Schlüsselwörter

1 Zur Einführung

1993 trat der damalige Bundesminister des Innern, Rudolf Seiters (CDU), zurück, als Zweifel an der Korrektheit eines Einsatzes der GSG 9 im Kampf gegen den Terrorismus nicht umgehend aufgeklärt werden konnten. Von manchen wurde der Schritt als honorige Übernahme politischer Verantwortung betrachtet (vgl. Fack 1993), von anderen als voreilig angesehen (vgl. Kremp 1993). Ähnlich gegensätzliche Kommentare zog Christa Thoben (CDU) auf sich, als sie 2000 nach nicht einmal vier Monaten ihr Berliner Senatorenamt mangels hinreichender Unterstützung durch den Regierenden Bürgermeister wieder aufgab: Für die einen lag in ihrem Rücktritt ein konsequenter Appell, für andere ein „Kneifen“ vor der gestellten Aufgabe (Philipp 2007, S. 111–113).

Die Interpretation eines Rücktritts vom Amte als Ausdruck verantwortungsbewussten Handeln scheint nicht selbstverständlich zu sein. Wie ist sie zu erklären? Welche Entwicklung hat zu der in Deutschland vorherrschenden Auffassung geführt? Und gibt es Wandlungen zu einem in jüngerer Zeit beklagten Verlust an Rücktrittskultur (Kurz 2021; Prantl 2018 und 2021)?

2 Zur Entwicklung der Ministerverantwortlichkeit in Deutschland

Bekanntermaßen ist Demokratie in Deutschland kein „einheimisches Gewächs“, sondern ein adaptiertes Importgut. Während in England bereits im 18. Jahrhundert die Doktrin des „responsible government“ entwickelt worden war (vgl. Klemmt 1983; Wellenreuther 1982; Williams 1960, S. 67–135), wurde in deutschen Landen erst nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft das Verlangen nach bürgerschaftlicher Mitgestaltung der Politik unüberhörbar. Dafür bot sich eine Orientierung am britischen Vorbild an (vgl. Fraenkel 1991, S. 54–57; Fehrenbach 2007, S. 1–8), wie es von französischen Autoren analysiert worden war (zuletzt: Constant 1815).

Angesichts der traditionalen Legitimation monarchischer Herrschaft im Deutschen Bund (vgl. Müller 2006, S. 1–5) hatten angelsächsische Vertrauensargumentationen (vgl. hierzu Plöhn 2013, S. 43–56), im Deutschland des 19. Jahrhunderts keine Anknüpfungspunkte. So fand auch Benjamin Constant (vgl. 1815, S. 38–43 und 122 f.), der in den Ministern den aktiven Teil der Staatsführung, im Monarchen die der Regierung Vertrauen gewährende und Konflikte mit der Volksvertretung schlichtende Instanz gesehen hatte, in Deutschland keine Anerkennung. Vielmehr ging der deutsche Konstitutionalismus von einer aktiven Rolle des Monarchen als dem tatsächlichen Regenten aus. Zur Sicherstellung seiner Bindung an die Verfassung sollte der Fürst für die Gültigkeit seiner Anordnungen an die Gegenzeichnung eines von ihm ernannten Ministers gebunden sein, wobei es sich um „Großbeamte“ (vgl. Mohl 1837, S. 33 und 87 f.) handelte, die bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Herrscher entlassen werden konnten.

Der obrigkeitlichen Vertrauensinvestition stand seitens der Volksvertretung das Recht gegenüber, vom „beiwirkenden“ Minister Rechenschaft zu fordern (vgl. Buddeus 1833, S. 7 und 14) und ihn damit „zur Verantwortung zu ziehen“. Zu politischen Inhalten kamen jedoch nur verbale Rechtfertigungen vor dem Parlament in Betracht; bei einer parlamentarisch festgestellten Verfassungsverletzung konnte – theoretisch – eine dem in England bereits obsolet gewordenen „Impeachment“ (vgl. Lamer 1963, S. 57–63) nachgebildete, staatsrechtlich begründete Ministeranklage folgen. Denn dem Minister kam aus Sicht der Volksvertretung eine Garantenstellung für die Einhaltung der Verfassung zu. Die Einstandsverpflichtung der Minister war danach auf formale Aspekte begrenzt. In Preußen wurde jedoch ein Ausführungsgesetz zur Ministerverantwortlichkeit (Art. 44 Verf. für den preuß. Staat) nie erlassen (vgl. Hahn 1977, S. 3–27); auch in kleineren Staaten hat die Ministeranklage (für eine Übersicht vgl. Kühne 1989, S. 64), die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt.

Hatte Buddeus (vgl. 1833, S. 5 f.) im Minister den „Prügelknaben“ des Fürsten gesehen, besaß der Minister doch ein Amtsgewissen. Gelangte er zu der Überzeugung, mit seiner Gegenzeichnung eines Herrscheraktes seinen auf die Verfassung geleisteten Amtseid zu verletzen, so richtete sich auf ihn die Erwartung, statt den verfassungswidrigen Akt mitzutragen, auf sein Amt zu verzichten. Mit deutlich ethischer Komponente wurden somit Verbleib im oder Rücktritt vom Amte politisch-existenzielle Gewissensentscheidungen. Eine solche Selbstaufopferung entsprach jedoch nicht den in einer Beamtenkarriere eingeübten Erwartungsmustern, wozu Max Weber (1988, S. 377) 1918 einen kategorialen Unterschied zwischen Beamten und Politikern formulierte:

„Der Beamte hat seine eigenen Überzeugungen seiner Gehorsamspflicht zu opfern. Der leitende Politiker hat die Verantwortung für politische Handlungen öffentlich abzulehnen, wenn sie seiner Überzeugung widersprechen, und hat dieser seine Amtsstellung zu opfern“.

Hierfür erkannte Weber (1988, S. 340) in parlamentarischen Regierungssystemen günstigere Voraussetzungen als im deutschen Konstitutionalismus. Entscheidend sei, ob „der politische Leiter als Vertrauensmann eines machtvollen Parlaments die Verantwortung“ (ebd., S. 378) zu tragen hat. In England habe sich allerdings die Abhängigkeit des Premierministers bereits vom „Vertrauen des Parlaments“ auf eine solche von der Wählermehrheit verschoben. Das Parlament wirke sodann als stabilisierender Faktor, da es einen „cäsaristischen Diktator“ ausschalten könne, falls dieser „das Massenvertrauen verloren hat“ (ebd., S. 395).

3 Strukturelle Aspekte von Vertrauen und Verantwortung

Im parlamentarischen Regierungssystem liegen die Investition politischen Vertrauens in die Regierung und die Geltendmachung politischer Verantwortung bei der gleichen Institution. Gouvernemental-administrative und parteipolitisch-kommunikative Aspekte der Tätigkeit eines Kabinettsmitglieds können sich dadurch überlagern, sodass Rücktrittsanalysen sowohl politische Verantwortung als auch politisches Vertrauen nach ihrer jeweiligen Rationalität zu beachten haben.

Dabei weist politisches Vertrauen durch das Anvertrauen von Entscheidungskompetenzen einen Handlungsbezug auf. Seitens eines rational kalkulierenden Treugebers – der Wählerschaft, Partei, Parlamentsmehrheit – hat es sowohl die Fähigkeiten des Treuhänders (potenzialorientierte Komponente) als auch dessen Absichten (intentionale Komponente) einzubeziehen (vgl. Plöhn 2013, S. 176–184).

Verantwortung ist in der philosophischen Diskussion deutlich als mehrstellige Relation konturiert worden: (1.) Ein Träger der Verantwortung (Subjekt) ist gegenüber (2.) einer Instanz für (3.) einen Zuständigkeitsbereich nach Maßgabe von (4.) normativen, gegebenenfalls erst aufgrund eines Geschehnisses konkretisierten Elementen rechenschaftspflichtig, wozu nach politisch-juristischer Auffassung noch (5.) eine mögliche Sanktion hinzutritt (ebd., S. 186–203).

Politische Verantwortung ist über den Zuständigkeitsbereich an das übertragene Amt gebunden. Nach ihrem Zweck handelt es sich um eine Internalisierung externer Effekte: Das Regierungsmitglied hat mit seiner Person für das einzustehen, was ihm in amtlicher Funktion zuzurechnen ist. Das – stets medial hergestellte – politische Vertrauen kann dagegen auch durch Aspekte tangiert sein, die außerhalb der amtlichen Sphäre liegen. Durch Kombination von aktiver („verantwortungsbereiter“) oder reaktiver Haltung des Amtsträgers einerseits mit der Verfolgung eigener Ziele oder der Vorwerfbarkeit eines Vorgangs andererseits lassen sich danach vier Kategorien von Rücktritten erkennen:

  • Anlastung (vorwerfbar-reaktiv): Ein Geschehnis wird einem Regierungsmitglied von einem Dritten angelastet.

  • Übernahme (vorwerfbar-aktiv): Ein Kabinettsmitglied erkennt selbst die Vorwerfbarkeit eines Geschehens.

  • Ablehnung (zielgebunden-reaktiv): Das Regierungsmitglied entzieht sich einer ihm „angesonnenen“ Handlung.

  • Appell (zielorientiert-aktiv): Ein Minister nutzt seinen Rücktritt als Fanal für seine Auffassung.

Diese Differenzierung liegt den nachfolgenden Analysen zugrunde.

4 Rücktritte 1949–1989 in exemplarischer Auswahl

Der erste Ministerrücktritt auf Bundesebene betraf gut ein Jahr nach Konrad Adenauers (CDU) Regierungsbildung Innenminister Gustav Heinemann. Der prominente Protestant, als Präses der EKD-Synode zugleich Exponent einer gesamtdeutschen Institution, war auf Wunsch evangelischer Politiker in der CDU/CSU-Fraktion in die Regierung berufen worden (vgl. Schwarz 1994, S. 629 f. und 633; Jesse 2001a, S. 310 f.; Philipp 2007, S. 102 f.). Bei ihm lagen die Kompetenzen des Bundes zur Inneren Sicherheit. Aus Adenauers Sicht konnte der Aufbau einer Bundespolizeitruppe die Möglichkeit eröffnen, als Pendant zur Kasernierten Volkspolizei der DDR eine bewaffnete Macht aufzubauen, die in eine reguläre Armee umgewandelt werden konnte. Für Heinemann kam eine solche Perspektive aus verschiedenen Gründen nicht in Betracht. Nach vorherigen Spannungen kam es über ein unabgesprochenes „Sicherheitsmemorandum“ des Kanzlers für den US-amerikanischen Hochkommissar bezüglich eines deutschen Verteidigungsbeitrags zum Bruch mit Heinemann, der eine Verletzung der Kompetenzen der Bundesregierung rügte (vgl. Beucker und Überall 2011, S. 46–50). Ohne Unterstützung aus dem Kabinett geblieben, bot Heinemann (1950) dem Kanzler schriftlich seinen Rücktritt an, den Adenauer verzögert annahm. Erst 1952 verließ Heinemann auch die CDU. Sein schrittweises Vorgehen dokumentiert eine ablehnende, keine appellierende Haltung (vgl. Schwarz 1994, S. 766 f. und 772 f.).

Das Ausscheiden der beiden ersten Verteidigungsminister erfolgte unfreiwillig. Theodor Blank (CDU), von Adenauer als relativ junger, katholischer Gewerkschafter ausgewählt, konnte die vom Kanzler gewünschte und diesem zugesagte zügige Aufstellung der Streitkräfte nicht sicherstellen (vgl. Gotto 2001, S. 137 und 140). Blanks Ersetzung bei einer Umgruppierung anlässlich des Ausscheidens von Ministern, die für FDP und GB/BHE in den Bundestag gewählt worden waren (vgl. Schindler 1999, S. 1032 f.), vermied nach negativer Diskussion eine Demütigung und ermöglichte Blanks erneute Berufung ins Kabinett, dann für Arbeit und Sozialordnung.

Blanks Nachfolger, Franz Josef Strauß (CSU), erfüllte die in ihn gesetzten Aufbauerwartungen, doch setzte die „FIBAG-Affäre“ um US-amerikanische Bauprojekte seinem Ansehen zu (vgl. Seifert 1966, S. 48–55; Kipke 1985, S. 139–141; Huge et al. 1989, S. 45–49; Möller 2015, S. 225–243). Fragen einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr, Strauß‘ politischer Ehrgeiz wie auch sein Auftreten hatten das Magazin Der Spiegel Zweifel an Strauß‘ politischen Intentionen nähren lassen, sodass eine wechselseitige Abneigung bestand. Die sog. „Spiegel-Affäre“ mit einer unsensiblen und letztlich erfolglosen Strafverfolgung von Journalisten belastete durch die Involvierung des Kanzlers, aber Umgehung des zuständigen Bundesjustizministers, Wolfgang Stammberger (FDP), die Koalition (vgl. Seifert 1966, S. 56–212; Schwarz 1983, S. 261–288; Morsey 2000, S. 75 f.; Görtemaker 1999, S. 381–386; Schindler 1999, S. 1035 f.; Philipp 2007, S. 206–209; Möller 2015, S. 243–283). Angesichts geschickter oppositioneller Fragen im Bundestag und teils unzutreffender Einlassungen (vgl. Deutscher Bundestag 1962, S. 2081–2084; Käsler et al. 1991, S. 88–115; Krieger 2001, S. 693) wurde Strauß koalitionspolitisch unhaltbar. Auch die ministerielle Rolle eines „Sündenbocks“ für den Regierungschef schwang mit. Gouvernemental wurde erneut durch eine Kabinettsumbildung eine autoritative Anlastung vermieden.

Der durch das Zusammenspiel seines Staatssekretärs mit dessen Kollegen aus dem Bundesverteidigungsministerium desavouierte Bundesminister der Justiz, Wolfgang Stammberger (FDP), schon über die „FIBAG-Affäre“ mit Strauß aneinandergeraten, war im Zuge der Affäre gemeinsam mit seinen Parteikollegen demissioniert. Die unterlassene Informierung musste als Vertrauensbruch seines ranghöchsten Beamten Zweifel an Stammbergers Führungsfähigkeit wecken (vgl. Schwarz 1983, S. 269–271; Altenhof 2001, S. 671 f.; Philipp 2007, S. 97 f.). Sein Amtsverzicht entspricht – bei begrenzten bundespolitischen Ambitionen (vgl. Kuhn 1977, S. 97) – der Übernahme des eingetretenen potenzialbezogenen Vertrauensverlustes.

Unter Stammbergers Amtsnachfolger, Ewald Bucher (FDP), wurde im Zuge rechtspolitischer Reformen die damalige 20-jährige Verjährungsfrist für Mord diskutiert, durch die NS-Verbrechen nach 1965 nicht mehr hätten verfolgt werden können. Gegen die moralischen und außenpolitischen Argumente für eine Aufhebung der Verjährung wandte sich Bucher mit Hinweisen auf Rechtsfrieden, Vertrauensschutz und erfolgte Resozialisierung der Täter. Als die CDU/CSU sich für diese Tätergruppe mit einer prinzipienlosen Hinausschiebung des maßgeblichen Berechnungsbeginns vom Kriegsende auf den 1. Januar 1950 durchsetzen konnte, zog Bucher aus seiner Niederlage die Konsequenz, als Exponent einer anderen Auffassung die Regierung zu verlassen (vgl. Fromme 2001, S. 189; Kuhn 1977, S. 99). Der Rücktritt erfolgte somit aus Ablehnung der Mehrheitsmeinung zu Buchers Policy-Bereich, hinderte ihn jedoch nicht daran, nach der Wahl von 1965 unter dem gleichen Kanzler für ein anderes Ressort erneut in die Bundesregierung einzutreten (vgl. Schindler 1999, S. 1037 f. und 1041).

Paul Lücke (CDU), seit 1957 Mitglied der Bundesregierung und früher Befürworter einer „Großen Koalition“, war bei deren Zustandekommen als Innenminister im Amte verblieben. Zu seinen Projekten zählte neben der Notstandsverfassung eine Wahlrechtsreform, für die er sich schon 1962 in Sondierungen mit der SPD eingesetzt hatte (vgl. Schwarz 1983, S. 278 f. und 286) und die 1966 in die Regierungserklärung Bundeskanzler Kiesingers aufgenommen wurde (vgl. Deutscher Bundestag 1966, S. 3657). Mit dem Wechsel zum Mehrheitswahlrecht hatte Lücke auch sein persönliches politisches Schicksal verknüpft (vgl. Jesse 2001b, S. 458; Hildebrand 1984, S. 363). Als die Koalitionspartner nach Vorlage eines Expertengutachtens am 11. Januar 1968 vereinbarten, die Einbringung hierauf beruhender Gesetzestexte erst nach dem im März (17. bis 21. März 1968) bevorstehenden SPD-Parteitag (vgl. Osterroth und Schuster 2001) anzusetzen, ließ sich Lücke darauf ein, wollte sie aber noch vor Ostersonntag, dem 14. April 1968, realisieren. Da die Sozialdemokraten die Wahlrechtsreform auf dem Parteitag nicht weiter verfolgten, Willy Brandt sie als ein für seine Partei unverbindliches Vorhaben darstellte und Herbert Wehner Lücke dessen geringfügige zeitliche Konzession als Verzögerung vorhielt, entschloss sich dieser zum Rücktritt, ließ sich hiervon jedoch kurzzeitig wieder abbringen, um den Schritt nach einer Konfrontation mit dem Kanzler definitiv zu machen. Durch den etwas inkonsequenten Abgang war die Demission des Exponenten der Wahlreform in Ablehnung der faktisch gefallenen Entscheidung nicht allgemein überzeugend (vgl. Philipp 2007, S. 258–260; Hildebrand 1984, S. 363).

Unter Willy Brandt hatte Bundesfinanzminister Alex Möller (SPD) in inflationären Zeiten auf fiskalpolitische Stabilität Wert gelegt. Nach internen Niederlagen zu Steuererhöhungen und dem damaligen „Konjunkturzuschlag“ sowie wiederholten vorangegangenen Rücktrittsdrohungen nahm Brandt im Mai 1971 ein Rücktrittsgesuch Möllers an, mit dem dieser erneut unter Selbsteinsatz einen Appell zur Wahrung der Haushaltsdisziplin verbunden hatte (vgl. Plöhn 2015, S. 380–392).

Möllers Nachfolger wurde – nunmehr mit einem Doppelressort – der seit 1966 amtierende Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD), der mit „Globalsteuerung“ und „Konzertierter Aktion“ werbewirksame Begriffe geprägt und Erwartungen hinsichtlich einer erneuerten Marktwirtschaft geweckt hatte. Im Amt sah sich Schiller mit Inflationsbekämpfung, Steuerpolitik, internationalen Währungskrisen und Fiskalpolitik einem breiten Themenspektrum gegenüber, das Anlässe zu Spannungen mit Kabinettskollegen und Parteifreunden bot. Der Minister überstand sie ebenso wie die mehrfach von Journalisten festgestellten Verquickungen privater mit öffentlichen Interessen. Erst eine demonstrative währungspolitische Niederlage im Kabinett führte zum Rücktritt, da Schiller – nach seinem Selbstverständnis Garant der Marktwirtschaft – die beschlossene Maßnahme als dirigistisch ablehnte (vgl. Lütjen 2008, S. 332–346; Plöhn 2015, S. 402–424).

Der Rücktritt Willy Brandts (SPD) im Zusammenhang mit der „Spionageaffäre Guillaume“ vollzog sich aufgrund multipler Ursachen nach streikbedingter Lähmung des Luftverkehrs, hartem Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst, erster Ölkrise und deren wirtschaftlicher Folgen, innerparteilichen Spannungen und kritischen Stimmen aus der SPD-Führung bei schwacher psychischer Konstitution des Kanzlers (vgl. Plöhn 2015, S. 454–484). Zurücktretend übernahm dieser deklaratorisch die „politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume“ (vgl. Brandt 1974, S. 557). Damit lenkte Brandt von den ihm anzulastenden politischen Problemen ab wie auch von vertrauensrelevanten Fragen. In Umkehrung der seit dem Konstitutionalismus vertrauten Relation zwischen Regierungschef und Minister deckte Brandt zugleich den wesentlich stärker in den Spionagefall involvierten, aber als Koalitionspartner unverzichtbaren Innenminister, Hans-Dietrich Genscher (FDP).

Mit Brandt schieden neben anderen die Minister Horst Ehmke und Lauritz Lauritzen (beide SPD) aus dem Kabinett. Dem Erstgenannten war öffentlich die Einstellung des DDR-Spions Günter Guillaume angelastet worden (vgl. Billing 2001, S. 215), dem letzteren sein Unvermögen, einen Konflikt mit den Fluglotsen beizulegen (vgl. Jahn 2001, S. 412). Auch hier wurde regierungsseitig durch die Kabinettsneubildung eine individuelle Abrechnung vermieden. Da Ehmke für Brandts zweites Kabinett aus dem Kanzleramt in das Doppelressort für Forschung und Technologie sowie Post- und Fernmeldewesen gewechselt war (vgl. Kuhn 1977, S. 107; Plöhn 2015, S. 487–501), bezogen sich die öffentlichen Anlastungen auf die Person, das Subjekt der Verantwortung, nicht auf deren aktuellen Kompetenzbereich.

Der von Helmut Schmidt (SPD) in sein Kabinett übernommene Erhard Eppler (SPD) schied 1974 bereits sieben Wochen später protestierend aus der Regierung aus, da er sich in einer angenommenen Garantenstellung für die Entwicklungshilfe ungeachtet eines Haushaltszuwachses mit seiner Auffassung über vermeintlich zugesagte höhere Finanzmittel nicht hatte durchsetzen können. Die Konsequenzen seiner Niederlage glaubte er aus Gründen der persönlichen Integrität mit appellierender Presseerklärung ablehnen zu müssen (vgl. Plöhn 2015, S. 503–516). Hierzu kontrastierend wurde 1976 für die nächste Wahlperiode Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt (SPD) nicht mehr in die Regierung berufen. Die massiven – von Arendt geleugneten und im Wahlkampf auch von Schmidt bestrittenen – Finanzierungsprobleme in der Rentenversicherung (vgl. Apel 1990, S. 24) waren mit dem Verlust persönlicher Vertrauenswürdigkeit des Ministers und potenziell auch des mitbetroffenen Kanzlers verbunden. Der bei der Regierungsneubildung – ohne Arendt – vereinbarte Kompromiss zur Unternehmensmitbestimmung ermöglichten es dem Minister, gesichtswahrend sein Ministerium in Ablehnung dieser Entscheidung zu verlassen, ohne sich parlamentarisch für seine Versäumnisse zu verantworten: Rücktritt anstelle von Rechenschaft (vgl. Plöhn 2015, S. 520–541).

Georg Leber (SPD), seit 1966 Mitglied der Bundesregierung, war von Schmidt nach innerparteilichen Konflikten und mehreren „Generalsaffären“ nur in Ermangelung einer plausiblen personellen Alternative 1976 im Verteidigungsministerium belassen worden. Auch bei einem Rücktrittsangebot wegen einer „Spionageaffäre“ fehlte Schmidt ungeachtet wachsender Zweifel an Lebers Führungsfähigkeit ein personeller Ersatz. Nachfolgend geriet Leber durch Veröffentlichungen über rechtswidrige Abhörmaßnahmen des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) vor dem Hintergrund der zuvor gegen Innenminister Werner Maihofer (FDP) erhobenen Vorwürfe zum wiederholten Male unter Rechtfertigungsdruck, verteidigte sich kontraproduktiv mit Angriffen auf die ihm ursprünglich wohlgesonnene Opposition und verstieg sich in die Behauptung der Singularität des gerügten Vorkommnisses, die sich umgehend als unhaltbar herausstellte. Hieraus zog Leber die Konsequenz, in aktiver Übernahme seiner politischen Verantwortung für die Vorgänge zur Bewahrung seiner intentionalen Vertrauenswürdigkeit seinen Rücktritt zu erklären. Erneut wurde dabei das Ausscheiden für eine Regierungsumbildung genutzt (vgl. Furtak 2001, S. 417 f.; Plöhn 2015, S. 541–562).

Als linksliberaler Exponent des Rechtsstaatsflügels der FDP war Maihofer 1972 in die Bundesregierung gelangt und 1974 Innenminister geworden. Seine pathetische Freiheitsrhetorik geriet in Spannung zur Politik seines Hauses, als Informationen über das Abhören eines Managers der Kernenergiebranche im persönlichen Umfeld einer Anwältin mit Kontakten zur Terrorszene publik wurden. Die Maßnahme sorgte für einen dauerhaften Reputationsverlust Maihofers im linken und linksliberalen Spektrum, verstärkt durch das Bekanntwerden von Fahndungskriterien des Bundesgrenzschutzes bei der Suche nach Linksextremisten. Entscheidend negativ wirkte sich indes ein Bericht zu Fahndungspannen während der Schleyer-Entführung aus, der dem Innenminister vor zwei – von der FDP verlorenen – Landtagswahlen unsinnige Eingriffe in die Ablauforganisation anlastete. Bilanzierend trat Maihofer zurück (vgl. Kailitz 2001, S. 463–465; Plöhn 2015, S. 570–587).

Im Wirtschaftsleben bewährt und finanziell unabhängig hatte Otto Graf Lambsdorff (FDP) von seinem Parteifreund Hans Friderichs 1977 das Wirtschaftsministerium übernommen. Mit undiplomatisch klaren Formulierungen als Exponent der Marktwirtschaft profiliert, hatte sich Lambsdorff als einer der Protagonisten des Koalitionswechsels seiner Partei von 1982 bei linksorientierten Journalisten und Politikern unbeliebt gemacht (vgl. Germis 1988, S. 87). Da Lambsdorff in der FDP als Schatzmeister des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen tätig war, ergab sich gegen ihn im Zuge der „Flick-Parteispenden-Affäre“ bei einer Vermögensumschichtung des Industriellen Friedrich Karl Flick ein Anfangsverdacht auf Steuerstraftaten sowie Korruptionsbeziehungen (vgl. Philipp 2007, S. 216–218; Käsler et al. 1991, S. 239–269). Lambsdorff trat zurück, als das Landgericht Bonn das Hauptverfahren gegen ihn eröffnete, er sich somit gerichtlich verteidigen und seine intentionale Vertrauenswürdigkeit als beschädigt ansehen musste. Nachdem im Prozess der Hauptvorwurf fallengelassen und Lambsdorff nur wegen funktionsbedingter Steuervergehen zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, konnte er politisch wie ökonomisch erneut aktiv werden, blieb aber außerhalb der Bundesregierung. Faktisch rehabilitierend betraute ihn später Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit einem Sonderauftrag zur Verhandlung über Entschädigungen für NS-Zwangsarbeiter (vgl. Andersen 2001, S. 407–409).

Vor diesem Erfahrungshintergrund konnten spätere Fälle nach der Wiedervereinigung gesehen werden, die nun nach Fallgruppen kategorisiert dargestellt werden.

5 Rücktritte 1990–2022 in kategorialer Zusammenfassung

5.1 Eigenes Handeln und Unterlassen im aktuellen Ressort

Wie zuvor etwa Blank, Strauß, Arendt und Maihofer fallen unter Gerhard Schröder die Rücktritte von Andrea Fischer (Grüne, Gesundheit) und Karl-Heinz Funke (SPD, Landwirtschaft) im Januar 2001 in die Kategorie der Regierungsmitglieder, die aufgrund von Kritik an ihrem persönlichen Verhalten im Amt ausgeschieden sind. Denn aus zunächst verharmlosenden ministeriellen Verbraucherinformationen zu der damals bei Viehzüchtern grassierende BSE-Epidemie resultierten im weiteren Verlauf vorwerfbare Widersprüche (vgl. Philipp 2007, S. 192 f.; Metzler 2008, S. 193; Detjen 2008, S. 215; Feldkamp 2011, S. 508 f.).

Christine Lambrecht (SPD), die bei Franziska Giffeys (SPD) unter Plagiatsvorwürfen erfolgtem, jedoch mit landespolitischen Ambitionen begründeten Ausscheiden aus der letzten Regierung Angela Merkels (CDU) zusätzlich zum Justizressort 2021 kurzzeitig auch noch mit der Führung des Familienministeriums beauftragt worden war (Redaktion Datenhandbuch 2022, S. 15 in Abschn. 6.2), hatte im Kabinett von Olaf Scholz (SPD) das Verteidigungsministerium übertragen bekommen (ebd., S. 16 in Abschn. 6.2). Eine persönliche Neigung zu diesem Ressort oder sicherheitspolitische Qualifikationen waren weder vor noch während der Amtszeit zu erkennen (vgl. Gaschke 2023). Zu potenzialbezogenen Zweifeln an ihrer fachlichen Eignung, die durch ungeschickte öffentliche Äußerungen verstärkt wurden (vgl. Hermann und Knapp 2023), zog sich Lambrecht wegen eines Hubschrauberfluges mit ihrem Sohn weiterhin – intentional orientierte – Vorwürfe einer Verquickung familiärer und öffentlicher Interessen zu (vgl. Lohse 2023; Seliger 2023; Spiegel Online 2023). Der ursprünglich vom Kanzler für sein Kabinett angestrebte Geschlechterproporz vermittelte Lambrecht eine zu geringe Basis, um sich dauerhaft im Amte zu halten (vgl. Müller 2023; Panagiotidis und Achterberg 2023), sodass sie dieses nach lediglich dreizehn Monaten unter Vorwürfen mangelnder Eignung niederlegte.

5.2 Einstehen für Handeln oder Unterlassen anderer im eigenen Ressort

Parallel zu Georg Lebers Fall lassen sich Vorgänge identifizieren, die der politischen Spitze zwar organisatorisch zugerechnet werden, von ihr aber nicht effektiv kontrolliert werden konnten. So erklärte Gerhard Stoltenberg (CDU), nach der „Pfeiffer-Barschel-Affäre“ vom Finanz- (1982–89) zum Verteidigungsministerium (seit dem 21. April 1989) gewechselt, am 31. März 1992 seinen Rücktritt vom Amte, als entgegen einer vom Haushaltsausschuss des Bundestages verhängten Sperre 15 Leopard-I-Panzer an die Türkei geliefert worden waren (vgl. Biermann 2001, S. 683, Schindler 1999, S. 1054–1057; Fromme 1992).

Am 7. Juli 1993 trat Rudolf Seiters (CDU) als Innenminister zurück, als bei einer geplanten Verhaftung zweier Terrorverdächtiger einer der Gesuchten sowie ein GSG-9-Beamter durch Schusswaffen im mecklenburgischen Bad Kleinen den Tod fanden, wobei zum Zeitpunkt des Rücktritts die näheren Umstände der Todesfälle noch nicht abschließend aufgeklärt waren (vgl. Seiters 1993; Sobotta 1993; Wittke 1993; Kabel 2001, S. 665 f.).

Beide Minister zeigten sich zur Kanalisierung des Unmutes zum Einstehen für administrative Fehler bereit, wobei Stoltenberg bevorstehende Landtagswahlen einzubeziehen hatte, Seiters nach früheren Diskussionen die persönlichen Konsequenzen.

5.3 Einstehen für Vorgänge in einem früheren Zuständigkeitsbereich auf Bundesebene

Wie im Falle Horst Ehmkes sind unter Angela Merkel die Minister Franz Josef Jung (CDU) und Hans-Peter Friedrich (CSU) ausgeschieden, ohne dass ihnen ein Vorwurf mit Bezug zu ihrem aktuellen Ressort gemacht worden ist. Arbeits- und Sozialminister Jung zog mit seinem Rücktritt 2009 kurz nach der Regierungsneubildung die Konsequenz aus Vorwürfen im Zusammenhang mit dem von einem Bundeswehroffizier in Afghanistan angeforderten Luftwaffeneinsatz am Fluss Kunduz, bei dem eine erhebliche Anzahl von Zivilisten zu Tode gekommen waren, nachdem Jung – in Parallele zu Walter Arendt – während des vorangegangenen Wahlkampfes wider besseres Wissen verharmlosend-rechtfertigende Erklärungen des Geschehens verbreitet hatte (vgl. Masala 2015, S. 103 f.).

Friedrich hatte 2011 das Innenministerium übernommen, kurz vor dem Ende der 17. Bundestagswahlperiode zusätzlich das Landwirtschaftsressort, in das er mit der Regierungsbildung im Dezember 2013 überwechselte. Bereits im Februar 2014 gab er das Amt auf, als bekannt wurde, dass er zur Vermeidung eines Imageschadens der SPD deren damaligem Vorsitzenden Sigmar Gabriel während der Koalitionsverhandlungen eine vertrauliche Information aus einem laufenden Ermittlungsverfahren zu Vorwürfen mit kinderpornografischem Bezug gegen einen SPD-Bundestagsabgeordneten gegeben hatte. Da dieser Beitrag zum Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen den neuen Koalitionspartnern formal als Weitergabe eines Dienstgeheimnisses angesehen und nicht durch entsprechende Ehrenerklärungen des Partners gedeckt wurde, schied Friedrich aus einem Ministerium aus, das keinen Bezug zu dem Vorgang hatte (vgl. Jesse 2015, S. 79; Redaktion Datenhandbuch 2022, S. 11 und 13 in Abschn. 6.2).

5.4 Einstehen für Vorgänge auf einer anderen Ebene des föderativen Systems

Als markantester Fall einer landespolitischen Anlastung auf die Bundesebene kann der Fall Anne Spiegel (Grüne) gelten. Diese trat im April 2022 als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurück, weil sie während der Flutkatastrophe an Ahr und Erft 2021 als Umweltministerin in Rheinland-Pfalz amtiert hatte, durch ihre familiäre Situation in dieser akuten Krise überfordert und stärker um ihr Image als um die Betroffenen besorgt erschienen war (vgl. Steppat 2022, S. 4; Bubrowski und Schmoll 2022, S. 3; Kissler 2022, S. 17). Auf Landesebene hatte sich bereits zuvor der Fall von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) abgespielt, der nach Verlust politischen Potenzials durch seine Landtagswahlniederlage in Nordrhein-Westfalen 2012 von Angela Merkel aus ihrem Kabinett entfernt wurde (vgl. Kitzing 2015, S. 182).

5.5 Persönliche Glaubwürdigkeitsverluste

Seit 1987 Mitglied der Bundesregierung, wurde Jürgen Möllemann (FDP) nach einer mit „harten Bandagen“ verfolgten Karriere die Verwendung seines Kopfbogens als Wirtschaftsminister für ein Empfehlungsschreiben zugunsten eines Vetters seiner Ehefrau zum Verhängnis, denn anschließend wurden eine Reihe von aus dem Amt heraus unternommener Interventionen zugunsten einzelner Wirtschaftsinteressen bekannt. Ohne politische Deckung trat Möllemann nach unglaubwürdigem Erklärungsversuch unter Anfeindungen aus den eigenen Reihen im Januar 1993 zurück (vgl. Gennrich 1992, ders. 1993; Bewerunge 1992; Bergdoll und Reimer 1993; Der Spiegel 1993; Gellner und Schön 2001, S. 493).

Schon zuvor hatte sich Verkehrsminister Günther Krause (CDU), ohne die für westdeutsche Politiker übliche Sozialisation plötzlich zum Verhandler der deutschen Einheit geworden, durch ungeschicktes – persönliches und privates – eigenes Verhalten wie auch durch das seiner Ehefrau zu einer Belastung der Regierung entwickelt. Bereits vor Amtsantritt im Zusammenhang mit der Vergabe von Autobahnraststätten und Tourismusinvestitionen in seiner Heimatgemeinde ins Zwielicht gestellt, war er in Gremien professoral-belehrend aufgetreten und in einer Serie von Vorfällen in den Geruch eigensüchtigen Handelns geraten, worunter die teilweise Finanzierung seiner Haushaltshilfe aus öffentlichen Mitteln als besonders anstößig wahrgenommen wurde, sodass Krause im Mai 1993 zum Rücktritt veranlasst wurde (vgl. Perger 1993; Urschel 1993; Stadelmann 1993; Leithäuser 1993, S. 3; Kastner 1993, S. 3; Feldmeyer 1993, S. 3; Sussenburger 1993; Linke 1993; Graf Hohenthal 1993).

Reinhard Klimmt (SPD), Verkehrsminister unter Schröder, war genötigt, einen Strafbefehl wegen Beihilfe zur Untreue bei einer Gesellschaft des Caritasverbandes zugunsten des zeitweilig von ihm präsidierten 1. FC Saarbrücken zu akzeptieren und wurde im November 2000 zum Rücktritt gedrängt (vgl. Furtak 2008, S. 221–223). Lag hier wie bei Lambsdorff ein Straftatbestand vor, trat Schröders einstiger Rivale Oskar Lafontaine nach viereinhalb Monaten begründungslos vom Amt des Finanzministers zurück, als er trotz des Parteivorsitzes den Machtkampf mit dem Kanzler – und damit seine potenzialbezogene Vertrauenswürdigkeit – verloren hatte (vgl. Oberreuter 2008, S. 237 und 239). Lafontaines Vorgänger im SPD-Vorsitz, Rudolf Scharping, folgte qua Entlassung kurz vor Ende der Wahlperiode, nachdem durch Schlagzeilen zu seinem Privatleben während laufender Auslandseinsätze der Bundeswehr der Eindruck eines nur bedingten Interesses am Amt entstanden war (vgl. von Bredow 2008, S. 269), was das Vertrauen in Scharpings Intentionen tangieren musste.

In den in der zweiten Regierung Merkel aufgedeckten Plagiatsfällen Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (CSU) sowie Annette Schavan (CDU) stand deren intellektuelle Redlichkeit in Frage. Guttenbergs im Bundestag breit diskutierter Verzicht auf den Doktorgrad und Angela Merkels Hinweis auf ein Regierungsamt im Unterschied zu einer wissenschaftlichen Mitarbeit (Deutscher Bundestag 2011. 10354 f. und 10379–10397) konnten die Zweifel an der intentionalen Vertrauenswürdigkeit des zuvor als Publikumsliebling geltenden Ministers nicht ausräumen, sodass er sein Amt im März 2011 aufgab (vgl. Beucker und Überall 2011, S. 159–164; Krauel 2011; Gloe 2015, S. 97 f.; Redaktion Datenhandbuch 2022, S. 9 und 11 in Abschn. 6.2). Parallele Vorwürfe wurden, nachdem sie sich noch der Kritik an ihrem Kabinettskollegen angeschlossen hatte, nachfolgend auch gegen Bundesbildungsministerin Annette Schavan erhoben. Nach längerer Gegenwehr sah sie dabei durch eine Klage gegen die Düsseldorfer Universität sogar ihren ministeriellen Zuständigkeitsbereich tangiert und legte vor dem – letztlich für sie negativen – Verfahrensausgang ihr Amt nieder (vgl. Bleckmann 2013, S. 176 f.; Merkel und Schavan 2013; Massing 2015, S. 194 f.; Spiegel Online 2013).

5.6 Rücktritt als Appell oder in Ablehnung einer Entscheidung

Christian Schwarz-Schilling (CDU) hatte sein Ministerium für Post- und Telekommunikation seit Beginn der Ära Kohl im Einklang mit der Koalitionsmehrheit geführt, befand sich jedoch in der Außen- und Sicherheitspolitik zum serbisch-bosnischen Krieg in scharfem Dissens mit Kanzler und Außenminister, da er bereits 1992 den Einsatz der Bundeswehr erwartet hätte. Seinen Rücktritt nutzte Schwarz-Schilling zu scharfer Kritik an Kohls Regierungsstil, wodurch er der Demission einen Appellcharakter verlieh (vgl. Feldmeyer 1992; Dreher 1992).

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), zweimal in CDU/CSU-FDP-Koalitionen Justizministerin, erklärte im Dezember 1995 ihren Amtsverzicht nach einer innerparteilichen Niederlage in der Auseinandersetzung um den „Großen Lauschangriff“. Als Exponentin des Linksliberalismus lehnte sie die gesetzgeberische Umsetzung einer von ihr – teils auch polemisch – bekämpften Maßnahme aus Überzeugung ab (vgl. von Altenbockum 1993; Plöhn 1994, S. 83; Beucker und Überall 2011, S. 58–64), bewahrte indes durch ihren resignativ wirkenden Schritt für ihre Klientel intentionale Vertrauenswürdigkeit und konnte, gestützt auf ihre Partei, unter Angela Merkel ihr früheres Ressort 2009 erneut übernehmen (Metzler 2001, S. 442 f.; dies. 2015, S. 106).

6 Ertrag der Analysen

  1. 1.

    Die vier theoretisch-kombinatorisch aus dem Verantwortungsbegriff abzuleitenden Kategorien lassen sich in Deutschland sämtlich empirisch antreffen. Beispielhaft sind im nachfolgenden Schaubild einzelne angesprochene Fälle zusammengestellt (Tab. 1).

  2. 2.

    Verhaltensbeanstandungen mit der Konsequenz einer Amtsniederlegung sind empirisch nicht auf das aktuell innegehabte Ministerium beschränkt gewesen, sondern können auch (a) ein früheres Ressort betreffen (Ehmke, Jung, Friedrich), (b) sich auf eine andere Ebene des politischen Systems beziehen (Spiegel), (c) politische Funktionen außerhalb des Amtes (Lambsdorff) oder (d) die persönliche Sphäre betreffen (Krause, Klimmt, Guttenberg, Schavan).

  3. 3.

    Diese Konstellationen lassen sich mit der auf das gouvernementale Amt bezogenen Relation der Verantwortung nicht erfassen. Vielmehr hat in den genannten Fällen die Vertrauenswürdigkeit eines Amtsträgers in Rede gestanden, die auch bei anderen Vorgängen (z. B. Arendt, Möllemann) eine Rolle gespielt hat.

  4. 4.

    Bei Fällen externer Anlastung und aktiver Übernahme der Verantwortung im Ressort sind sowohl Fälle erkennbar, in denen eigenes Agieren des Amtsinhabers problematisch erschienen ist (z. B. Maihofer, Funke) als auch Konstellationen, in denen sich das Einstehen auf Handeln oder Unterlassen anderer im Zuständigkeitsbereich des Regierungsmitglieds bezogen hat (z. B. Stoltenberg, Seiters).

  5. 5.

    Im Vergleich zum deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts zeigt sich damit in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland – auch ohne individuelle Abberufbarkeit der Minister – ein deutlich erweiterter Bereich, für den diese einzustehen haben.

  6. 6.

    Damit korrespondiert die Erweiterung des Selbstverständnisses markant konturierter Amtsträger von dem eines konstitutionellen Garanten auf das eines politischen Exponenten spezifischer Überzeugungen, für dessen Amtsgewissen politische Inhalte nicht gleichgültig sind. Das Ausscheiden einer solchen Persönlichkeit aus dem Kabinett stellt dementsprechend kein „Bauernopfer“ dar.

  7. 7.

    Demütigende autoritative Anlastungen durch den Kanzler sind in Deutschland nach Möglichkeit vermieden oder durch Kabinettsumbildungen kaschiert worden.

  8. 8.

    Vorangegangene Leistungen von Regierungsmitgliedern erscheinen in der emotionalisiert-dynamischen Diskussion bei ihrem Rücktritt weitgehend irrelevant, da keine systematische Evaluierung, sondern eine symptomatische Einschätzung vorgenommen wird.

  9. 9.

    Die konkreten Abläufe haben sich bisweilen als komplex erwiesen, insbesondere bei einer längeren Amtszeit, großer politischer Bedeutung des Ministeriums und diversen politischen Vertrauensbeziehungen des Amtsinhabers zu Kanzler, Fraktion oder einer mehrheitsrelevanten Klientel.

  10. 10.

    Für Rücktritte wegen politischer Anlastungen existieren keine quasi-gesetzlichen Regelungen im Sinne eines Ehrenkodexes. Vielmehr setzt eine Rücktrittserzwingung bei öffentlichen Anlastungen das Vorhandensein einer plausiblen personellen Alternative voraus (Fall Leber).

  11. 11.

    Rücktritte, die parlamentarische Rechtfertigungen ersetzen (Fälle Arendt und Lafontaine), bleiben begründungsmäßig defizitär. Sie missachten dadurch einen wesentlichen Zweck der Volksvertretung.

  12. 12.

    Demissionen bedeuten selbst im Falle von Anlastungen nicht notwendig ein Ausscheiden für immer. Die Rückkehr in die Bundesregierung (Heinemann, Blank, Strauß, Bucher), im Falle eines selbstinduzierten Rücktritts in Ablehnung einer Mehrheitsentscheidung sogar in das gleiche Ressort (Leutheusser-Schnarrenberger), ist mehrfach vorgekommen.

Tab. 1 Aktualisierung politischer Verantwortung mit ausgewählten Beispielen. (Eigene Darstellung)