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Der stille Tod eines Gentleman

Er war der "große Klare aus dem Norden", egal unter welchem Kanzler er diente. Doch der letzte Durchbruch gelang ihm nicht. Gerhard Stoltenberg starb jetzt im Alter von 73 Jahren

Wer ihm im letzten Sommer auf den Höhen über Bad Godesberg begegnete, bewunderte ihn. Tief von der schweren Krankheit gezeichnet, den Tod als unabwendbares Schicksal vor Augen, ging der einsame Spaziergänger den Weg, den er seit Jahrzehnten liebte: diszipliniert, wie man es von ihm, dem "großen Klaren aus dem Norden" gewöhnt war, aber dem irdischen Dasein schon spürbar entrückt. Jetzt ist Gerhard Stoltenberg im Alter von 73 Jahren in seinem Bonner Haus einem Krebsleiden erlegen. Mit seinem Tod ist die Riege der Unionspolitiker, für die Konrad Adenauer Lehr- und Zuchtmeister war, wieder ein Stück kleiner geworden. Als das "ordnungspolitische Gewissen" der Partei würdigte die CDU-Spitze den ehemaligen Bundesminister, der zehn Jahre lang am Kabinettstisch von Helmut Kohl saß, von 1982 bis 1989 als Chef des Finanz-, dann bis 1992 als Leiter des Verteidigungsressorts, und der mehrmals, auch in Konkurrenz zu Kohl, als möglicher Kanzlerkandidat galt. Stoltenberg war erfolgreich und machtbewusst. Den letzten Zipfel der Macht hat er indes nicht erreicht. In entscheidenden Situationen war er ein Zauderer, darin dem Bayern Franz Josef Strauß, zu dessen "Schattenkabinett" Stoltenberg im Bundestagswahlkampf 1980 gehörte, durchaus ähnlich.

Der Sohn eines lutherischen Pfarrers, am 29. September 1928 in Kiel geboren, musste als 16-Jähriger noch in den Krieg ziehen. Mit 17 kam er im Herbst 1945 aus britischer Gefangenschaft zurück. Der Abiturient verdingte sich zunächst als Rathausschreiber. Schon 1947 war er der CDU beigetreten. Die Junge Union wählte ihn 1955 zu ihrem Bundesvorsitzenden. Damit war er automatisch Mitglied des Bundesvorstandes - die neue Generation in der damaligen Honoratiorenpartei repräsentierend. 1957 zog er in den Bundestag ein. Er war zwar Neuling auf der Bonner Parlamentsbühne, aber das Wort "Hinterbänkler" war bei ihm annulliert, wie Walter Henkels, der scharfe Beobachter politischer Charakterköpfe, schon in den sechziger Jahren notierte. Stoltenberg hatte seinen Aufstieg keiner Intervention zu verdanken. Eher seiner klugen Entscheidung, sich der Haushalts- und Finanzpolitik zu verschreiben.

Dass er 1965 die Leitung der Abteilung Wirtschaftspolitik des Krupp-Konzerns übernahm, hat seiner politischen Karriere gewiss nicht geschadet. Noch im selben Jahr holte ihn Bundeskanzler Ludwig Erhard als Forschungsminister in seine Regierung. Bis zum Ende der Großen Koalition (1969) unter Erhards Nachfolger Kurt-Georg Kiesinger blieb er auf diesem Posten. In der Opposition profilierte er sich weiter als finanzpolitischer Experte, bis er 1971 als Nachfolger Helmut Lemkes auf den Stuhl des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten wechselte. Erst 1982 kehrte er nach Bonn zurück: als Finanzminister Helmut Kohls. Stoltenberg war ungeachtet seiner Neigung zur Finanz- und Haushaltspolitik eher der Typ des selten gewordenen Generalisten mit umfassender Bildung. Er studierte Geschichte, Philosophie und Soziologe; er befasste sich mit der Historie des 19. und 20. Jahrhunderts, mit Statistik und Bevölkerungslehre, er setzte sich mit der Philosophie des deutschen Idealismus und den Anfängen des Marxismus auseinander. Sein Dissertationsthema hieß: "Der Deutsche Reichstag von 1871 bis 1873". Er schrieb für Zeitungen, unter anderem für die WELT. Während eines USA-Aufenthaltes knüpfte er wichtige Kontakte, darunter zu Henry Kissinger.

1960 wurde Stoltenberg, mehrere Jahre Assistent bei Professor Michael Freund in Kiel, Dozent für Neuere Geschichte. Seine Untersuchungen über die politische Situation des schleswig-holsteinischen Landvolks von 1918 bis 1933 wurden von der Philosophischen Fakultät der Uni Kiel als Habilitationsschrift angenommen. Seine Antrittsvorlesung galt aber, passend zur maritimen Tradition seiner norddeutschen Heimat, "Tirpitz und seiner Flottenpolitik im Urteil der Geschichtsschreibung". Er hätte auch als Wissenschaftler Karriere machen können. Stattdessen verband er die Wissenschaft von der Politik mit der praktischen Politik. Als junger Abgeordneter kam er seit 1960 einmal in der Woche an seine alte Universität zu Vorlesungen und Seminarübungen. Er blieb auf Schleswig-Holstein fixiert. 1962 bot man ihm das Kultusressort an. Doch Stoltenberg entschied sich vorerst für Bonn. Erst neun Jahre später wechselte er, als Regierungschef, an die Förde. Er hat wie kein anderer das neue Gesicht dieses Landes geprägt. Die Staatskanzlei in Kiel war in seiner Regierungszeit nicht nur Entscheidungszentrum eines Bundeslandes. In ihr wurde während der Oppositionszeit der Union im Bund innovativ gedacht.

Der Ministerpräsident sammelte um sich Leute mit analytischem Verstand. Die Liberalisierung der Medienpolitik, speziell das Aufbrechen der verkrusteten, monopolistischen Strukturen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens, wäre ohne ihn (und seinen niedersächsischen Amtskollegen Ernst Albrecht, CDU) so kaum möglich gewesen. Freilich, Stoltenberg gab sich, wie manch anderer auch, etlichen Illusionen hin, aber letztlich gehört diese Reformpolitik zum Pluskonto seiner Kieler Arbeit. Als Landesvorsitzender hat er der Union im Norden Selbstvertrauen und Bedeutung in der Gesamtpartei verschafft - bis die Affäre um seinen Nachfolger Uwe Barschel im Herbst 1987 ihr Ansehen verdunkelte. Auch Stoltenberg, damals schon fünf Jahre Minister in Bonn, geriet in den Sog dieses politisch unappetitlichen Skandals. War er nicht souverän genug, hat er die Dimensionen dieser Angelegenheit nicht rechtzeitig erkannt, haben seine analytischen Fähigkeiten, seine Sensoren für politische Unwetter versagt? Mit diesen Fragen wurde der allseits als politischer Gentleman anerkannte Spitzenmann der Union fortan konfrontiert. Die Affäre belastete auch Stoltenbergs Position in Bonn; Parteifreunde können unerbittlich sein, wenn jemand Schwächen zeigt. 1989 musste der Mann, der nach der Bonner Wende im Herbst 1982 Ordnung in die Staatsfinanzen gebracht und eine Steuerreform eingeleitet hatte, das Amt des Finanzministers an Theo Waigel (CSU) abgeben. Er zog als Verteidigungsminister auf die Hardthöhe. Dort wartete noch einmal eine große, aber heikle Aufgabe auf ihn: die Integration der Nationalen Volksarmee der untergegangenen DDR in die Bundeswehr. Er hat auch diesen Auftrag mit Disziplin und Takt ausgeführt. 1992 wird die umstrittene Lieferung von 15 Panzern an die Türkei bekannt. Stoltenberg, der sichtlich Gefallen an seiner Rolle als Verteidigungsminister gefunden hatte, tritt zurück. Zum Nachfolger beruft Kohl den Hamburger Volker Rühe, der im Jahr 2000 als Spitzenkandidat der CDU bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein versucht, für die Union Land zurückzugewinnen - mit Unterstützung des Ehrenlandesvorsitzenden Gerhard Stoltenberg. Der aber hat sich zu diesem Zeitpunkt längst von der politischen Bühne verabschiedet. Es war still geworden um ihn. Und still ist er auch aus dieser Welt gegangen.

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