal, Politik auf dem Rücken der Menschen zu betreiben. Die meisten dieser Menschen leiden, sie fliehen vor Kriegen, leben in Armut. Der einzige Ausweg ist, Kriegsflüchtlingen anzubieten, Asyl nicht nur in Europa, sondern auch in Konsulaten und Botschaften außerhalb der EU beantragen zu können - in Ägypten, in Lybien. Nur so laufen sie Schlepperbanden nicht in die Arme.
Vereinigte Staaten von Europa
Zuschauerfrage per Facebook: Werden wir jemals die "Vereinigten Staaten von Europa" werden?
Guy Verhofstadt: Das erste Buch, das ich über Europa veröffentlicht habe, war 2005/2006. Der Titel lautete "Vereinigte Staaten von Europa". Ich war noch Mitglied des Europäischen Rates und Premierminister - und meine Kollegen sagten: "Du bist verrückt, Verhofstadt, Du willst die "Vereinigten Staaten von Europa" gründen? Aber diese Idee ist nicht neu. Sie geht, soweit ich weiß, auf Victor Hugo zurück. Er sagte im 19. Jahrhundert: "Die Zukunft dieses Kontinents sind die Vereinigten Staaten von Europa."
Tesa Arcilla: Aber die meisten Länder wachsen wirtschaftlich nicht gleich schnell. Nich überall gibt es einen gleich ausgeprägten Rechtsstaat. Wie soll das mit den "Vereinigten Staaten von Europa" also funktionieren?
Guy Verhofstadt: So wie in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Tesa Arcilla: Naja, dort gibt es nicht viele verschiedene Länder mit unterschiedlichem Hintergrund.
Guy Verhofstadt: Das stimmt nicht. Dort gibt es 50 verschiedene Staaten, 50 verschiedene Flaggen und 50 verschiedene Armeen. Es gibt sogar Unterschiede in Sachen Todesstrafe, die wir in Europa nicht haben. Die "Vereinigten Staaten von Europa" sind eine Möglichkeit, gemeinsam auf europäischer Ebene zu handeln, indem gleichzeitig die Autonomie der Mitgliedstaaten anerkannt und garantiert wird. Ich bin gegen einen Superstaat. Ich will kein System, in dem Brüssel alles entscheidet. Ich wünsche mir ein System, mit einem Mehrwert auf europäischer Ebene.
Darren McCaffrey: Aber verlieren Sie diesen Kampf nicht gerade? Es gibt immer mehr Europaskeptiker. Das zweitgrößte Land der Europäischen Union steht kurz davor, die EU zu verlassen. Das Ende vom Lied könnte sein, dass Sie Teil einer Minderheit in Europa sind, wo die Menschen nicht in den "Vereinigten Staaten von Europa" leben wollen.
Guy Verhofstadt: Im Gegenteil. Der Brexit hat dafür gesorgt, dass es in jedem EU-Land eine große Mehrheit für dieses europäische Projekt gibt. Die Menschen sind nicht gegen den europäischen Traum - sie haben etwas gegen die Art und Weise, wie wir dieses gemeinsame Europa aktuell in der EU umsetzen. Sie sagen, dass wir es nicht schaffen, dem europäischen Gedanken auch echte Taten folgen zu lassen - zum Beispiel in der Migrationspolitik oder auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das Schlimme ist, dass Populisten und Nationalisten sagen, dass sie nicht mehr Teil der Europäischen Union sein wollen.
Darren McCaffrey: Können Sie die Sorgen der Wähler nachvollziehen, die ihr Kreuz jetzt bei rechtsextremen und populistischen Parteien setzen, weil Sie mit dem Kurs der EU nicht zufrieden sind und die europäische Politik in Bereichen wie der Migration nicht verstehen?
Guy Verhofstadt: Ich bin mit dem Kurs der Europäischen Union auch nicht zufrieden. Das ist der Grund, warum ich sage, dass ich vielleicht der größte Europaskeptiker innerhalb der Europäischen Union bin. Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Union das 21. Jahrhundert in diesem Zustand nicht überleben wird.
Es kann aber nicht die Lösung sein, in nationalistische und populistische Rhetorik des 20. Jahrhunderts zu verfallen. Wir müssen die Europäische Union reformieren, das heißt zum Beispiel die Europäische Kommission durch eine kleine europäische Regierung ersetzen. Das heißt aber auch, die Ausgaben für das Militär müssen gesenkt werden - durch das Einführen einer gemeinsamen europäischen Armee. Und: Der schlechten Migrationspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten muss ein Ende gesetzt werden - in Form eines echten europäischen Grenzschutzes.
Darren McCaffrey: Also noch mehr Europa.
Guy Verhofstadt: Nein, ich sage genau das Gegenteil. Statt einer Europäischen Kommission mit 28 Kommissaren brauchen wir eine Regierung mit maximal 15 Ministern. Dadurch wird die EU nicht mächtiger, sondern effektiver.
Klima
Zuschauerfrage per Video: Wir stecken momentan in einer tiefen Klima-Krise und es wurde nichts getan, um das zu verhindern. Was wird Ihre Partei auf eurpäischer Ebene tun, um einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden?
Tesa Arcilla: Klima wird mehr und mehr zum Wahlkampfthema. Was werden Sie gegen den Klimawandel tun?
Guy Verhofstadt: Wir wollen von einer defensiven hin zu einer offensiven Klimapolitik. Das heißt der Klimawandel muss bei allen Vereinbarungen mit Europa Berücksichtigung finden. Unsere Stärke ist ein riesengroßer gemeinsamer Markt mit bis zu 500 Millionen Menschen. Bei Verhandlungen mit den USA und China müssen wir unser Gewicht nutzen und zum Beispiel zu Trump sagen: "Wenn Ihr ein Freihandelsabkommen mit uns wollt, müsst ihr das Pariser Klimaabkommen umsetzen."
Tesa Arcilla: Was er nie tun wird.
Guy Verhofstadt: Schon bald könnte es einen neuen amerikanischen Präsidenten geben. Und wenn wir diese Karte nicht ausspielen, wird er seine Ansichten niemals ändern. Das ist also das Erste, was wir tun müssen. Das Zweite ist Vorzeige-Unternehmen aufzubauen, die umweltbewusst handeln; zum Beispiel in den Bereichen Batterie-Herstellung, Wasserstoffantrieb oder auch auf dem Gebiet der Lebensmittelproduktion, damit Tiere nicht mehr leiden müssen.
Brexit
Darren McCaffrey: Brexit-Befürworter, allen voran Jacob Rees-Mogg, sagen, sie sollten - wie letzte Woche - öfter nach Großbritannien reisen. Ihr Wahlkampf dort würde in der britischen Bevölkerung für mehr Zustimmung zum Brexit sorgen.
Guy Verhofstadt: Ich war dort, um Vince Cable und die Liberalen und Demokraten für Europa zu unterstützen. Wir haben viel positive Rückmeldung bekommen, aber auch negative - natürlich von Brexit-Befürwortern. Sie mögen die Liberalen und Demokraten und meine Einstellung zum Brexit nicht.
Ich habe festgestellt, dass die Konservativen abgestraft werden. Es zeigt sich aber auch, eine Konzentration pro-europäischer Wähler. Ich denke also, dass es einen großen Kampf bei dieser Wahl geben wird - ein großer Kampf zwischen den Brexit-Befürwortern und -Gegnern. Das ist Demokratie. Wir werden sehen.
Zuschauerfrage per Video: Sie haben gesagt, dass sie Vince Cable unterstützt haben, um ein klares Signal an die Menschen in Europa zu senden: Folgt nicht dem britischen Beispiel! Was gibt Ihnen Ihrer Meinung nach das Recht, den EU-Bürgern in gewisser Weise zu drohen und sich in die demokratischen Prozesse souveräner Staaten einzumischen?
Guy Verhofstadt: Es sind Europawahlen! Ich bin Europäer, Vince Cable ist Europäer... Das ist eine schräge Frage, denn die Menschen in Großbritannien denken, dass es bei der Europawahl nur um Großbritannien geht.
Darren McCaffrey: Ist das nicht der Punkt, warum Großbritannien sich für den Brext entschieden hat?
Guy Verhofstadt: Ja, aber genau das ist das Problem. Die Briten wissen nicht, wie sie die EU verlassen sollen. Ich habe solch eine Situation noch nie erlebt - in keinem Land, in keinem Parlament... Sie sind immer gegen, aber nie für etwas. Sie stimmen für einen geordneten Brexit, dann wieder dagegen. Sie stimmen gegen die Zollunion und den Binnenmarkt, aber sie haben nie gesagt, was sie eigentlich wollen.
Tesa Arcilla: Sie sprechen über die Politiker, klar... Aber Sie können die eigentlich gestellte Frage nicht einfach so unbeantwortet stehen lassen.
Guy Verhofstadt: Nochmal: Es sind Europawahlen und Europawahlen sind für alle Europäer gedacht.
Darren McCaffrey: Aber die Frage ist: Ist das, was Sie tun, hilfreich?
Guy Verhofstadt: Tatsache ist, dass wir in Europa sagen, dass Großbritannien vielleicht beschließt, aus der Europäischen Union auszutreten. Aber wir werden nie zulassen, dass die Brexit-Befürworter die Europäische Union zerstören. Einige Brexit-Befürworter sagen ganz offen: "Das Einzige, was wir wollen, ist das Ende der Europäischen Union." Das werden wir niemals zulassen.