Georg Lukács (1885–1971) gehört zu der nicht sehr großen Gruppe einflussreicher Intellektueller des 20. Jahrhunderts, für die wie zum Beispiel auch für Jean-Paul Sartre, Theodor W. Adorno oder Pierre Bourdieu Probleme der Kultur und des Ästhetischen eine zentrale Rolle spielten.

Dem großbürgerlichen Milieu des seinerzeit Habsburgischen Budapest entstammend, kam Lukács als Sohn einer jüdischen Mutter und eines nobilitierten jüdischen Bankiers schon früh mit Kreisen in Berührung, die sich sowohl vom damaligen „materialistischen“ Zeitgeist distanzieren als auch eine sich von ihm befreiende Ethik und Ästhetik begründen wollten. Die Repräsentanten dieser Strömung erfuhren ihr Dasein als Gegensatz zu einer Welt, die ihr Bedürfnis nach geistig-kultureller Veredelung nicht zu befriedigen vermochte und sie zu einem elitären Selbstausschluss motivierte, ohne jedoch auf die materiellen Privilegien des Herkunftsmilieus zu verzichten.

Seelische Spannungszustände, existentielle Heimatlosigkeit und Entfremdung von der hegemonialen bürgerlichen Kultur kennzeichneten die Erfahrungen jener Intellektuellengeneration, die sich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Zwänge bürgerlicher Wertvorstellungen und Stereotype zu entledigen suchte. Dabei trat bei Lukács selbst das Interesse am Ästhetischen als entscheidende Dimension subjektiver Selbstfindung in den Vordergrund. In der Kunst sah er den Gegenentwurf zu einer von instrumenteller Vernunft, Fortschrittseuphorie und ökonomischem Gewinnstreben besessenen Moderne. Das fand seinen literarischen Niederschlag zunächst in der Essay-Sammlung „Die Seele und die Formen“ (1911), die mehrere bereits vorher in ungarischer Sprache erschienene Beiträge über Novalis, Stefan George, Sören Kierkegaard u. a. vereinigte. Hier versuchte er, Literatur und Philosophie als Manifestationen authentischen Lebens vor den Zumutungen des Rationalismus und der Rechenhaftigkeit modernen Denkens zu bewahren.

Schon früh deutete sich bei Lukács jene Sympathie für den literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts an, der später ins Zentrum seiner Kunst- und Literaturauffassung treten sollte. Obwohl er, als er „Die Seele und die Formen“ veröffentlichte, den Gegensatz zwischen „Leben“ und Wirklichkeit intellektuell noch nicht zu lösen vermochte, weil ihm die Realität mit für die Kunst unüberwindbaren Mauern umgeben schien, hielt ihn das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und geschichtlich-sozialer Wirklichkeit weiterhin in seinem Bann. In der „Theorie des Romans“ (1916) schlug Lukács Töne an, in denen die Möglichkeit einer gelingenden literarischen Aneignung von Wirklichkeit anklangen, die weder mit einem nostalgischen Blick auf eine vergangene ideale Bürgerlichkeit endet noch zu ästhetischer Realitätsabstinenz Zuflucht nimmt. Zwischen „Die Seele und die Formen“ und der „Theorie des Romans“ lag ein Lernprozess, in dem, wesentlich beeinflusst durch das Studium Hegels, die lebensphilosophische Grundierung von einer neuen Tendenz der Wirklichkeitsannäherung abgelöst wurde.

Auch in der „Theorie des Romans“ stand die Antinomie von Kunst und geschichtlich-sozialem Sein noch im Mittelpunkt und auch hier suchte Lukács. nach der Möglichkeit, diese Antinomie zu überwinden, ohne einerseits im Ästhetizismus zu landen oder sich andererseits den Zwängen bürgerlicher Konvention zu fügen. Er suchte dieses Problem zu lösen, indem er eine Typologie des Romans konstruierte, welche die Geschichte der großen Romanformen als Trennung zwischen klassischer griechischer Epopöe und neuzeitlichem Roman abbildete. Dabei unterschied er folgende Romantypen, nämlich den „abstrakten Idealismus“ (beispielhaft repräsentiert durch „Don Quijote“ von Cervantes), den „Desillusionsroman“ des 19. Jahrhunderts (Jens Peter Jacobsen, Gontscharow, Flaubert u. a.) und den Entwicklungsroman Goethes, der aber letztlich ebenso wenig wie danach Tolstoi und Dostojewski über die Grenzen des „Desillusionsromans“ hinausgekommen sei.

Mit der Rückkehr von Heidelberg nach Budapest 1915 begann für Lukács intellektuell eine – relativ kurze, aber intensive – Übergangsperiode von der primär lebensphilosophisch akzentuierten Orientierung zur spektakulären Entscheidung für Marxismus und Kommunismus, die sich konkret im Eintritt in die 1918 gerade gegründete Kommunistische Partei Ungarns (KPU) manifestierte. Vermittelt wurde dieser abrupt erscheinende Schritt jedoch durch einen 1915 in Budapest entstandenen, den Namen „Sonntagskreis“ tragenden Intellektuellenzirkel, der zahlreiche, später teilweise international bekannt gewordene Wissenschaftler und Künstler zusammenführte, so zum Beispiel den Wirtschaftshistoriker Karl Polányi, seinen Bruder, den Chemiker Michael Polányi, den Psychologen René Spitz, den Kunsthistoriker Arnold Hauser, den Soziologen Karl Mannheim, die Musiker Zoltán Kodály und Belá Bartók, aber auch den marxistisch-syndikalistischen Theoretiker Ervin Szabó.

Mit seinen 1923 unter dem Titel „Geschichte und Klassenbewußtsein“ veröffentlichten Aufsätzen avancierte Lukács dann spektakulär zu einem der prominentesten Theoretiker des europäischen Marxismus.

Ausgehend vom unmittelbaren Bevorstehen der proletarischen Revolution suchte Lukács nach den konstitutiven Bedingungen ihrer praktischen Durchführung. Im Gegensatz zu den deterministischen Zusammenbruchsszenarien der (sozialdemokratischen) II. Internationale, aber auch zu den revisionistischen Prognosen eines allmählichen Hineinwachsens in den Sozialismus fokussierte Lukács auf das Klassenbewusstsein des Proletariats als dem entscheidenden Agens der Revolution. Wie dieses Klassenbewusstsein zu bestimmen sei, wie es entstehe und warum ihm der Primat im revolutionären Prozess zukomme, das waren die sich Lukács nun stellenden wesentlichen Fragen.

In der Ware, ihrer Produktion und ihrem Austausch manifestiert sich das universelle Charakteristikum der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, das nicht nur die Ökonomie, sondern „das ganze äußere wie innere Leben der Gesellschaft“ (Lukács ([1923] 1967, S. 95), also die gesamte Kultur, durchdringt. Die „Universalität der Warenform“ (ebd., S. 98) beinhaltet eine Abstraktion sowohl von den konkreten Gebrauchswerten der einzelnen Waren als auch von der konkreten Arbeitstätigkeit der unmittelbaren Produzenten. Letzteres äußert sich im Prozess der kapitalistischen Arbeitsteilung, der zu einer immer rigoroseren Zergliederung der menschlichen Arbeit führt und im System des Taylorismus seine radikalste Ausprägung erfährt. Mit Max Weber spricht Lukács hier von „Rationalisierung“ als einem nicht nur den industriellen Arbeitsprozess, sondern alle gesellschaftlichen Subsysteme beherrschenden Prinzip. Auch das Proletariat bleibt trotz seiner objektiv antagonistischen Stellung zur Bourgeoisie in seinem Bewusstsein von der verdinglichenden Macht kapitalistischer Rationalisierung nicht unberührt, denn die „Verdinglichung aller Lebensäußerungen teilt das Proletariat (also) mit der Bourgeoisie“ (ebd., S. 165). Warencharakter und Rationalisierung der kapitalistischen Produktion verfestigen sich so zur „zweiten Natur“ auch der proletarischen Subjektivität, aber indem der Kapitalismus diese Verdinglichung des Arbeiterbewusstseins durch Technisierung und Rationalisierung auf die Spitze treibt, schafft er gleichzeitig objektiv die „unerlässliche Vorbedingung der Entwicklung des Proletariats zur Klasse“ und damit die Voraussetzung dafür, dass das Proletariat aufgrund seiner objektiven Klassenlage fähig wird, Wesen und Totalität der Gesellschaft zu erkennen.

Lukács sah sich gegenüber der Kommunistischen Internationale (KI) zur Selbstkritik gezwungen, was aber nicht verhinderte, dass „Geschichte und Klassenbewusstsein“ als ein den „westlichen Marxismus“ mitbegründendes und inspirierendes Werk bis in die Gegenwart hinein auf den gesellschafts- und kulturkritischen Diskurs eine außergewöhnlich intensive Wirkung entfaltet hat. Die Rezeptionslinie reicht von Walter Benjamin und Ernst Bloch über Lucien Goldmann und Theodor W. Adorno bis zu Jürgen Habermas. Axel Honneth als Repräsentant der Kritischen Theorie nach Habermas hat dem Thema der „Verdinglichung“ 2005 erneut eine explizit auf Lukács rekurrierende Studie gewidmet. Auch wenn das Verdinglichungstheorem von Lukács heute meist für einseitig und überholt gehalten wird, findet seine wegweisende Funktion für gesellschaftskritisches Denken noch immer allgemein Anerkennung.

Unter dem Titel „Größe und Verfall des Expressionismus“ – der Artikel erschien 1934 in der Zeitschrift „Internationale Literatur“ in Moskau – unternahm Lukács einen Frontalangriff auf den Expressionismus (Lukács 1969a, S. 7–42). Er warf seinen Akteuren vor, trotz ihres antibürgerlichen Habitus die wirklichen Widersprüche des Imperialismus zu verschleiern und zu mystifizieren. In ihrer Haltung sah er eine klassentypische Reaktion der zwischen Proletariat und Großbourgeoisie hin- und herschwankenden kleinbürgerlichen, bohèmehaften Intellektuellen, deren Opposition gegen das herrschende gesellschaftliche System nicht über Symptomkritik, nicht über ein Unbehagen an Phänomenen der gesellschaftlichen „Oberfläche“ – ein bevorzugter Begriff von Lukács – hinausgehe, aber das Wesen des Imperialismus, seine sozialökonomischen Antagonismen und die aus ihnen notwendig resultierenden Klassengegensätze entweder nicht wahrnehmen wolle oder nicht wahrnehmen könne. So verwandle sich die expressionistische Pseudokritik in eine faktische Apologetik des Kapitalismus und dessen herrschender Klassen. Wiederholt aus Äußerungen und Publikationen expressionistischer Autoren zitierend, so zum Beispiel von Ludwig Rubiner, Kurt Hiller und besonders aus der seinerzeit viel beachteten theoretischen Schrift „Abstraktion und Einfühlung“ von Wilhelm Worringer (1908) versuchte Lukács seinen massiven Angriff zu untermauern, der darauf hinauslief, den Expressionismus der ideologischen Komplizenschaft mit Imperialismus und Faschismus anzuklagen.

Lukács Abrechnung mit dem Expressionismus gipfelte in der geradezu abstrusen These, dass dieser sich für die faschistische Ideologie als durchaus kompatibel erweise, auch wenn das nicht in der Absicht der Expressionisten gelegen haben möge. Aber ebenso wie der Expressionismus von der Wirklichkeit abstrahiere (vgl. ebd., S. 40) und sie durch ein fiktives „Wesen“ ersetze, mystifiziere auch der Faschismus die gesellschaftliche Wirklichkeit. Obwohl der Faschismus den Expressionismus nicht ungeteilt gutheiße, könne er dessen „schöpferische Methode“ für seine eigene Ideologie instrumentalisieren.

Lukács’ Expressionismusverdikt löste sowohl Beifall vor allem im intellektuellen Spektrum der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) als auch heftigen Widerspruch aus. Bekannte linke, oft ebenfalls mit der KPD sympathisierende oder ihr angehörende Intellektuelle vertraten Lukács entgegengesetzte Positionen, so Ernst Bloch, Hanns Eisler, Bertolt Brecht und teilweise auch Anna Seghers.

Bloch wandte sich vor allem gegen die Weigerung Lukács’, die kritische Funktion neuer, avantgardistischer Mittel und Methoden künstlerischer Produktion anzuerkennen (Bloch 1969, S. 51–59). Der rigiden Polarisierung von expressionistischer Dekadenz und klassischem Objektivitätsideal bei Lukács hielt Bloch die Auffassung entgegen, dass es zwischen „Verfall und Aufgang“ neuer gesellschaftlicher, also auch künstlerischer Prozesse Vermittlungsmomente gebe, in denen sich der Kampf um etwas Neues, nicht durch „Schwarz-Weiß-Zeichnung“ zu Erfassendes artikuliere. Auch „Pioniere des Zerfalls“ könnten auf ihre Weise dazu beitragen, die brüchige Oberfläche der bürgerlich-kapitalistischen Welt zum Einsturz zu bringen.

Die Auseinandersetzung um den Expressionismus ging in eine Debatte um den Realismus über, der schon das eigentliche Thema der Ersteren gebildet hatte, wie Lukács selbst mit dem den Streit um den Expressionismus beendenden Beitrag „Es geht um den Realismus“ (Lukács 1969b, S. 60–86) unterstrich; denn hinter seiner anti-expressionistischen Polemik stand die grundsätzlichere Frage nach einer Literatur, die geeignet war, die inneren Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu thematisieren und gleichzeitig inhaltlich wie formal eine Perspektive ihrer Überwindung aufzuzeigen. Für Lukács lautete die Antwort unmissverständlich, dass nur die realistische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts über die dafür notwendigen Voraussetzungen verfüge und sie deshalb von der modernen Literatur als autoritatives Paradigma anerkannt werden müsse.

Seit Ende der dreißiger Jahre hat Lukács in zahlreichen Beiträgen diese Paradigma begründet, ausgearbeitet und gegen Einwände verteidigt.

Die kritische Funktion des Realismus leitete er zunächst aus erkenntnistheoretischen Axiomen des historischen Materialismus ab, wie er seinerzeit für das theoretische Verständnis im Umfeld der KI und ihrer Intellektuellen charakteristisch war. Ausgehend von dem Postulat einer unabhängig vom menschlichen Bewusstsein objektiv existierenden Welt entwickelte Lukács die Idee, dass ebenso wie in anderen Formen geistiger Aktivität auch in künstlerischen Prozessen die Beziehung des subjektiven Bewusstseins zur objektiven Realität durch Akte einer „Widerspiegelung“ konstituiert werde (vgl. Lukács 1955, S. 5–46).

Für Lukács war es vor allem der literarische Realismus, der das Programm der Widerspiegelung am entschiedensten und erfolgreichsten umgesetzt habe. Dafür stünden unter anderen die Namen von Goethe, Balzac, Stendhal, Flaubert, Scott, Zolà, Tolstoi, Gorki, Heinrich und Thomas Mann, aber auch Repräsentanten des „sozialistischen Realismus“ in der sowjetischen Literatur. Obwohl Lukács den Realismus insgesamt als Paradigma der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts feierte, bewertete er dessen prominente Vertreter nicht einheitlich. So führte er beispielsweise den binären Code „Erzählen oder Beschreiben“ ein (Lukács 1955, S. 103–145), um Unterschiede der Widerspiegelungsleistungen realistischer Autoren zu belegen. „Beschreiben“ stand dabei für einen geringeren Grad der Wirklichkeitsdurchdringung, „Erzählen“ dagegen für die Fähigkeit, die inneren Zusammenhänge des Stoffes in ihrer Bewegung, ihren Beziehungen zwischen „Wesen“ und „Erscheinung“, „Subjektivität“ und „Objektivität“, „Gegenwart“ und „Vergangenheit“ usw. literarisch souverän zu gestalten.

In mehreren, teilweise umfangreichen Studien hat Lukács seine Theorie des literarischen Realismus ausgearbeitet (Lukács 1949, 1952a, b). Wie schon das von Lukács über den Expressionismus gefällte Urteil provozierte der autoritative und kanonische Duktus seiner Realismus-Doktrin Widerspruch. Mit dialektischem Witz unterlief Bertolt Brecht die Lukács’sche Idealisierung des traditionellen Realismus (vgl. Brecht 1969, S. 89–94), indem er sowohl dessen historische Bedingtheit herausstellte, als auch für einen die Tendenzen gesellschaftlicher Modernisierung, namentlich der Technisierung und Verwissenschaftlichung, verarbeitenden Realismus plädierte. Nicht in einer Ablehnung des Realismus überhaupt, sondern in dessen Verständnis bestand also der Gegensatz zwischen Brecht und Lukács Einige Aspekte ihrer Kontroverse waren schon in anderen Zusammenhängen aufgetaucht, so die Verwerfung oder Bejahung moderner literarischer Methoden und Stilmittel wie die des Reportageromans (Ottwalt), der Montagetechnik (Dos Passos), des „monologue intérieur“ (James Joyce) oder der „Volkstümlichkeit“.

Auch Anna Seghers, die 1933 zuerst nach Frankreich und 1941 nach Mexiko emigrierte, griff in die Debatte über den Realismus ein und führte in dieser Frage einen längeren Briefwechsel (Lukács 1955) mit dem mit ihr befreundeten Lukács. Sie brachte vor allem folgende Argumente vor: Erstens warnte sie davor, den Begriff der „Unmittelbarkeit“, wie Lukács es tat, schon per se als ein für Schriftsteller inadäquates Verhältnis zur Wirklichkeit zurückzuweisen. Bevor man versuchen könne, „Unmittelbarkeit“ zu überwinden, wie Lukács kategorisch fordere, müsse sich, wer schreibe, zuerst einmal überhaupt mit ihr beschäftigen. Zweitens wies Anna Seghers darauf hin, dass „Realismus“ in der Kunst nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort dasselbe bedeute, sondern zeit- und raumabhängig sei. Damit wandte sie sich gegen die bei Lukács wahrnehmbare Tendenz zur Enthistorisierung des Begriffs. Drittens forderte Anna Seghers, dass alle Momente der „Methode der Kritik“ – sie erwähnte hier „Totalität, Überwindung der Unmittelbarkeit, tiefe Kenntnisse der gesellschaftlichen Zusammenhänge“ – also die von Lukács selbst als wesentliche Kriterien authentischer Kunst hervorgehobenen Momente – nicht nur auf die kritisierten Objekte, sondern auch auf sich selbst angewandt werden müssten.

Obwohl Lukács und Seghers dasselbe grundsätzliche Ziel verfolgten, eine ebenso anspruchsvolle wie massenwirksame antifaschistische Literatur zu schaffen, deckten sich ihre Auffassungen über den Realismus nur partiell. Unverkennbar sympathisierte Seghers mit literarischen bzw. künstlerischen Aktivitäten, die sich der Wirklichkeit experimentell näherten und dabei ästhetische Risiken eingingen, während Lukács Realismus als zeitlos gültiges, gebieterisches Ideal inthronisierte.

Neben seiner Expressionismus-Kritik und den Einwänden gegen weitere zeitgenössische Literaturformen wie den „Reportageroman“ gehörten auch Studien wie die „Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur“ zu denjenigen Arbeiten, die außer der Auseinandersetzung mit ihrem jeweiligen Gegenstand gleichzeitig dem Ziel einer umfassenden Begründung der Realismus-Konzeption dienten. Selbst die Überlegungen über „Repräsentative Lyrik der wilhelminischen Zeit“ (1944/45) standen in diesem Zusammenhang. Im Übergang der deutschen Literatur vom Naturalismus zur Lyrik eines Rainer Maria Rilke oder Stefan George vermerkte Lukács die Abwendung von sozialen Problemen. Die von George propagierte Dichotomie zwischen der „rohen Masse“ und einer Minorität von Auserwählten nehme Züge eines „romantischen Antikapitalismus“ an, der Kapitalismus und Demokratie gleichermaßen verachtet, damit aber einer „autokratischen Diktatur“ den Boden bereitet habe. So fungierte die Lyrik von Rilke und George bei Lukács exemplarisch als das direkte Gegenteil von allem, was den literarischen Realismus in seinen entwickelten Formen auszeichne: Einsicht in die Totalität der Gesellschaft und ihrer Triebkräfte, Dialektik von Individuum und Gesellschaft, Humanität, Freiheit und Demokratie.

Noch einmal nahm Lukács das Realismus-Thema in den fünfziger Jahren auf. Dieses Mal war es Theodor W. Adorno, der darauf polemisch antwortete (Adorno 1961, S. 152–187). Zwar habe Lukács, offensichtlich veranlasst durch seine Erfahrung als Mitglied der Regierung Imre Nagy während des Ungarn-Aufstandes 1956, nun eine etwas weniger rigide Version des sozialistischen Realismus befürwortet und auch an Brecht inzwischen Positives entdeckt, aber im Prinzip seine dogmatische Haltung nicht verändert (ebd., S. 156). Wo Lukács (der Adorno wegen dessen elitär-pessimistischem Habitus ironisch als Gast im luxuriösen „Grand Hotel Abgrund“ einquartiert hatte) gegen angebliche Dekadenz wettere und den Avantgardismus attackiere, lenke er von dem „gesellschaftlichen Unrecht“ ab, das in den sozialistischen Ländern fortbestehe, aber „offiziell für abgeschafft erklärt“ werde (ebd., S. 158). Den „Vorwurf des Ontologismus“ (ebd., S. 161), den Lukács gegen die „ganze avantgardistische Literatur“ erhebe, hielt Adorno insofern für verfehlt, als Lukács die Thematik der Einsamkeit der Individuen nicht als gesellschaftlich vermittelt begreife.

An manchen Stellen scheute Adorno, so bestechend seine Kritik in einigen Punkten an Lukács war, allerdings vor bösartigen Unterstellungen nicht zurück. Das zeigte sich da besonders krass, wo er das Dekadenzverständnis von Lukács mit der Mentalität von Staatsanwälten (im Nationalsozialismus) gleichsetzte, „welche die Ausmerzung des Lebensuntüchtigen und der Abweichung verlangen“ (ebd., S. 177). Am Ende seines Essays gestand Adorno Lukács jedoch das Bemühen zu, die Grenzen des sozialistischen Realismus zu problematisieren, auch wenn er aus seiner selbstverschuldeten intellektuellen Unfreiheit letztlich nicht herauskomme: „Bei all dem bleibt das Gefühl von einem, der hoffnungslos an seinen Ketten zerrt und sich einbildet, ihr Klirren sei der Marsch des Weltgeistes“ (ebd., S. 185).

Mit „Die Zerstörung der Vernunft“ unternahm Lukács 1952 einen großangelegten Versuch, die Genealogie jenes irrationalistischen Denkens in Deutschland zu rekonstruieren, das nach seiner Überzeugung unvermeidlich im Faschismus endete (Lukács 1988). Zwar war er sich bewusst, dass die Entwicklungslinien des geistesgeschichtlichen Irrationalismus nicht auf Deutschland beschränkt waren, sondern beispielsweise auch in Italien und Frankreich ihre Entsprechung fanden, aber in Deutschland meinte er die schärfste Ausprägung dieses Diskurses zu entdecken. Im Irrationalismus sah Lukács den zentralen ideologischen Bezugspunkt aller intellektuellen Suchbewegungen, die, sei es unmittelbar oder mittelbar, auf den Ausbruch der faschistischen Katastrophe hinausliefen. Es lag auf der Hand, dass er mit der „Zerstörung der Vernunft“ nicht nur ein kritisch-geistesgeschichtliches Interesse verfolgte, sondern, wie das Nachwort zeigt, unter dem Eindruck einer sich verschärfenden Blockkonfrontation und des „Kalten Krieges“ sowie insbesondere in Westdeutschland auftretender restaurativer Tendenzen davor warnen wollte, erneut in jene Denkmuster des Irrationalismus zurückzufallen, die im Faschismus ihre verhängnisvolle Konsequenz gefunden hatten und sich nun zu reproduzieren drohten.

Dabei verfuhr Lukács nach einem rigoros gehandhabten Prinzip, alle berücksichtigten Auffassungen und Theorien, die nicht in wesentlichen Punkten mit Postulaten des Marxismus übereinstimmten oder sich ihnen annäherten, auf eine gemeinsame Bewegung zum Irrationalismus hin zu justieren. Nicht-marxistisches Denken landete so, ganz unabhängig von der jeweiligen Spezifik und Differenz einzelner seiner Vertreter zu anderen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Positionen, unwiderstehlich wie in einem magnetischen Kräftefeld immer am Pol des Irrationalismus.

Nicht wenige der Befunde von Lukács sind Jahrzehnte später, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten und Akzenten, von prominenten Kritikern Martin Heideggers wie Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Pierre Bourdieu bestätigt worden. Insofern bleibt „Die Zerstörung der Vernunft“ ein widersprüchliches Werk. Dem eindrucksvollen und durchaus erfolgreichen Bemühen, den Ungeist des Faschismus nicht als jähen Einbruch des Dämonischen zu mystifizieren und so der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung zu entziehen, steht eine oft penetrante Neigung gegenüber, die Komplexität geistiger Prozesse auf simple Kausalfaktoren zu reduzieren und ihren widersprüchlichen Verlauf eindimensional zu begradigen.

Die systematische Ausarbeitung einer ihrem Anspruch nach historisch-materialistischen Ästhetik bildete – neben dem Thema der Ontologie – seit den fünfziger Jahren eines der letzten großen Projekte von Lukács (Lukács 1963a, b).

Seine Auffassung des Ästhetischen verstand er als radikalen Bruch mit allen vom philosophischen Idealismus herkommenden Ästhetikkonzepten.

Als allgemeine Form der Bewältigung von Wirklichkeitskontingenz lässt sich Mimesis unabhängig davon, ob sie das Alltagsleben, magisch-religiöse Vorgänge, wissenschaftliche Erkenntnisproduktion oder Kunst betrifft, nicht sektoral nach unterschiedlichen Gegenstandsbereichen aufteilen. Insofern ist auch dem Ästhetischen kein exklusiver Gegenstand vorbehalten. Eine Ausdifferenzierung des Ästhetischen lässt sich nur aus einem geschichtlichen Prozess erklären, in dem sich Kunst langsamer vom Alltagsleben ablöst als die Wissenschaft; denn Letztere ist, darin der Arbeit ähnlich, enger an Erfordernisse der Wirklichkeit gebunden, wohingegen die mimetische Besonderung der Kunst gerade diejenigen Leistungen geschichtlich voraussetzt, die Arbeit und Wissenschaft erbringen.

Wissenschaftliches Denken entfaltet sich als „Desanthropomorphisierung“ der Mimesis, das heißt, dass Wissenschaft durch die ihr immanente Tendenz zu abstrakt allgemeinen, begrifflich gefassten Erkenntnissen der Wirklichkeit gelangt und damit die Bindungen an „personifizierende Formen des Denkens“ (Lukács 1963a, S. 140) bzw. an spezifische Bedürfnisse konkreter menschlicher Gemeinschaften abstreift. Entscheidend für diese Differenz ist, dass das Ästhetische nicht nur wie die Magie Evokation zur Daseinsbewältigung auslöst, sondern sich sein Sinn ausschließlich durch die Hervorrufung bestimmter subjektiver innerer Zustände, Bilder, Emotionen, Erinnerungen usw. definiert. Daraus folgt die zentrale Bestimmung des Ästhetischen: „Wir können hier nur – vorwegnehmend – drauf hinweisen, dass die Wechselbeziehungen zwischen Objektivität und Subjektivität zum gegenständlichen Wesen der Kunstwerke gehören […] Was auf jedem anderen Gebiet des menschlichen Lebens ein philosophischer Idealismus wäre, nämlich daß kein Objekt ohne Subjekt existieren könne, ist im Ästhetischen ein Wesenszug seiner spezifischen Gegenständlichkeit“ (ebd., S. 229).

Wenn Lukács immer wieder im Verlauf seiner Argumentation die gesellschaftskritische Funktion authentischer Kunst anspricht, so erhält dieser Aspekt am Ende des 1. Halbbandes noch einmal eine starke Akzentuierung insofern, als das Ästhetische ausdrücklich mit einer „defetischisierenden Mission“ beauftragt wird (vgl. ebd., S. 696–777). Auch hier knüpft Lukács an die Theorie von Marx an, insbesondere an die bekannte Passage über den „Fetischcharakter der Ware“ (Marx 1969, S. 85–98), in der Marx ausführt, dass die kapitalistische Warenform „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften der Dinge zurückspiegelt“ und so die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Menschen „die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen“ annehmen lässt (ebd., S. 86). Die ökonomische Geltungssphäre der Marx’schen Analyse überschreitend, wendet Lukács deren kritische Funktion auch auf die Sphäre des Ästhetischen an, wo sie auf doppelte Weise wirksam wird: nämlich einerseits dadurch, dass die künstlerische Widerspiegelung den verklärenden, affirmativen Schein der Wirklichkeit durchbricht, und andererseits dadurch, dass sie gerade so die von den gesellschaftlichen Verhältnissen deformierte „Bedeutung des Menschen“ wieder herzustellen vermag.

Im 2. Halbband seiner „Ästhetik“ (Lukács 1963b) vertieft Lukács zentrale Aspekte des Ästhetischen als Mimesis, indem er sowohl die Besonderheit des Ästhetischen weiter ausarbeitete, als auch ausführlich der Frage nachgeht, wie die Kategorien der ästhetischen Mimesis in Gattungen und Genres der Kunst wie der Musik, aber auch des Films und der Gartengestaltung zum Tragen kommen und wo ihre jeweiligen Wirkungsgrenzen liegen. Dabei stützt sich Lukács auf die ihm als materialistische Grundlage einer physiologisch-psychologischen Theorie des Ästhetischen besonders geeignet erscheinenden Theorie des russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936). Die Explikation der ästhetischen Kategorien und ihres Zusammenhangs hält Lukács für eine unabdingbare Voraussetzung dafür, die emanzipatorische Funktion der Kunst begründen zu können. Um die „tiefste Menschenbejahung“ durch authentische Kunst bewusst zu machen, scheint es ihm notwendig, gerade den Fragen der ästhetischen Form und des künstlerisch Formalen eine privilegierte Bedeutung in seinen Überlegungen zuzumessen (ebd., S. 831). Nur so erachtet er es für möglich, den emanzipatorischen Sinn von Kunst überzeugend darzustellen, ohne in bloße ideologische Bekenntnisethik abzugleiten.

Ebenso wie mit seiner „Ästhetik“ versuchte Lukács auch mit dem zweiten großen Projekt der letzten Schaffensperiode, der „Ontologie“ (Lukács 1984, 1986) – dieses Mal auf dem Gebiet der Philosophie – den Marxismus sowohl von konkurrierenden marxistischen Diskursen wie der Orthodoxie in den staatssozialistischen Ländern und der Theorie der „Frankfurter Schule“ als auch „bürgerlicher“ Philosophie wie dem Existentialismus, dem Neopositivismus und namentlich der idealistischen Ontologie Nicolai Hartmanns (1882–1950) abzugrenzen und ihm eine neue systematische Form zu geben. Zwischen der „Ästhetik“ und der „Ontologie“ gibt es zahlreiche Parallelen und Verbindungen. Probleme wie das der Ethik und der Entfremdung tauchen in beiden Werken auf.

In der ontologischen Fundierung des menschlichen Seins kommt der Arbeit bzw. Praxis eine anthropologische Bedeutung zu, denn der Mensch als Gattungswesen definiert sich durch Praxis, die sich wiederum geschichtlich entfaltet und damit eine konstante Substantialität des menschlichen Wesens ausschließt. Trotz ihrer unaufhebbaren Bindung an natürliche materielle Voraussetzungen, ist es dem Menschen möglich, im Vollzug individueller und gesellschaftlicher Praxis Spielräume nicht-determinierten Handelns und so Alternativen zu den entfremdenden Zwängen gesellschaftlicher Verhältnisse zu schaffen. Allerdings relativiert Lukács gleichzeitig utopische Hoffnungen auf eine definitive Aufhebung von Entfremdung (vgl. Dannemann 1997, S. 91 ff.).

1 Fazit

Lukács hat das geistige Leben in Europa in komplexer Weise und auf vielen Gebieten nachhaltig beeinflusst, immer wieder zu Kontroversen herausgefordert und sowohl in seiner Frühzeit als auch während der folgenden fünf Jahrzehnte im Zeichen marxistischen Denkens neue Wege zum Verständnis kultureller Prozesse und Phänomene beschritten. Aus dem Kreis seiner Schülerinnen und Schüler ging die „Budapester Schule“ hervor, die Ideen und Themen von Lukács verarbeitete und weiterzuentwickeln suchte. Namentlich sind Agnes Heller mit ihrer Theorie des Alltags und György Márkus mit dem Entwurf einer marxistischen Anthropologie hervorgetreten.

Versucht man abschließend eine Bilanz des eindrucksvollen Werks von Lukács zu ziehen, so sind wohl vor allem die folgenden, die normale Verfallszeit geistiger und kultureller Produkte weit überdauernden Leistungen hervorzuheben: Die subtilen Analysen der Zusammenhänge zwischen künstlerischem Erleben und ästhetischer Formgebung in der Frühphase, die Typologie in der „Theorie des Romans“, die Entwicklung des Verdinglichungsproblems in „Geschichte und Klassenbewußtsein“, die wegweisenden Studien über Schriftsteller des literarischen Realismus und der grandiose Versuch, auf der Basis des Marxismus eine systematische Theorie des Ästhetischen zu entwickeln.