Meine persönliche Story mit diesem Buch ist lang - man könnte sagen: Es war nicht "Liebe auf den ersten Blick".
Aber wie im Leben so oft ist es ja am Ende nicht das "Strohfeuer", sondern die gemächliche Glut, die uns dauerhaft erwärmt!
So auch hier:
Die Geschichte begann 1976, als ich, 20-jährig, das Buch als "Anerkennung für gute Leistungen" im Rahmen meiner Ausbildung überreicht bekam.
Oh je!
Was macht ein 20-jähriger mit einem Geschichtsbuch, über 1000 Seiten dick und verfasst von einem Menschen mit dem seltsamen Vornamen "Golo"?
Also, was macht ein durchschnittlicher 20-jähriger damit?
Richtig:
Wenn´s gut läuft, dann landet es im Regal bei den anderen Büchern, wenn´s schlecht läuft - beim Altpapier.
Nun ja, bei mir lief es gut -
und so stand das Buch für die nächsten 25 Jahre ungelesen im Bücherregal.
Soweit die Vorgeschichte.
"Viel hat der europäische Genius erfunden und der Welt gegeben; Böses und Gutes, solche Dinge zumeist, die zugleich gut und böse waren. Darunter den Staat; darunter die Nation."
Mit diesen beiden Sätzen beginnt das Buch - und es sind Sätze wie diese, einfach, schön und schnörkellos, dabei scharfsinnig und treffend, die das Buch zu etwas Besonderem machen und Golo Manns monumentales Geschichtswerk auch sprachlich zum Kunstwerk erheben.
Golo Mann versteht es wie kein Zweiter, die deutsche Geschichte mit großem Sachverstand, mit scharfem Urteilsvermögen und mit einem enormen Detailwissen zu erzählen. Dabei fesselt er den Leser mit seiner geradezu genialen, ungemein spannenden und lebendigen Erzählweise: Bereits nach wenigen Seiten liest man sich geradezu fest!
Dabei ist sein Urteil stets ausgewogen, seine Darstellung stets objektiv.
Die Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, beginnt bei derfranzösischen Revolution und endet beim Wirtschaftswunder.
Die Entwicklung Deutschlands ist eng verküpft mit den Entwicklungen im europäischen Umfeld. Und so stehen die vielfältigen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen der deutschen und der europäischen Geschichte folgerichtig im Fokus dieses Werkes, das sich mittlerweile längst als ein Standardwerk in der Geschichtsliteratur etabliert hat. Gleich nach seinem Erscheinen wurde es zum Bestseller.
Deutschland mit seiner exponiert-zentralen Lage auf dem europäischen Kontinent, Spätzünder in seiner Entwicklung vom "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation", vom bloßen Staatenbund also, zum Nationalstaat, mit seinen Höhen und Tiefen, mit all seinen Widersprüchen:
Das Land der Dichter und Denker und gleichzeitig die Heimat des "Furor Teutonicus", ein Volk sowohl von furchterregender Effektivität als auch manchmal befallen von einer geradezu rätselhaft-typischen Melancholie, oft auch mit einer von den europäischen Nachbarn als Gefühlskälte empfundenen Pedanterie:
Auch die deutsche "Seele" wird hier einer genaueren Betrachtung unterworfen!
Wenn man Historie lediglich als Chronik, als Aufzählung von zurückliegenden Ereignissen also, als endlose, Aneinanderreihung von seelenlosen Fakten, Jahreszahlen und geografischen Daten betrachtet, dann wird man ihr nicht gerecht.
Denn Historie ist mehr als das:
Sie ist untrennbar verbunden mit dem menschlichen Leben, denn sie erzählt uns die Geschichte unserer Vorfahren, sie zeigt uns aber nicht nur deren äußeren Lebensumstände, nein, mehr noch:
Sie lässt uns teilhaben an ihrem Innersten, an ihren Wünschen, Gefühlen und Meinungen, an ihren Zielen und Wertvorstellungen, an ihren Vorlieben und Abneigungen, kurz: Sie gewährt uns im Idealfall einen Blick in die Herzen, ja in die Seelen derjenigen, die uns vorangingen.
Und Historie ist nichts Vergangenes oder Abgeschlossenes - nein, Historie ist allgegenwärtig, sie entsteht hier und jetzt, denn auch wir sind ein Bestandteil von ihr, und zwar vom Moment unserer Geburt an bis zu unserem Tode.
Historie wirkt in die Zukunft, denn die Gesetze der Kausalität bewirken es, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft untrennbar miteinander verknüpft sind. Wer einen Beweis dafür verlangt, dass die Taten eines Julius Cäsar, eines Bismarck oder eines Ferdinand Lassale bis heute wirken, der möge sich die Frage stellen: Was wäre die Welt heute ohne jenen Unbekannten, der das Rad erfand?
Wer also die Welt von heute verstehen will, der kommt nicht umhin, sich mit der Vergangenheit zu befassen: Eine hervorragende und unterhaltsame Möglichkeit, dies zu tun, ist die Lektüre dieses Buches!
"Wir hoffen, das, was die Nation von anderen Nationen immer unterschied und unterscheiden wird, auch wenn ephemere Gegensätze verschwunden sind, unsere schöne Sprache, werde nicht dürr und gemein werden, sondern ihren Adel erneuern; und mit ihr alles, was im Wort seinen Ausdruck findet. Geschähe es nicht, was würde alle wiedergewonnene Großmacht und Scheinmacht uns denn helfen?"
Mit diesen Sätzen beschließt Golo Mann sein Buch.
Könnte es ein besseres Schlußwort geben?
Ausführliche Rezension: www.litterae-artesque.de