Der Bundespräsident - Reden und Interviews - Veranstaltung "Für Freiheit und Verantwortung" in Erinnerung an Guido Westerwelle

Veranstaltung "Für Freiheit und Verantwortung" in Erinnerung an Guido Westerwelle

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 25. Januar 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei einer Veranstaltung in Erinnerung an Guido Westerwelle am 25. Januar in Berlin eine Rede gehalten: "Freiheit und die praktische Wahrnehmung von Freiheit schließen immer Verantwortung mit ein. Wer sich die Freiheit nimmt, so oder anders zu denken, zu handeln und zu leben, der übernimmt Verantwortung für sich selber und ist vor anderen, die dieser praktische Gebrauch der Freiheit immer mitbetrifft, rechenschafts- und verantwortungspflichtig."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Veranstaltung Für Freiheit und Verantwortung in Erinnerung an Guido Westerwelle im Französischen Dom in Berlin

Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein, hier in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin. Bei Ihnen, den Verwandten und Freunden, den ehemaligen Mitarbeitern und Weggefährten Guido Westerwelles, der am vergangenen 27. Dezember seinen sechzigsten Geburtstag begangen hätte.

Ein sechzigster Geburtstag ist bei aktiven Politikern in der Regel kein so herausragender Anlass, um ihn zu ausführlich zu feiern, fällt doch dieses Lebensalter bei vielen in eine Zeit, in der ein Politiker gerade erst auf dem Höhepunkt einer Karriere angekommen ist oder in der er mit besonders wichtigen und verantwortungsvollen Aufgaben betraut wurde. Für eine rückschauende Würdigung käme ein solcher Geburtstag in der Regel zu früh.

Dass Guido Westerwelle jetzt erst sechzig geworden wäre und nun schon vor bald sechs Jahren von uns gegangen ist, zeigt uns: Auf der einen Seite ist er sehr früh in seinem Leben in herausragende politische Verantwortung gekommen. Und andererseits ist er so unverhältnismäßig früh aus einem Leben gerissen worden, das immer von politischer Leidenschaft und von großer öffentlicher Wirksamkeit geprägt wurde.

Ich freue mich, ihn heute würdigen zu können. Wir waren ja beide, und das gab es bisher nur einmal, jeweils des anderen Vorgänger und Nachfolger im Amt des Bundesministers des Auswärtigen. So empfinde ich, das darf ich Ihnen versichern, auch eine persönliche Nähe.

Die Herausforderungen und Möglichkeiten, die das Amt des Außenministers mit sich brachte und bringt und die auch Guido Westerwelle dort erfahren hat, stehen mir nur allzu deutlich vor Augen. Dass er 2009 genau jenes Amt antreten durfte, in dem sein großes Vorbild Hans-Dietrich Genscher als der bis heute am längsten amtierende Minister lange Zeit erfolgreich war, wird ihn mit großer Freude erfüllt haben. Und er wird auch die Verpflichtung gespürt haben, in dessen Spur vor allem für eine friedensstiftende und friedenserhaltende Außenpolitik zu stehen.

Wir waren dazu immer wieder in Kontakt. Und ich habe in Erinnerung, wie sehr er sich über manch vordergründige Kritik zum Beispiel an seiner Entscheidung zum militärischen Vorgehen in Libyen geärgert hat. Aus der Sicht von heute wird manch einer seiner Kritiker vielleicht noch mal in sich gehen und die erreichten Resultate und die seither eingetretene Entwicklung in diesem geschundenen Land neu bewerten.

Und eines will ich aus jener Zeit besonders in Erinnerung rufen. Als es zu Beginn des letzten Jahrzehnts auch in der FDP zu harten Debatten um den Euro kam, stand Guido Westerwelle unbeirrbar zu Europa. Er hatte früh erkannt, dass es in Wirklichkeit um mehr ging als um Schutzschirme oder Finanztechniken. Für ihn war es eine grundsätzliche Richtungsdebatte, in der er mit beispielloser Leidenschaft Stellung bezog: Europa hat einen Preis, Europa hat aber auch einen Wert. Und wer das vergisst, macht einen historischen Fehler, sagte er, viele werden sich erinnern, auf dem Sonderparteitag in Frankfurt 2011. Er verhinderte so die verhängnisvolle Achsenverschiebung einer liberalen Partei, wie sie anderswo in Europa leider stattgefunden hat. Das, denke ich, bleibt Verpflichtung – nicht nur für deutsche Liberale.

Apropos Verpflichtung: Ich finde es gut, dass Sie dieses Gedenken nicht nur als eine Erinnerungsstunde gestalten, sondern, durch das gleich anschließende Gespräch über Möglichkeiten und Notwendigkeiten konkreter internationaler Zusammenarbeit, auch als eine aktive Fortführung des Vermächtnisses, das uns Guido Westerwelle hinterlassen hat. Nämlich mit dem Engagement, das besonders in seinen letzten Jahren der aktiven und nachhaltigen Zusammenarbeit mit außereuropäischen Ländern galt, besonders mit Afrika.

Ich kann mich im Folgenden daher, mit Blick auf den Schwerpunkt der anschließenden Gesprächsrunde, eher seinem innen- und parteipolitischen Wirken widmen. Als Bundespräsident liegt mir die Entwicklung unserer Demokratie am Herzen, die ja ganz besonders von lebendigen Parteien lebt, von Parteien, die dem konstruktiven Streit und der verantwortungsvollen Gestaltung unseres Gemeinwesens verpflichtetet sind. Wir erinnern uns wohl alle, wenn wir an Guido Westerwelle denken, ganz besonders an sein unermüdliches und kämpferisches parteipolitisches Engagement.

Guido Westerwelle war in seiner aktiven Zeit wie nur wenige andere das Gesicht seiner Partei. Wie kaum jemand sonst schien er selber die Ideen und Überzeugungen, für die er einstand, ja das im positiven Sinne Parteiliche seiner Partei zu verkörpern. Auch mit vielen guten Mitstreitern an seiner Seite war er eine lange Zeit sozusagen die FDP in Person.

Wir sind eine Republik, deren Werte sich aus verschiedenen Traditionen speisen. Unser plurales Gemeinwesen braucht zu seinem Gelingen überzeugungsstarke Liberale, die die Freiheit der Person, die Freiheit der Lebensführung und damit verbunden auch die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit besonders betonen.

Und diese liberalen Grundüberzeugungen brauchen, wie andere Grundüberzeugungen auch, in unserer repräsentativen Demokratie eine funktionierende, eine lebendige, eine diskussionsfreudige liberale Partei.

Verschiedene Parteien haben ihren Sinn nur dann, wenn sie genau das sind: verschieden – und also unterscheidbar. Dafür, dass seine Partei das wieder werden und bleiben konnte: identifizierbar und unterscheidbar, dafür hat Guido Westerwelle unermüdlich gearbeitet. Und damit hat er dem ganzen Gemeinwesen einen Dienst geleistet.

Er tat das vor allem mit einem großen Talent zur politischen Rede, ja mit einer sichtbaren Lust an geschliffener Formulierung, auch am scharf geführten Disput. Es gibt sicher sehr verschiedene politische Begabungen – aber für den Beruf des Politikers in einer liberalen Demokratie schadet es gewiss auch nicht, die Freude an der Auseinandersetzung, die Lust am Streit und die Findigkeit für öffentlich wirksame Formulierungen zu besitzen. Seine Reden als Politiker der Opposition im Deutschen Bundestag sind zu Dokumenten unserer Zeitgeschichte geworden.

Die Zeiten, in denen diese Reden gehalten wurden, waren geprägt von der Notwendigkeit und dem Willen zu Reformen. Der Staat sollte kleiner werden, die Eigenverantwortung der Bürger größer. Deutschland hatte eine hohe Arbeitslosigkeit und defizitäre Sozialversicherungen. Sie dürfen mir glauben, dass ich weiß, wovon ich spreche.

Und am Rande, weil es auch zu meinem persönlichen Verhältnis zu Guido Westerwelle gehört: Als wir 2009 den Staffelstab im Auswärtigen Amt übergeben haben, sagte er mir mal mit einem Schmunzeln: Übrigens: In der Opposition habe ich zwar oft gegen Eure Reformen und auch gegen Sie reden müssen. Aber ich weiß natürlich: Über den Ruck zu reden, ist einfacher, als ihn zu organisieren und Mehrheiten dafür zu gewinnen. Auch das war Guido Westerwelle. Das hat mich gefreut.

Nachdem unser Land dann die Periode der Massenarbeitslosigkeit nach und nach hinter sich lassen konnte und nachdem die Finanzierung des Sozialstaates wieder auf bessere Grundlagen gestellt worden war, hatten sich die Zeitumstände gewandelt. Auch die Finanzmarktkrise veränderte das Bewusstsein für die Notwendigkeit staatlichen Handelns. Für den politischen Liberalismus waren das erneut Jahre der Herausforderung, auch Jahre der Selbstbefragung. Dass sozialer Zusammenhalt und Liberalismus keine Gegensätze sein sollten, zählt vermutlich zu den Einsichten dieser Jahre.

Wenn ich richtig sehe, sind die Aufgaben, vor der Liberale und eine liberale Partei heute stehen, ganz neu und doch auch ähnlich wie zu Zeiten Guido Westerwelles. Auch wenn es stimmt, dass die Herausforderungen ungleich größer geworden sind, geht es wieder darum, die Zukunft zu gestalten und zu gewinnen. Und wieder geht es um das vernünftige Austarieren zwischen dem freien Handeln selbständiger, selbstbewusster Bürger und Unternehmen und der Notwendigkeit und dem Maß staatlicher Regelung.

Fortschritt und Innovation sind meist Ergebnis des Handelns findiger Köpfe, die die Fähigkeit haben und die sich die Freiheit nehmen, Ideen zu entwickeln, und sie umsetzen in erfolgreiche Produkte. Die Marktchancen erkennen und nutzen. Die mit ihrem eigenen unternehmerischen Erfolg sogar kommunalen und staatlichen Haushalten zu ungeahnten Reichtümern verhelfen. Man frage nach bei der Stadt Mainz oder beim Finanzministerium von Rheinland-Pfalz, das, wie die FAZ schreibt, nach dem Erfolg von Biontech nun unversehens zu den Geberländern gehört.

Gute Perspektiven für eine Zukunft in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit können nur gewonnen werden, wenn die liberale Perspektive stark ist, die den Einzelnen, den privaten Unternehmergeist, den Erfolg von produktiven Ideen stark macht und ihnen den verdienten Erfolg lässt. Das gilt auch für die Herausforderungen in den Bereichen Digitalisierung oder Klimawandel, in denen sich die Zukunft für uns alle entscheidet. Die liberale Perspektive für die Zukunft ist auf diesen und ähnlichen Feldern unabdingbar – aber sie ist vielleicht dann am stärksten und fruchtbarsten, wenn sie nicht die einzige ist. Soviel darf ich als gelernter, wenn auch suspendierter Sozialdemokrat vielleicht sagen.

Freiheit, das große Motto und das große Motiv in Guido Westerwelles politischem Leben, ist gegenwärtig auch ein eminent politisches Thema. Der immer schwierige Akt des rechtsstaatlichen Ausbalancierens von Freiheit und Sicherheit geht sicher besonders auch die FDP an, die in der jetzigen Regierung das Justizministerium besetzt.

Manche Maßnahmen gegen die Pandemie greifen empfindlich in bürgerliche Grundrechte ein. Für nicht wenige ist das offenbar der Grund, sich radikal gegen alle entsprechenden Maßnahmen zu stellen.

Nicht wenige beziehen sich dabei auf eine Passage aus einer der letzten Reden Guido Westerwelles als Parteivorsitzender. Er verteidigte damals vehement die Freiheitsrechte im Angesicht von Maßnahmen gegen terroristische Gewalt. Er sah zwar keine Gefahr in dramatischen staatlichen Zwangsmaßnahmen, beklagte aber eine in seinen Augen schleichende Gefahr der Freiheitsbedrohung. Und er formulierte in Anlehnung an Karl-Hermann Flach suggestiv: Freiheit stirbt immer zentimeterweise.

Das ist eine ernste und ernstzunehmende Mahnung. Aber die daraus plakativ gefolgerte Gegenüberstellung: hier der freiheitsbedrohende Staat auf der einen Seite, dort die der Freiheit schleichend beraubten Bürger auf der anderen, diese Gegenüberstellung ist aus meiner Sicht zumindest schief. Ein Staat, dem die Bürger wie etwas Fremdem gegenüberstehen, ist nicht der Staat unseres Grundgesetzes, nicht der Staat, dessen Bundespräsident ich bin.

Man sollte die Rede Guido Westerwelles noch ein paar Sätze weiter lesen und hören. Dann heißt es nämlich: Wir wollen ein Volk von selbstbewussten Staatsbürgern, nicht Staatskunden. Damit hat Westerwelle die, auch von ihm selber gelegentlich formulierte, Gegenüberstellung von Staat und Bürgern schon aufgehoben.

Wer Kunde ist, der steht einem Dienstleister gegenüber, er nimmt sich, was er gebrauchen kann, und ist entweder zufrieden oder gekränkt. Anforderungen der Gemeinschaft an einen selber werden entsprechend als unzulässige Einschränkung von Freiheit, als Bevormundung denunziert. Wer aber selbstbewusster Staatsbürger ist, der mischt sich ein, der gestaltet mit – und der lässt sich auch in die Pflicht und in die Verantwortung nehmen.

Die vielleicht wirkmächtigste und leider meist unhinterfragte ethische Haltung der Gegenwart drückt sich in Sätzen aus wie diesem: Das muss ja jeder selber wissen. Oder: Das muss halt jeder für sich selbst entscheiden. Eine Rechtfertigungspflicht vor anderen für das eigene Handeln scheint in dieser Haltung überflüssig, ja geradezu ausgeschlossen zu sein. Dieser, ich nenne es bewusst einmal so: Vulgärliberalismus ist sicher nicht im Sinne wahrhaft liberaler Vorbilder wie etwa Friedrich Naumann, Karl-Hermann Flach oder Theodor Heuss. Und er wäre sicher auch nicht im Sinne des liberalen Staatsbürgers Guido Westerwelle.

Freiheit und die praktische Wahrnehmung von Freiheit schließen immer Verantwortung mit ein. Wer sich die Freiheit nimmt, so oder anders zu denken, zu handeln und zu leben, der übernimmt Verantwortung für sich selber und ist vor anderen, die dieser praktische Gebrauch der Freiheit immer mitbetrifft, rechenschafts- und verantwortungspflichtig.

Klar: Der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung ist wahrhaftig keine neue Idee, und jeder klar Denkende wird ihn auch theoretisch immer bejahen. Aber was dieser Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung konkret bedeutet, ist nicht mit Ewigkeitsgarantie festgeschrieben; er muss in jeder neuen politischen Situation, auch in der Pandemie, die uns jetzt seit mehr als zwei Jahren täglich beschäftigt und bedroht, neu bedacht, neu ausbuchstabiert und neu ausgehandelt werden.

Dazu gehört Kommunikation und vernunftgeleiteter Dialog. Einen solchen Dialog führt man nicht, um den jeweils anderen inquisitorisch in die Ecke der Ungezogenen zu stellen oder argumentativ zum Schweigen zu bringen. Sondern mit dem Ziel, aus unterschiedlichen Ausgangspositionen, mit unterschiedlichen Erfahrungen und mit unterschiedlichen Wertvorstellungen sich am Ende hoffentlich gemeinsam auf das Rechte und auf das im buchstäblichen Sinne Not-Wendende zu verständigen. Das ist in meinen Augen verantwortliche, liberale Haltung. Und auch das gehört insofern zum Vermächtnis Guido Westerwelles.

Ich denke, den nächsten Satz, mit dem ich schließen möchte, hätte er unterschrieben: Dem Willen zur Freiheit muss der Mut zur Verantwortung entsprechen, die uns durch genau diese Freiheit aufgegeben ist. Freiheit und Verantwortung: der unauflösbare Kern der liberalen Demokratie des Westens. Das war das Lebensthema von Guido Westerwelle. Wir werden ihn nicht vergessen.