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Kultur 100. Geburtstag

Golo Mann erklärte den Deutschen ihre Geschichte

Chefkommentator
Golo Mann Golo Mann
Viel mehr als nur der Sohn von Thomas Mann: Golo Manns Verdienste als Historiker sind enorm
Quelle: pa/dpa
Ein Leben lang litt er unter dem gewaltigen Schatten seines Vaters Thomas Mann. Doch im Gegensatz zu seinen Geschwistern gelang es Golo Mann, sich von ihm zu lösen. Als Historiker analysierte Golo Mann, der vor 100 Jahren geboren wurde, die deutsche Geschichte glänzend. Sein Werk ist immer noch frisch.

Spätestens seit Heinrich Breloers Film über "Die Manns" neigt die interessierte Welt dazu, die einzelnen Mitglieder dieser Familie nur als die Kinder des Vaters zu betrachten. Nach ihrem Verständnis sind sie ihm in herzlicher Abneigung verbunden geblieben, nie von ihm losgekommen und nichts ohne ihn gewesen; so, als ob der gesamte Blutkreislauf der Familie selbst lange nach dem Tod des Vaters allein um ihn herum pulsiert hätte.

Falsch ist diese Ansicht nicht. Keines der sechs Kinder Thomas Manns war in der Lage, sich aus dem Schatten des Vaters ganz zu befreien: weder der so begabte wie überschätzte Klaus noch seine Schwester Erika, die Frau mit der messerscharfen, oft bis zur Bösartigkeit geschliffenen Intelligenz, weder Michael, Elisabeth noch die drollige Monika.

Allein Golo Mann ragt aus dem Kreis heraus. Zwar blieb sein Vater auch für ihn eine Wunde, die sich nie schloss - "Ich war sein Unter-Ich" -, doch verstand er es als einziger der drei Söhne, dem Tod keine Herrschaft über seine Gedanken einzuräumen. Der Preis dafür war hoch. Sein ganzes Leben rang Golo mit den Dämonen der Kindheit, irrte durch die Nebel der Depression und suchte sie mit Hilfe von Psychoanalytikern und entsprechenden Medikamenten - in der Familie "Heiterlein" genannt - zu vertreiben.

Damit nicht genug, stellte Golo dem Vater sein eigenes Werk entgegen. Es lässt ihn auch ohne Thomas Mann bestehen, ja, überragt ihn sogar auf dem Feld der politischen Urteilskraft. Anders als Thomas Mann besaß Golo ein Gespür für Politik und einen siebten Sinn, der ihn vor groben Fehlurteilen bewahrte, was Irrtümer zu tagespolitischen Themen nicht ausschloss.

Kurzum: Es lohnt, sich mit Golo Mann als solchem zu beschäftigen. Am 27. März wäre er, Angelus Gottfried Thomas, einhundert Jahre alt geworden. Ein Geschenk hätte ihn womöglich besonders gefreut, würde er heute noch in Kilchberg bei Zürich am Schreibtisch sitzen oder auf der Terrasse seines Ferienhauses in Berzona. Das wäre die Gabe, in den Geburtstagsartikeln ihm zu Ehren den Übervater eine Nebenrolle zuzuweisen.

Kein Staubgeruch der Archive

Golo Mann ist einer der großen Historiker der Bundesrepublik - eine Tatsache, die die herkömmlichen Geschichtsprofessoren an deutschen Hochschulen, diese eitlen, honetten Anbeter des Fußnotenkultes, bis heute erbost, weil Golo Mann bei Karl Jaspers in Heidelberg über Hegel promovierte, sein Studium also niemals in der Geschichtswissenschaft beendete und ihm der Staubgeruch der Archive fehlte.

Seine Bücher und Essays haben kaum etwas von ihrer Kraft und Lebendigkeit verloren. Sie sollten - nein, sie müssen! - gelesen werden: zunächst und vor allem "Die Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" (bei Amazon bestellen...) , dann die Essays, von den Gedanken über das Wesen Adenauers über das Porträt Helmuth James von Moltkes bis zur Kritik an Hannah Arendt, schließlich der "Wallenstein" (bei Amazon bestellen...) .

Der Grund dafür ist leicht zu benennen: Alle Themen, die Golo Mann beschäftigten, betrachtete er vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte bis ins zwanzigste Jahrhundert aus, nicht als ein Prophet des Nachhineins - diese Rolle verachtete er -, doch als einer, der beständig nach den Ursachen für das Scheitern des Reiches sucht.

Mann, der nach seiner Vertreibung aus Deutschland durch die Nationalsozialisten 1933 an einer transzendentalen Obdachlosigkeit litt, einer Emigranten-Krankheit, nach der die Fremde nicht Heimat wird, aber die Heimat Fremde, verband den Blick von außen mit dem Kenntnisreichtum des Einheimischen.

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Er verschaffte ihm die Fähigkeit, die inneren und äußeren Gründe für den Untergang des Reiches klarer zu benennen als die meisten Historiker und Publizisten seiner Generation. Er ermöglichte ihm zudem, eindringlicher als sie auf die Gefahren hinzuweisen, die sich aus dem deutschen Hang zur Illusion, zur Flucht aus der Wirklichkeit und der ewigen Neigung zur Suche nach sich selbst ergaben.

Sind wir heute davon geheilt? Sind wir geistig wie politisch ein unverrückbarer Teil des Westens geworden, der niemals mehr ins Abseits geraten wird? Haben wir die Lehren der Geschichte verinnerlicht, die weit über das so gutgemeinte wie schlichte "Nie wieder" hinausgehen?

Wer daran auch nur leise Zweifel hegt, wer die Fragen nicht gleich ohne zu zögern bejahen kann, der greife zu Golo Mann. Er wird vieles lernen. Er wird von der klugen Analyse genauso überwältigt sein wie von dem Gerechtigkeitssinn und der untrüglichen, doch zarten Sicherheit des Urteils, das manchmal skeptisch ist, aber niemals agnostisch und patzig.

Golo Mann trat nicht als Lehrmeister der Deutschen auf. Er blieb bescheiden, fast schüchtern. Er verachtete Dogmen und historische Gesetzmäßigkeiten, weil ihm die Freiheit des Menschen wichtig war. In seinem Worten: "Dies ist es, was Geschichte uns lehren kann: nicht zuviel von der Zukunft zu erwarten, nicht zu meinen, man könne überblicken, was kein begrenzter Geist überblicken und erklären kann. Das Studium der Geschichte ist das beste Gegenmittel gegen den Fanatismus, den Extremismus und die Selbstgerechtigkeit. Sie lehrt uns eher den Glauben an das Maß, an die Vorsicht, den Verzicht angesichts der Beharrlichkeit des Faktischen als den Glauben an selbstgerechte Härte und totale Lösungen. Zur gleichen Zeit entwickelt das Studium der Geschichte unseren Sinn für Freiheit und Verantwortlichkeit."

Es ist nicht falsch, diese Sätze auch als Beleg für den "erzählenden Moralisten" zu nehmen, den Henning Ritter in Mann sah. Golo Mann gab Wertungen ab. Ihn langweilte, was tatsächlich ermüdend ist: Die Geschichte im Sinne Leopold von Rankes zu erzählen, der angeblich nur wissen wollte "wie es eigentlich gewesen ist". Mann schätzte die originelle These. Seine Leser liebten ihn dafür. Darüber hinaus verfügte er über eine Gabe, die heute noch seltener als früher zu finden ist: Golo Mann konnte schreiben.

Er war überzeugt davon, "dass man Geschichte so schreiben kann, dass es sich beinahe so fließend, so unterhaltend liest wie ein Roman - und trotzdem wissenschaftlich ist". Tilmann Lahme, der gerade eine einfühlsame Biografie über Golo Mann veröffentlicht hat (S. Fischer, Frankfurt/M. 551 S., 24,95Euro), hebt zu Recht hervor, dass es Mann in seinen Arbeiten immer vor allem um die Menschen ging, um Persönlichkeiten, die ihre Zeit bewegten, aber auch um die Unentschlossen, die Zögernden, die Zweifler und Verlierer.

Große Geschichtenerzähler der Historiografie

Vielleicht liegt in diesem Blick auf den Menschen auch die Antwort auf die Frage, warum die großen Geschichtenerzähler der deutschen Historiografie nach 1945, wie Golo Mann, Sebastian Haffner, Joachim Fest und Arnulf Baring, vor allem auf der konservativen Seite zu finden sind. Konservative Historiker stellen den Menschen in den Mittelpunkt, linke dagegen Strukturen.

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Wer aber über Strukturen redet, kann niemals Geschichten erzählen, wird immer an "Mehltau-Prosa" leiden und nur für seine Zunft, niemals für die breite Leserschaft Texte verfassen. Golo Mann war ein solch konservativer Historiker. Mehr als das, er war konservativ in der Lebensweise wie in seinen Ansichten. Und auch darin liegt ein nicht zu unterschätzender Teil seiner Bedeutung.

Nach dem Krieg und einer durch die nationalen Übertreibungen daniederliegenden Rechten war Golo Mann einer der Ersten, der der jüngeren Generation nach 1945 zeigte: Konservatismus muss nicht verknöchert, nicht verstaubt, Konservatismus kann auch mit dem Westen verwoben und durch und durch europäisch gesinnt sein. Golo Manns Weltbild war ein konservatives, das nichts mit den Ideen der Pessimystiker aus der Weimarer Zeit, nichts mit Krimheld und Etzel beim Gemetzel gemein hatte, sondern angekommen war in der Bundesrepublik und seine Schlüsse aus der Herrschaft "dieses H." gezogen hatte, wie er Adolf Hitler abfällig nannte.

Schon 1950 riet Mann den Deutschen, die Wirklichkeit anzuerkennen und sich mit den Grenzen der Bundesrepublik anzufreunden. Lange vor Willy Brandt hielt er eine neue Ostpolitik, die auf Entspannung und Versöhnung setzte, für nötig. Jeglichem Revisionismus, jeglicher Weinerlichkeit der Vertriebenverbände begegnete er genauso schroff wie der Diskussion um das deutsche Ich, die bis heute dann und wann aufflammt: "Warum in aller Welt soll ein Deutscher, der heute das Centre Pompidou in Paris besucht, sich fragen: 'Wer bin ich? Was ist meine nationale Identität?' Das ist doch alles im Ernst gar nicht wahr. Und überhaupt mag ich das Wort 'Deutsche Frage' auf den Tod nicht leiden. So etwas kann man nicht 200 Jahre lang machen, alles was Recht ist."

Er meldete sich immer wieder zu Wort

Bis ins hohe Alter meldete sich Golo Mann zu diesem wie zu anderen Themen zu Wort, immer im Bestreben, sich von den Intellektuellen der Weimarer Zeit abzusetzen, "die nichts konnten, als die Republik zu verhöhnen, ohne zu wissen, was denn an ihre Stelle treten sollte". Nicht alle seine Einwürfe stießen auf Resonanz. Viele seiner Zuhörer störte das Misstrauen, das Golo Mann den Deutschen gegenüber im tiefsten Herzen empfand.

Recht hatten sie darin. Golo Mann blieb den Deutschen gegenüber argwöhnisch. Immerhin steht er mit diesem Empfinden in bester Gesellschaft. Alle bedeutenden Kanzler der Bundesrepublik von Adenauer über Brandt bis Kohl teilten diese Skepsis und richteten ihre Politik danach.

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