Zweiter Weltkrieg: Warum die Deutschen Hitler bis zuletzt folgten - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Geschichte
  4. Zweiter Weltkrieg: Warum die Deutschen Hitler bis zuletzt folgten

Geschichte Zweiter Weltkrieg

Warum die Deutschen Hitler bis zuletzt folgten

Der britische Hitler-Biograf Sir Ian Kershaw analysiert in seinem neuen Buch die Schuld der Eliten und den deutschen Charakter. Ein Gespräch.

Britische Historiker sind durchweg auch vorzügliche Erzähler, aber unter allen Vertretern der Zunft pflegt Ian Kershaw einen besonders fesselnden Stil, er spricht selber von seinem neuen Buch gerne als einer „narrative“, einer Erzählung. Die ist freilich erschütternd genug. „The End – Hitler’s Germany, 1944-45“, soweben bei Penguin erschienen und für den November bei DVA unter dem Titel „Das Ende. Kampf bis in den Untergang – NS-Deutschland 1944/45“ vorgesehen, geht über Kershaws monumentale Hitler-Biografie noch hinaus und zeichnet das Uhrwerk nach, von dem das System NS-Staat bis zum bitteren Ende in Gang gehalten wurde. Ein unerforschtes Gebiet bisher. Im Gespräch mit "Welt Online" führt der Historiker durch die Abgründe einer Zeit, die uns weiterhin fesselt als ein Paradigma des Schreckens und Erschreckens.

Welt Online : Nach allen Ihren früheren Büchern über die Nazi-Ära, vor allem Ihrem Opus magnum über Hitler – was war da für einen Ian Kershaw noch übrig geblieben, erforscht zu werden?

Sir Ian Kershaw : Es gab da etwas wie eine unerledigte Frage am Ende meiner Hitler-Biografie. Natürlich war ich vollkommen eingenommen von der Schlussphase, aber eben im Leben Hitlers, er war und blieb der Fokus meiner Studie. Ich wollte danach aber doch mehr wissen über die übrige deutsche Gesellschaft zu dieser Zeit, sie verblüffte mich im Sinne der Frage: Wie konnte das System bis zum Ende weiter funktionieren, wie war es überhaupt möglich, zu funktionieren?

Welt Online : Was ist Ihre Antwort darauf?

Kershaw : Sie müssen bedenken, dass es in der Geschichte äußerst selten ist, selbst für autoritäre Systeme, bis zum Ende, bis zur totalen Zerstörung des Landes durchzuhalten, bis zur kompletten Besetzung durch ausländische Kräfte, wenn doch jeder weiß, dass das Ganze auf die Prellböcke zuläuft. Die Strukturen interessierten mich. Was ich dazu las, schien mir keine ausreichende Antwort zu bieten. Die meisten Studien kommen irgendwie gegen Ende dieser Zeitphase schnell zum Schluss.

Welt Online : Sie sprechen auch über „Mentalitäten“, denen Sie auf die Spur kommen wollten bei der Erklärung des Systems und wie es bis zuletzt funktionierte.

Kershaw : Man hat behauptet, die Suche nach Mentalitäten sei doch etwas reichlich Modisches. So stimmt das aber nicht, denn ich habe schon in meinen frühesten Forschungen in den 70er-Jahren Mentalitäten untersucht, die mit deutschen Haltungen gegenüber dem Regime zu tun hatten. Jetzt ging ich darüber hinaus, um zu sehen, welche Mentalitäten den Strukturen zugrunde lagen und ihnen erlaubten, bis zum Ende zu funktionieren.

Welt Online : Entdeckten Sie dabei eine Spur dessen, was Daniel Goldhagen als die deutsche Veranlagung zum Völkermord bezeichnete?

Kershaw : Nein, ich halte wenig von Verallgemeinerungen über vermeintliche nationale Charakteristiken. Allerdings gibt es kulturell bestimmte Veranlagungen und Verhaltensmuster; so gehört zum Beispiel die Mentalität einer hoch trainierten und motivierten Beamtenschaft in die Erklärungen des Aushaltens bis zum Letzten.

Anzeige

Welt Online : Sie meinen den Begriff der Pflicht?

Kershaw : Ja. Eine Schlüsselkomponente bei der Frage, warum alles weiterläuft. Ich erinnere an Friedrich Wilhelm Kritzinger, Staatssekretär in der Reichskanzlei, der während seines Verhörs auf die Frage, warum er so fleißig weitergearbeitet habe, als alles bereits verloren war, verwundert zur Antwort gibt: „Als langjähriger Beamter war ich zur Loyalität zum Staat verpflichtet.“ Beim Militär war es ähnlich, da war es der Eid. Insofern gibt es eine Art „Tendenz“, die in die Richtung weist, auszuhalten, und die von dem Regime dann ausgeschlachtet wird zu ihren Zwecken.

Welt Online : In England hatte John Locke bereits 1689 in seinem zweiten Traktat über die Regierung das Recht der Untertanen festgehalten, sich gegen den Herrscher zu erheben, ihn sogar zu beseitigen, wenn dieser das Wohl des Volkes veruntreut. Bei Deutschland sprechen wir dagegen auch 240 Jahre später nur von „Pflicht“. Die Voraussetzungen waren demnach äußerst günstig für die Nazis, beim Fehlen jeder philosophischen Tradition des Ungehorsams. Auch das gehört zum deutschen Sonderweg. Es hat meine Generation tief beschäftigt.

Kershaw : Ich kann Ihnen nicht widersprechen, wobei der Begriff des deutschen Sonderwegs problematisch und viel kritisiert worden ist. Aber bitte bedenken Sie: Ich handele in meinem Buch von der Zeit Juli-Attentat 1944 bis zum Ende …

Welt Online : Zu spät für philosophische Betrachtungen über den Ungehorsam …

Kershaw : Das nicht, aber was kann der normale Deutsche zu diesem Zeitpunkt noch ausrichten? Das Regime war zu stark verankert. Nehmen Sie den einfachen Soldaten: Warum machte er weiter? Die Antwort ist oft: Weil es keine Alternative gab. Der Unterdrückungsmechanismus, der Terror verschloss jeden Ausweg.

Welt Online : An Ihrem Buch fasziniert, dass Sie sich nicht mit der Unterdrückung durch Terrorisierung als Erklärung zufrieden geben.

Anzeige

Kershaw : In meinen Schriften über die Nazi-Ära habe ich immer versucht, simplifizierende Erklärungen zu vermeiden. Die Wirkung des Terrors gilt vor allem für die unteren Schichten der Gesellschaft, den einfachen Bürger, den einfachen Soldaten: Da war keine Organisation zum Widerstand möglich. Eine Revolution von unten wie am Ende des Ersten Weltkrieges, ist einfach undenkbar. Das Schlüsselproblem, dem ich begegnete, war tatsächlich nicht auf der unteren Ebene angesiedelt, sondern unter der Elite, unter Gruppen also, die Zugang hatten zu bestimmten Formen der Macht.

Welt Online : Warum sie?

Kershaw : Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein Regime zu stürzen. Etwa durch Revolution – Deutschland 1918, Russland 1917. Gewöhnlicher in autoritären Regimes ist allerdings der Putsch: Er wurde 1944 versucht, schlug aber fehl. In Italien gab es den Großen Rat des Faschismus, der eine Schöpfung Mussolinis war und der dennoch den Duce 1943 stürzte. Und über Mussolini, jedenfalls theoretisch, noch der König. Der italienische Faschismus selber also konnte den eigenen Diktator schließlich entthronen. Nichts dergleichen traf auf Deutschland zu: Hitler war die Spitze des Staates, die Spitze der Regierung, die Spitze der Partei, der Oberbefehlshaber des Heeres …

Welt Online : Ein absolutistischer Monarch …

Kershaw : Ja, in moderner Form. Sogar Diskussionen über einen NSDAP-Senat, der für die Wahl eines nächsten Führers zuständig gewesen wäre, verbat er sich entschieden. Es gab auch kein Kabinett, und das Oberkommando der Wehrmacht kann man beispielsweise nicht vergleichen mit den britischen „Joint Chiefs of Staff“, den vereinigten Spitzen der Teilstreitkräfte. Hitler zog es vor, bilateral mit einzelnen Kräften umzugehen, je nach Belieben, und niemand konnte auch nur im Traum daran denken, eine alternative Politik mit ihm zu besprechen. Es gab mithin auch keine alternative Quelle der Loyalität.

Welt Online : Aber wenigstens den Willen zu Alternativen?

Kershaw : Nein, in diesen letzten Monaten nicht, was auch immer einzelne Generäle später behaupteten.

Welt Online : Was stand dem Willen entgegen?

Kershaw : Die Verteidigung Deutschlands gegen den Bolschewismus war sicherlich eine wichtige Komponente. Im Westen wäre eine größere Bereitschaft gewesen, einen Deal mit dem Feind anzustreben.

Welt Online : Aber das kam nicht zum Tragen.

Kershaw : Ich verweise Sie auf die abgehörten Unterhaltungen deutscher Generalität in angelsächsischem Gewahrsam. Da war viel von „Ehre“ die Rede. Wenn jemand vortrug: ‚Hätten wir doch die Front im Westen geöffnet und die Alliierten früher hereingelassen‘, war die Ablehnung einhellig. ‚Ein deutscher General kann sich dazu nie bereit finden.‘

Welt Online : Nachwachsende Generationen von Deutschen, gewöhnt an ein Milieu ständigen Hinterfragens, finden schwer Zugang zu diesen Denkweisen, in denen Konzepte wie Ehre und Pflicht selbst die Realität verdrängten, dass das eigene Land vor die Hunde ging. Aus dem Grund bleibt etwas schrecklich Unerklärbares.

Kershaw : Umso wichtiger für den Historiker, Geschichte nicht mit der Mentalität unserer eigenen Zeit anzugehen, sondern danach zu fragen, was in der jeweils untersuchten Epoche vorherrschte. Nehmen sie das Beispiel General Heinrici. Als Speer ihm in eher dilettantischer Manier im April 1945 vorschlägt, Hitler zu töten, gibt Heinrici zur Antwort: ‚Ich habe mit Hitler seit Langem gebrochen, aber ihn töten – einen solchen Schritt kann ich unmöglich tun. Ein General kann keinen Dolchstoß führen. Als Christ kann ich auch keinen Mord begehen.‘

Welt Online : Ich bin hartnäckig. Am Beispiel England konnte man 1936 erleben, wie ein Land es schafft, sich eines unliebsamen Monarchen zu entledigen.

Kershaw : Aber Sie vergessen, dass es neben der Monarchie die eigentliche Machtinstanz gab – das Parlament, und das war ganz abgelöst von der Krone. Die Briten haben keinen Begriff vom „Staat“, dafür ein System der Funktionsverteilung zwischen Krone und Parlament. Wenn das Letztere zur Überzeugung kommt, dass dem Land mit einem bestimmten Monarchen nicht mehr gedient ist, kann es diesen zur Abdankung treiben. Im Deutschland der Nazizeit gab es keine solche Unterscheidung – der Staat war Hitler, und Hitler war der Staat. In solchem Fall hat der Eid eine besondere Signifikanz. Ich erinnere an ein Wort von General Georg-Hans Reinhardt, der genau wusste, er hätte im Januar 1945 seine Einheiten entgegen Hitlers Befehlen an der immer näher rückenden Ostfront abziehen müssen, sonst würden sie aufgerieben, aber der zur Begründung fürs Weitermachen, wie schwer auch immer, sagte: „Das ist das harte Muss.“

Welt Online : Aber wie erklärt man sich die niedrigen Reflexe vieler, die einfach bis zum Ende auf der Seite des Regimes ausharrten, auch wenn sie nicht unbedingt zu den „willigen Vollstreckern“ gehörten?

Kershaw : Da gab es Nazi-Fanatiker, Desperados, Denunzianten, die umso unbarmherziger wurden, je offenkundiger sich die Niederlage des Systems abzeichnete. Es gab auch viele Fälle, wo alte Rechnungen gerade in den letzten Tagen noch beglichen wurden. Nach dem Motto: Wenn wir schon untergehen, dann sollst du anderer, der sich vielleicht freut über das Ende, mit untergehen.

Welt Online : Ist zu diesem Zeitpunkt aber niemandem das Wort „Patriotismus“ in den Sinn gekommen? Die Liebe zum Vaterland, die danach trachtet, weiteren unnötigen Schaden abzuwenden?

Kershaw : Ich verstehe Ihre Frage sehr gut. Man kann sagen, dass die Über-Nationalisten in diesem Moment zum Gegenteil von Patrioten wurden, Hitler als Allererster, der ja das gesamte Volk zum Untergang verdammt sehen wollte. Wir haben über ihn nicht gesprochen, aber letztlich war seine Rolle bis zum Ende entscheidend.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema