Deterritorialisierungen des Begehrens

Esther Hutfless | Essay |

Deterritorialisierungen des Begehrens

Zur Aktualität von Guy Hocquenghems „queerer“ Kritik an der Psychoanalyse

Als zentrales Werk der französischen Schwulenbewegung ist Das homosexuelle Begehren von Guy Hocquenghem in theoretischen Diskursen verortet, die später für die Entwicklung der Queer Theory wichtig werden sollten: der Macht- und Diskurskritik des französischen Poststrukturalismus der 1970er- und 1980er-Jahre. Diese Strömungen sind vor allem durch ihre Kritik an metaphysischen und essenzialistischen Konzepten, am transzendentalen Subjektbegriff, an der Konzeption von Wahrheit und an binär-hierarchischen Oppositionen gekennzeichnet, wie sie sich etwa in den Gegenüberstellungen von männlich/weiblich, homo-/heterosexuell, normal/pathologisch, Vernunft/Wahnsinn, Natur/Kultur etc. finden. Im Unterschied zu und in Kritik an diesen binären Schemata betonen poststrukturalistische Ansätze den Einfluss von Sprache und Diskurs auf die Konstituierung von Subjektivität und Bedeutung, sie verweisen auf die Instabilität und Fragilität des Subjekts, der Identität und des Bewusstseins. Beeinflusst wurde der Poststrukturalismus unter anderem durch die Rezeption psychoanalytischer Subjekttheorien, die davon ausgehen, „daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“,[1] sondern von Unbewusstem – von Triebgeschehen, Konflikten, Ängsten, etc. – durchzogen ist. Die Psychoanalyse wurde von poststrukturalistischen Theorien jedoch nicht kritiklos aufgegriffen. Kritik wurde vor allem da formuliert, wo die Psychoanalyse selbst Ideologien fortgeschrieben hat und zu einem regulierenden Machtdiskurs geworden ist.[2] In diesem Kontext kann auch Hocquenghems Das homosexuelle Begehren gelesen werden. Seine Perspektive auf die Psychoanalyse ist, ausgehend von seiner Bezugnahme auf Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Anti-Ödipus, einerseits sehr kritisch; andererseits greift er aber auch auf psychoanalytische Konzepte zurück und versucht diese innerhalb seines Denkens produktiv zu machen. So wird etwa Freuds Modell der polymorphen frühkindlichen Sexualität zur konzeptuellen Grundlage für Hocquenghems Begriff des (homosexuellen) Begehrens. Dieses wird zum kritischen Gegenpol zu Vorstellungen von „reifer“ Sexualität und Subjektivität, wie sie die Psychoanalyse ausgehend von „günstigen“ Ausgängen des Ödipuskomplexes denkt. Hocquenghems Begehrenskonzeption verweist damit gewissermaßen auf etwas „Ursprüngliches“, etwas, das unabhängig von gesellschaftlichen Diskursen, unabhängig von der Existenz und vom Einfluss anderer im weitesten Sinne zirkuliert. Diese Unabhängigkeit des (homosexuellen) Begehrens kann mit dem Begriff der Deterritorialisierung gefasst werden.

Inwiefern lassen sich ausgehend von Hocquenghems identitätskritischem Denken, das ihn zu einem Vorreiter der Queer Theory macht, und seiner scharfen und nach wie vor berechtigten Kritik an der Heteronormativität der Psychoanalyse sowie an ihrer Positionierung als Machtdiskurs Perspektiven in Richtung einer queeren Psychoanalyse entwerfen? Und welche Problematiken ergeben sich ausgehend von seiner Konzeption des Begehrens als Ursprüngliches, Außerdiskursives, Deterritoralisiertes in Hinblick auf ein produktives Zusammendenken von Hocquenghems kritischem Ansatz mit der Psychoanalyse?

Von Freuds polymorpher Sexualität zu Hocquenghems „homosexuellem Begehren“

Die Psychoanalyse – insbesondere die französische Psychoanalyse der 1950er- bis 1980er-Jahre – war durch homophobe und pathologisierende Diskurse geprägt.[3] Diese Pathologisierungen ebenso wie die Homo-, Queer- und Transphobie sind noch heute in psychoanalytischen Theorien präsent, wirken auch in der psychoanalytischen Klinik und werden nach wie vor zu wenig kritisch hinterfragt.[4] Vielfach ist in der Psychoanalyse noch immer ein heteronormatives Entwicklungsideal vorherrschend, das an binäre Geschlechterkonzeptionen, Fortpflanzung und bestimmte Beziehungsideale gebunden ist. Hocquenghems Kritik stellt daher eine nach wie vor wichtige Intervention in den psychoanalytischen Diskurs dar, der, wie er ausführt, nicht nur die Libido entdeckt hat, sondern zugleich zum „Organisator ihrer Kontrolle“ wurde.[5]

In Abgrenzung von den psychoanalytischen Theorien zur psychosexuellen Entwicklung und den damit verbundenen Vorstellungen einer reifen, den kindlichen Polymorphismus überwindenden Subjektivität und Begehrensposition, entwickelt Hocquenghem seinen Ansatz des homosexuellen Begehrens.

Sigmund Freud hatte den Säugling beziehungsweise das Kleinkind, gegen die Auffassung seiner Zeit, nicht als asexuell, sondern skandalöserweise als sexuelles Wesen verstanden, wobei er die kindliche Sexualität in ihrer Organisationsform klar von jener der Erwachsenen abgrenzt. Diese frühkindliche Sexualität konzipiert Freud als autoerotisch und objektlos, sie ist zudem polymorph, was bedeutet, dass alle Regionen des Körpers lustvoll besetzt werden können. Die polymorphe Sexualität ist im Idealfall jedoch einer progressiven Entwicklung vom oralen über das anale hin zum genitalen Stadium unterworfen. Im Zuge der Entwicklung zum „reifen“ Subjekt, in der der Ödipuskomplex einen zentralen strukturierenden Einschnitt markiert, muss das Individuum zu einer erwachsenen Sexualität gelangen, die im Idealfall im Dienst der Fortpflanzungsfunktion steht, also genital und heterosexuell organisiert ist – der Polymorphismus muss aufgeben werden.[6]

Im Unterschied dazu ist „homosexuelles Begehren“ bei Hocquenghem nicht-personalisiertes, nicht-kodifiziertes, nicht-ödipalisiertes Begehren, es ist Begehren als „gesetz- und regellose Verkoppelung der Organe“; heute würden wir vielleicht sagen: ein queeres Begehren in seiner idealisierten Form.[7] Hocquenghems Schrift Das homosexuelle Begehren wird so zum Manifest eines Begehrens, das weder durch den heteronormativen Phallogozentrismus[8] gezeichnet ist, noch irgendeiner Organisation oder Strukturierung unterliegt – sei es einer psychischen, einer gesellschaftlichen oder einer körperlichen – und das geschlechtslos ist. Er nennt es narzisstisch, weil es jenseits jeder Libidogeschichte liegt, also jenseits von „klassischer“ Objektwahl und Identifizierung. Ihm kommt gewissermaßen ein außer-diskursiver und damit „ursprünglicher“ Charakter zu.

Das ursprüngliche, homosexuelle Begehren bindet Hocquenghem an die von Freud beschriebene frühkindliche polymorphe Sexualität, die Deleuze und Guattari zufolge einen Bereich „freier Synthesen“ markiert, „in dem alles möglich ist“.[9] Es ist molekular und unstrukturiert, nicht in einer Persönlichkeit oder Identität organisiert, es liegt „vor“ beziehungsweise außerhalb der Trennung von Körper und Geist, von Selbst und Anderem und jenseits der hierarchischen Abfolge von Altersstufen. Hocquenghem beschreibt „die Homosexuellen“ daher auch als die „Asoziale[n] im Rahmen der familialen heterosexuellen Gesellschaft“,[10] weil sie andere Formen von sozialen Beziehungen bilden, nämlich horizontale und nicht hierarchisch-ödipale.

Die repressive Organisation der Libido und die Fetischisierung des Penis: Hocquenghems Kritik an der Psychoanalyse

Eine der zentralen – von Hocquenghem kritisierten – Organisationsinstanzen der Libido innerhalb der Psychoanalyse stellt der Ödipuskomplex dar. Freud führt diesen erst relativ spät in sein Werk ein, um zu klären, wie das ursprünglich autoerotisch-polymorphe Subjekt sein Objekt findet und zu einer Geschlechtsidentität gelangt.[11] Bekanntermaßen spielen der Penis und die Phantasien, die beim Kind ausgehend vom Haben oder Nicht-Haben dieses Organs entstehen, eine zentrale Rolle in der von Freud zum Teil kausal beschriebenen Konstituierung von Homo- und Heterosexualität und der damit einhergehenden Stabilisierung der binären Geschlechtlichkeit im Ödipuskomplex. Neben dem Rivalitätsverhältnis, der Kastrationsangst und dem Identifizierungsgeschehen im Ödipuskomplex räumt Freud der psychischen Bisexualität ebenfalls einen Einfluss auf den Prozess der psychosexuellen Entwicklung ein. Das stellt letztbegründbare Kausalbeziehungen und eindeutige „Ursachen“ für eine homo- oder heterosexuelle Orientierung wieder in Frage und illustriert den widersprüchlichen Charakter des Freud’schen Werkes: „Dieses Eingreifen der Bisexualität macht es so schwer, die Verhältnisse der primitiven Objektwahlen und Identifizierungen zu durchschauen und noch schwieriger, sie faßlich zu beschreiben. Es könnte auch sein, daß die im Elternverhältnis konstatierte Ambivalenz durchaus auf die Bisexualität zu beziehen wäre und nicht, wie ich es vorhin dargestellt, durch die Rivalitätseinstellung aus der Identifizierung entwickelt würde.“[12] In der Rezeption des Freud’schen Werkes wurde allzu Ambivalentes und Offenes oftmals konservativ vereindeutigt und das Freud’sche Denken so von seinen subversiven Elementen bereinigt.[13] Insbesondere die psychische Bisexualität und die Bedeutung der polymorphen kindlichen Sexualität fiel diesen Disambiguierungen häufig zum Opfer.

Dem Freud’schen Ödipuskomplex liegen aber auch ideologische Elemente zu Grunde: Heterosexualität erscheint unter den verschiedenen Triebschicksalen immer wieder als die „richtige und reife“ Objektwahl. Zugleich stabilisiert sie Männlichkeit und Weiblichkeit, da sie durch Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu Stande kommt, der zugleich als Liebesobjekt verworfen werden muss. Männlichkeit und Weiblichkeit sind als Identitätskategorien in der Psychoanalyse daher notwendigerweise an heterosexuelles Begehren gebunden.[14]

Zugleich wird neben der „Heterosexualität“ auch die „Homosexualität“ im Ödipuskomplex als reguliertes Begehrensverhältnis hervorgebracht. Hocquenghem unterscheidet in diesem Zusammenhang auch seine Konzeption des „homosexuellen Begehrens“ von der ödipalisierten Form der Homosexualität. Sofern das Begehren in Form von Homosexualität organisiert ist, ist es für Hocquenghem „Trugbild des Imaginären“,[15] eine diskursiv geschaffene Unterdrückungs- und Identitätskategorie, die unter anderem auch über psychoanalytische Diskurse reguliert und beschränkt wird. Im Zuge der Ödipalisierung wird die Libido eingehegt und dem Begehren wird sein subversiver, frei flottierender und polymorpher Charakter genommen.

Ein weiterer Aspekt von Hocquenghems Kritik am Ödipuskomplex stellt die damit einhergehende Fetischisierung des Penis/Phallus dar. Diese findet nicht nur in der Psychoanalyse, sondern auch in der Gesellschaft statt, die Hocquenghem als phallokratisch bezeichnet:[16] Der Penis/Phallus ist das zentrale Organ, das das Begehren, die symbolische Ordnung und das Geschlechterverhältnis organisiert.[17] In der Psychoanalyse ist der Fetisch ein Triebschicksal, das resultiert, wenn der ödipale Konflikt nicht „günstig“ ausgeht, die Kastration also nicht anerkannt und „die Realität“ verleugnet wird. Diese Verleugnung der Realität und die Nicht-Anerkennung der Kastration wird meist in pathologisierender Absicht LGBTIQ*s unterstellt, wenn sie binäre Geschlechterkonzeptionen infrage stellen.

Sind es dabei nicht oftmals gerade die Psychoanalytiker*innen und die Heterosexuellen, die sich über die Fetischisierung des Penis/Phallus in eine allmächtige Position begeben und den eigenen Mangel durch die permanente Anrufung dieses Organs/Phantasmas verdecken? Man glaubt, ihn letztlich doch zu haben, das bessere, reifere Subjekt zu sein und mit einer von Allmachtsphantasien getragenen Gewissheit über nicht-heteronormative Sexualitäten und Begehren urteilen zu können. Doch ist es nicht gerade die Installation als wissendes und allmächtiges Subjekt, das die Differenz und das Rätselhafte in jedem Anderen ebenso wie im eigenen Selbst nicht anerkennt und den konstitutiven und zugleich bedrohlichen Mangel stets in die Anderen projiziert, in der die Nicht-Anerkennung der eigenen Kastration besteht?

Ich verstehe Hocquenghems Position als wichtige Einmischung in den psychoanalytischen, aber auch gesellschaftlichen Diskurs, die das Leben und Überleben von LGBTIQ*s thematisiert, eine wütende Intervention angesichts beispielsweise des zerstörerischen Diskurses, der damals wie heute vom psychoanalytischen Mainstream geführt wird. Diese Wut, die die Beleidigungen und den Hass gegenüber LGBTIQ*s nicht unerhört verklingen lässt, sondern adressiert und das Produktive einer lesbischen, schwulen, queeren und trans Community betont, macht Hocquenghems Manifest auch heute noch wichtig.[18]

Neben den von Guy Hocquenghem kritisierten homophoben, normativen und pathologisierenden Ansätzen, haben sich jedoch auch innerhalb der Psychoanalyse kritische Positionen zum Ödipuskomplex, zur Heteronormativität und zum Phallogozentrismus entwickelt, die unter anderem von feministischen und queeren Psychoanalytiker*innen eingebracht wurden. Aber auch Jean Laplanches Lektüre des Ödipuskomplexes als psychoanalytische Ideologie sowie sein Verständnis von Vergeschlechtlichung als komplexer Prozess der Übersetzung rätselhafter unbewusster Inhalte, stellt einen vielversprechenden zeitgenössischen Ausgangspunkt für eine nicht-normative Psychoanalyse dar.[19]

Das Unbewusste und die Problematik des Anderen

Durchaus vergleichbar mit heutigen queeren Ansätzen geht es Hocquenghem um eine Dekonstruktion von Identitäts- und Unterdrückungskategorien und um eine Deterritorialisierung des homosexuellen Begehrens, also seine Herauslösung aus heteronormativen, ödipalen, geschlechterbinären, identitären und hierarchischen Paradigmen, die von der An- und Abwesenheit des Penis/Phallus organisiert werden und die an Fortpflanzung und genitale Heterosexualität etc. gebunden sind: „In der Welt der ödipalisierten Sexualität gibt es keine freien Verkopplungen der Organe untereinander mehr, keine unmittelbaren Lustverhältnisse. Es gibt nur noch ein Organ […] [e]s konstituiert den Mangel, es ist der despotische Signifikant […]“.[20] Hocquenghem verweist hier auf den Penis/Phallus als Organ und Signifikant, der aus dem ursprünglichen, offenbar freien, polymorphen und „unpersönliche[n] Fluss der Libido“[21] eine kolonialisierte und unterdrückte Libido macht.[22]

Der von der Psychoanalyse immer wieder formulierte Vorwurf an die Homosexuellen, diese seien narzisstisch, wendet Hocquenghem ins Positive und treibt ihn auf die Spitze: „Indem der Homosexuelle seine Objektwahl auf der Basis des Narzissmus trifft, ist er in gewissem Sinne objektlos. Desgleichen war auch die Frau durch den Phallusmangel definiert.“[23] Den Narzissmus versteht Hocquenghem nahe an der „ursprünglichen Libido“ angesiedelt. Er liegt an der Schnittstelle zu ersten Strukturierungen und damit im Übergangsbereich zur potenziellen Ödipalisierung, die Hocquenghem als „Ende des Unbewussten des ‚unmenschlichen Geschlechts‘“ und als Anfang „der personalisierten und imaginären ödipalen Sexualität“ versteht.[24]

Es zeigt sich hier, dass Hocquenghem den Begriff des Unbewussten gänzlich anders versteht als die Psychoanalyse. Das Unbewusste der psychoanalytischen Theorie stellt ein Reservoir für Verdrängtes, Nicht-Symbolisierbares dar, es konstituiert sich durch Verdrängung – aber auch durch die Wirkung anderer Abwehrmechanismen, die sich immer ausgehend vom Kontakt mit anderen vollziehen. Das Unbewusste, so wie es die Psychoanalyse fasst, wird aber nicht nur durch die Verdrängung jener Elemente konstituiert, die gesellschaftlich verboten oder tabuisiert werden, sondern auch durch die Notwendigkeit des Triebaufschubs, mit dem die äußere Realität das Subjekt konfrontiert: durch die Existenz von Abwesendem und Unverfügbarem, und den Zwang, Triebe manchmal vor dem Hintergrund anderer existenzieller Gefahren aufzuschieben oder zu sublimieren.

Bei Hocquenghem erscheint das Unbewusste, wie es von der psychoanalytischen Theorie konzipiert wird, ausschließlich negativ bestimmt, es taucht einzig als Verbündeter der Unterdrückung auf. Das Unbewusste jedoch – wie es Hocquenghem im Unterschied zur psychoanalytischen Theorie fasst – liegt vor beziehungsweise außerhalb des Diskurses, es liegt jenseits von Konflikten, Verdrängung und der Konfrontation mit der Realität. Daher ist es ein Unbewusstes, in dem der*die Andere – im ganz allgemeinen, nicht personifizierten Sinne – abwesend ist. Seine Funktionsweise versteht Hocquenghem ausschließlich als positive Bewegung von Verkettungen, sie ist mit dem vergleichbar, was Deleuze und Guattari als das „Maschinelle“ bezeichnet haben.[25] In dieser Hinsicht unterscheidet sich Hocquenghems Perspektive – trotz mancher Gemeinsamkeiten – auch von jener Michel Foucaults, der hervorhebt, dass es keinen Bereich außerhalb der Macht gibt und damit auch keine „ursprüngliche Sexualität“, die befreit werden könnte.[26]

Für mich als Psychoanalytiker*in ist es nicht denkbar, mit Hocquenghem ein Unbewusstes anzunehmen, das keine Spuren anderer in sich trägt, denn wir leben in einer Welt mit anderen, mit deren Unverfügbarkeit und radikaler Andersheit wir permanent konfrontiert sind und zu der wir uns verhalten müssen. Zwar möchte Hocquenghem eine „homosexuelle Gruppalisierung“ denken, diese folgt jedoch ebenso der maschinellen Verkopplung von Begehren, während der*die Andere als Andere letztlich unterbestimmt bleibt.[27] Im Ausschluss der psychischen und ethischen Dimension von Alterität und Differenz in seinem theoretischen Werk, deutet sich auch Hocquenghems späteres Engagement für die Straffreiheit von „Sexualität“[28] zwischen Erwachsenen und Kindern an.[29] Die Anerkennung einer ganz allgemeinen, unhintergehbaren Differenz, der Sterblichkeit und des eigenen Mangels, sowie die Akzeptanz von Alterität, Vulnerabilität und so weiter ist aus meiner Sicht sowohl auf der Ebene des Gesellschaftlichen wie in der psychoanalytischen Klinik für ethische Perspektiven bedeutsam – und ermöglicht auch einen Bezug zum Anderen, der jenseits von Moral und Ideologie angesiedelt ist, die Differenz und Alterität ebenso zum Verschwinden bringen.[30]

Mit Hocquenghem in Richtung einer queeren Psychoanalyse?

Eine der größten Schwierigkeiten beim Versuch, Guy Hocquenghems wichtigen und kritischen Ansatz mit der Psychoanalyse zu verbinden, stellt, wie oben gezeigt, der fundamentale Unterschied in den Verständnissen des Unbewussten im Hinblick auf die Bedeutung des Anderen und in weiterer Folge auch für das Sprachlich-Symbolische und Soziale dar. Für Hocquenghem scheint der Andere, der das Unbewusste in der psychoanalytischen Theorie schon allein aufgrund der Gebürtigkeit eines jeden Individuums immer mitkonstituiert, ein zu überwindender Faktor auf dem Weg zur Befreiung des Begehrens zu sein. Die Psychoanalyse betrachtet sowohl das Unbewusste, als auch den*die Andere hingegen immer ambivalent. Beide können weder ausschließlich positiv noch ausschließlich negativ bestimmt werden.

Obschon dieser Unterschied offenkundig nicht zu überwinden ist, das Unbewusste der Psychoanalyse und das Verständnis von Hocquenghem also nicht vereinbar sind, möchte ich nichtsdestotrotz einen Vorschlag für ein produktives Nutzbarmachen beider Ansätze für eine gemeinsame Diskursintervention im Hinblick auf eine queere Psychoanalyse machen. Um etwas schier Unvereinbares also dennoch in einen Austausch zu bringen, schlage ich vor, Hocquenghems von Deleuze und Guattari entlehntes Konzept der Deterritorialisierung sowohl auf seine eigene Theorie eines „ursprünglichen Begehrens“ als auch auf die psychoanalytische Metapsychologie anzuwenden. Denn dann wird es möglich, zwischen der konstitutiven Alterität, der radikalen Vorgängigkeit des Anderen, die Einschnitte, Grenzen, Differenzen aber auch Prozesse des Werdens mit sich bringt und ermöglicht – Aspekte die ich als Kernelemente einer psychoanalytischen Metapsychologie verstehe –, und dem, was man mit Hocquenghem heterosexuelle Ideologie[31] nennen kann, die sowohl in der Gesellschaft als auch in der Psychoanalyse wirkt und Heteronormativität, Ödipuskomplex, Kastration etc. beinhaltet, zu unterscheiden. Um bei Guy Hocquenghems Diktion zu bleiben: Einerseits wäre das Begehren zu deterritorialisieren, was für mich jedoch nicht bedeutet, „es in einen ursprünglichen Zustand zu versetzen“, sondern meint, es zu queeren, die ödipal-patriarchale, heteronormative Ökonomie also zu subvertieren. Andererseits wäre im gleichen Zuge auch die psychoanalytische Metapsychologie zu deterritorialiseren: Sie müsste aus dem Feld der gesellschaftlichen und psychoanalytischen Ideologie befreit werden, um das Rätselhafte, das radikal Andere, das Unbewusste, das Queere, das Begehren in Erscheinung treten zu lassen.

  1. Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Ders., GW XII, Frankfurt am Main 1999 (1917), S. 1–12, hier S. 11.
  2. Vgl. etwa auch die Kritik Michel Foucaults oder Gilles Deleuzes und Félix Guattaris an der Psychoanalyse.
  3. Vgl. dazu Dagmar Herzog, Cold War Freud, Cambridge University Press 2017. Die Historikerin Herzog untersucht in diesem Buch unter anderem die zunehmende Homophobie innerhalb der US-amerikanischen Psychoanalyse nach dem 2. Weltkrieg.
  4. Zur Kritik an der Homophobie in der Psychoanalyse in Deutschland siehe z. B. Ilka Quindeau, „Recovering from Iatrogenesis…“ Vom Umgang mit dem homophoben Erbe, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 69 (2015), 7, S. 648–660.
  5. Guy Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, Hamburg 2019, S. 43.
  6. Vgl. dazu: Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), in: Ders.: GW V., Frankfurt am Main 1999.
  7. Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 71. Siehe dazu auch die Arbeiten von Paul B. Preciado / Beatriz Preciado, Kontrasexuelles Manifest, Berlin 2015.
  8. Obzwar Hocquenghem selbst von Phallokratie spricht, verwende ich an dieser Stelle den Begriff „heteronormativer Phallogozentrismus“, da diese Figur meiner Auffassung nach dem näher kommt, was Hocquenghem kritisiert. Es handelt sich dabei um ein zusammengesetztes Konzept: Den Begriff der Heteronormativität hat ursprünglich Michael Warner in den Diskurs eingebracht, er wurde zu einem zentralen Konzept, das von queeren Ansätzen kritisch adressiert wird. Der Begriff des Phallogozentrismus stammt von Jacques Derrida. Vgl. Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 73; Michael Warner, Fear of a Queer Planet. Queer Politics and Social Theory, in: Social Text 1991 (29), S. 3–17; Jacques Derrida, Die Postkarte, von Sokrates bis an Freud und jenseits, 2. Lieferung, Berlin 1987, S. 262.
  9. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main 1974, S. 68.
  10. Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 91.
  11. Der Ödipuskomplex findet erst mit Freuds „Das Ich und das Es“ von 1923 seine kanonische Form wie van Haute und Westerink darlegen. Vgl. dazu: Philippe van Haute / Herman Westerink, Hysterie, Sexualität und Psychiatrie. Eine Relektüre der ersten Ausgabe der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), hg. von Philippe van Haute, Christian Huber und Herman Westerink, Wien 2015, S. 9–56, hier S. 55.
  12. Sigmund Freud, Das Ich und das Es (1923), in: Ders., GW XIII, Frankfurt am Main 1999, S. 235–290, hier S. 261.
  13. Auch Hocquenghem verweist auf die Problematik der „Revision Freuds“, also der normierenden Rezeption des Freud’schen Werkes (Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 47).
  14. Vgl. Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 81. Vgl. auch Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001, S. 129.
  15. Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 12.
  16. Vgl. ebd., S. 72.
  17. Vgl. dazu auch Luce Irigaray, Das Geschlecht das nicht eins ist, Berlin 1977.
  18. Erfahrungen von Hass und Beleidigungen auch in Zusammenhang mit der eigenen Subjektgenese anzuerkennen – so schmerzhaft dies ist –, scheint mir in den queeren Diskursen der jüngsten Zeit eher aus dem Bewusstsein verdrängt worden sein. Obwohl gerade die Geschichte des Begriffs „queer“ als angeeigneter diesen Aspekt in sich trägt. Auch in der Psychoanalyse werden reale Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen meist ausgeblendet, wenn sie auftauchen werden sie psychologisiert und individualisiert und dadurch zugleich entpolitisiert. Insbesondere auch durch die Anpassung von LGBTIQ*s an eine hegemoniale Ideologie, durch den Wunsch nicht mehr gedemütigt zu werden, werden die Verletzungen oftmals unsichtbar gemacht und verworfen. Auch Didier Eribon verweist auf die konstitutive Bedeutung der Beleidigungen und des Hasses für schwule Subjektivität aber auch auf das sich daraus speisende widerständige Potential. Vgl. Didier Eribon, Betrachtungen zur Schwulenfrage, Frankfurt am Main 2019.
  19. Vgl. dazu z.B. Jean Laplanche, Gender, Geschlecht und Sexual, in: Ders., Sexual. Eine im Freud’schen Sinne erweiterte Sexualtheorie, Gießen 2017, S. 137–171; Ilka Quindeau, Geschlechtervielfalt und polymorphes Begehren: Queere Perspektiven in der Psychoanalyse, in: Esther Hutfless / Barbara Zach (Hg.), Queering Psychoanalysis: Psychoanalyse und Queer Theory – Transdisziplinäre Verschränkungen. Wien 2017, S. 181–210; Griffin Hansbury, The Masculine Vaginal: Working with Queer Men’s Embodiment at the Transgender Edge, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 65 (2017), 6, S. 1009–1103; Nancy Chodorow, Heterosexuality as a Compromise Formation, in: Psychoanalysis and Contemporary Thought 15 (1992), 3, S. 267–304.
  20. Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 72.
  21. Ebd., S. 45
  22. Vgl. Ebd.
  23. Ebd., S. 53.
  24. Ebd.
  25. Vgl. dazu: Deleuze / Guattari, Anti-Ödipus, z.B. S. 107.
  26. Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt am Main 1983. In Betrachtungen zur Schwulenfrage verweist Didier Eribon darauf, dass Foucault mit dem ersten Band von Sexualität und Wahrheit auf Hocquenghem antwortet und sich vor allem gegen dessen Entwurf eines Begehrens „im wilden Zustand“ richtet. Vgl. Didier Eribon, Betrachtungen zur Schwulenfrage, Berlin 2019, S. 436 f.
  27. Vgl. Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 92 ff.
  28. Ich setze „Sexualität“ hier in Anführungszeichen, da es vor dem Hintergrund aktueller Ansätze zum sexuellem Missbrauch Minderjähriger nicht um Sexualität, sondern vielmehr um die Ausübung von sexualisierter Gewalt geht – also nicht Sexualität, sondern Macht und Gewalt im Zentrum stehen.
  29. Neben Guy Hocquenghem haben sich viele französische Intellektuelle jener Zeit, darunter auch Michel Foucault, Félix Guattari, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Gilles Deleuze und Françoise d’Eaubonne für eine Herabsetzung des Schutzalters im Strafrecht eingesetzt. Vergleiche dazu: http://www.dolto.fr/fd-code-penal-crp.html, 8.5.2021 und https://www.ipce.info/ipceweb/Library/00aug29b1_from_1977.htm, 8.5.2021. Zu den problematischen Ansätzen Hocquenghems siehe Lukas Betzler / Hauke Branding, Guy Hocquenghems radikale Theorie des Begehrens – Nachwort zur Neuherausgabe, in: Guy Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, Hamburg 2019, S. 151–187, hier S. 178 ff. Siehe dazu auch den Beitrag von Julia König in diesem Dossier.
  30. Siehe dazu auch: Esther Hutfless, Psychoanalysis to come – A „Freuderridian” Approach to a Non-Normative Psychoanalysis, in: The Undecidable Unconscious 6 (2019) S. 1–27.
  31. Vgl. Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, S. 61

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Körper Philosophie Psychologie / Psychoanalyse Queer

Esther Hutfless

Dr. Esther Hutfless, geboren 1980, ist Philosoph*in und Psychoanalytiker*in in Wien. Zu Hutfless’ Lehr-, Publikations- und Forschungsthemen gehören Queer-Theorie und Psychoanalyse, psychoanalytische Gesellschaftstheorien, Poststrukturalismus und Dekonstruktion, Trauma, nicht-normative Ansätze in der Psychoanalyse und die Wirkung sozialer Machtverhältnisse auf psychische Strukturen. 2017 ist der gemeinsam mit Barbara Zach herausgegebene Sammelband „Queering Psychoanalysis. Psychoanalyse und Queer Theory – Transdisziplinäre Verschränkungen“ im Wiener Zaglossus-Verlag erschienen.

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