Günter Schabowski, 85 : Der Mann, der versehentlich die Mauer öffnete - WELT
Newsticker
Schlagzeilen, Meldungen und alles Wichtige
Die Nachrichten heute: Newsticker, Schlagzeilen und alles, was heute wichtig ist, im Überblick.
Zum Newsticker
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Günter Schabowski, 85 : Der Mann, der versehentlich die Mauer öffnete

Geschichte Günter Schabowski, 85

Der Mann, der versehentlich die Mauer öffnete

Mit einem Missverständnis löste SED-Mann Schabowski am 9. November 1989 jenen Ansturm auf die Grenzkontrollstellen in Ost-Berlin aus, der zum glücklichsten Tag der Deutschen führte. Jetzt wird er 85.
Die Anspannung war ihm ins Gesicht geschrieben. Günter Schabowski am 9. November 1989 im Saal des Internationalen Pressezentrums der DDR Die Anspannung war ihm ins Gesicht geschrieben. Günter Schabowski am 9. November 1989 im Saal des Internationalen Pressezentrums der DDR
Die Anspannung war ihm ins Gesicht geschrieben. Günter Schabowski am 9. November 1989 im Saal des Internationalen Pressezentrums der DDR
Quelle: picture-alliance / ZB

Selbst der letzte Stehplatz war besetzt: Am frühen Abend des 9. November 1989 war der Saal im Internationalen Pressezentrum in Ost-Berlin hoffnungsvoll überfüllt. Angesetzt war eine Pressekonferenz der SED, geleitet von Günter Schabowski, Mitglied im Politbüro der DDR-Staatspartei, ehemaliger Chefredakteur des Zentralorgans „Neues Deutschland“ und seit kurzem offizieller Sprecher des obersten Machtgremiums im „Arbeiter- und Bauern-Staat“.

Fast eine Stunde lang hatte der für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich wortgewandte Schabowski Plattitüden von sich gegeben, als um 18.53 Uhr der italienische Journalist Riccardo Ehrman zu Wort kommt: „Herr Schabowski, Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?", fragte der 60-jährige Chefkorrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa in gebrochenem Deutsch.

Auf dem falschen Fuß

Schabowski setzte, offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt, unsicher zu einer Antwort an. Ihm fiel ein, dass SED-Generalsekretär Egon Krenz ihm am Rande bei der ZK-Sitzung ein Papier in die Hand gedrückt hatte, das die neue Reiseregelung betraf. Er solle es mitnehmen in die Pressekonferenz, hatte der Generalsekretär dazu noch gesagt. Doch Schabowski war nicht dazu gekommen, es vor seinem Auftritt zu lesen.

Nun suchte er in dem dicken Bündel vor sich auf dem Tisch nach den zwei Seiten; ein Mitarbeiter half ihm. Die Zeit überbrückte Schabowski mit Floskeln, die wie Gestammel wirken: „Es ist eine Abfolge von Schritten, und die Chance, also durch Erweiterung von Reisemöglichkeiten, die Chance also, durch die Legalisierung und Vereinfachung der Ausreise, die Menschen aus einer, sagen wir einmal psychischen Drucksituation zu befreien - viele dieser Schritte sind ja im Grunde genommen unüberlegt erfolgt.“

So ging es fast drei Minuten lang. Als Schabowski das Papier endlich in Händen hielt, war es 18.55 Uhr. Er machte eine Atempause und setzte neu an: „Allerdings ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, dass man aus dem Reisegesetz den Passus herausnimmt und in Kraft treten lässt, der - wie man so schön oder so unschön sagt - die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es für einen unmöglichen Zustand halten, dass sich diese Bewegung vollzieht über einen befreundeten Staat, was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“

„Ab sofort?“

Schon seit Ehrmans Frage war es im Saal immer unruhiger geworden. Viele der versammelten Journalisten hatten gerüchteweise gehört, es werde eine neue Reiseregelung geben. Ein Reporter rief Schabowski zu: „Das gilt...“, ein anderer: „Ab wann tritt das...“ Ein dritter: „Ohne Pass?“

In diese Unruhe hinein stellte Peter Brinkmann, Reporter der „Bild“-Zeitung, mit seiner tragenden Stimme eine knappe klare Frage: „Ab sofort?“ Günter Schabowski war von der heftigen Reaktion der Journalisten überrascht und verwirrt. Er sprach die Vertreter der Weltpresse als „Genossen“ an und fuhr fort: „Mir ist das hier also mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet worden ist. Sie müsste eigentlich in ihrem Besitz sein.“

Das war offensichtlich nicht der Fall, also las Schabowski die dürren Sätze von der Vorlage ab: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur Bundesrepublik erfolgen.“

„Sofort, unverzüglich“

Zahlreiche Reporter spürten, dass sie gerade etwas sehr Wichtiges erlebten. Aber was genau? Wenn die eben verkündete neue Reiseregelung wirklich ab sofort galt, dann würde das bedeuten, dass die DDR ihre Bürger nicht mehr länger einsperren wollte. Konnte das gemeint sein? Schabowski reagierte nervös auf Nachfragen, ja unsicher: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“

Anzeige

Reporter Brinkmann wollte es genau wissen und rief noch einmal: „Gilt das auch für Berlin-West? Sie hatten nur Bundesrepublik gesagt.“ Und wieder wusste Schabowski nicht, was er sagen sollte. Er schaute abermals in seine Papiere: „Also, doch, doch...“ und las noch einmal ab: "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen." Daraufhin beendete der SED-Mann verunsichert die Pressekonferenz rasch - er hatte dem US-Sender NBC ein persönliches Interview versprochen. Es war 19.01 Uhr.

Die wichtigsten acht Minuten im Leben von Günter Schabowski waren vorüber. Die neue Reiseregelung, die er durch ein Missverständnis vor den Augen und Ohren der Weltöffentlichkeit verkündet hatte, hätte eigentlich erst am folgenden Morgen um vier Uhr in Kraft treten sollen – und sie sollte abhängig sein von Genehmigungen durch die Volkspolizei.

Live übertragen

Doch Schabowskis Äußerungen erweckten bei vielen Journalisten einen anderen Eindruck: Die Reiseregelung gelte sofort, und „ohne Vorliegen von Voraussetzungen“. So griffen es westliche Nachrichtenagenturen und Fernsehsender auf. Da die Pressekonferenz auch live im DDR-Fernsehen übertragen worden war, begannen Ost-Berliner scharenweise an die Grenzübergänge zu strömen. Vier Stunden später mussten die DDR-Grenzposten vor dem Ansturm kapitulieren und die Sperranlagen „fluten“. Die folgenden Tage feierten Millionen Menschen in Berlin und ander innerdeutschen Grenze das Ende des Todesstreifens. Der 9. November 1989 war durch ein Missverständnis zum glücklichsten Tag der deutschen Geschichte geworden.

Ein knappes Viertjahrhundert später begeht Günter Schabowski am Sonnabend seinen 85. Geburtstag. Er ist vom Alter gezeichnet und schwer herzkrank. Erleben wird er das Jubiläum zu Hause in Berlin mit der Familie, wie seine Frau Irina mitteilte: „Es wird eine sehr stille Feier.“

Ob Schabowski zum Jahrestag des Mauerfalls im November noch öffentlich auftreten kann oder sogar an Diskussionen teilnehmen wird, ist nach ihren Angaben völlig offen. „Wir arbeiten dran. Aber mein Mann wird sehr schnell müde.“

„Alles falsch gemacht“

Günter Schabowski ist der einzige ehemalige Spitzenfunktionär der SED, der sich jemals von der Parteidiktatur distanziert und seine moralische Schuld eingeräumt hat. „Wir haben alles falsch gemacht“ hieß seine Autobiografie von 2009; er war wegen seiner Mitverantwortung für das mörderische DDR-Grenzregime zu drei Jahren Haft verurteilt und schon nach einem Jahr im offenen Vollzug begnadigt worden.

In Diskussionen zum 20. Jahrestag des Mauerfalls hatte er wiederholt eingeräumt, er habe seine Strafe verdient. „Ich schäme sich für den Staat, an den ich bis zuletzt geglaubt habe“, sagte er bei einer Diskussion im Berliner Abgeordnetenhaus.

Anzeige

Wenige Minuten nach der folgenreichen Pressekonferenz hatte Günter Schabowski an jenem 9. November 1989 dem NBC-Reporter Tom Brokaw das versprochene Interview gegeben. Vor laufender Kamera sagte der SED-Spitzenfunktionär, der eben noch so unsicher gewirkt hatte, auf Englisch einige klare Sätze über die künftigen Rechte von DDR-Bürgern: „They are not further forced to leave GDR by transit through another country.“

Auf Brokaws Nachfrage: „It is possible for them to go through the wall...?“ antwortete er: „It is possible for them to go through the border.“ Dazu grinste Schabowski schief.

Die Folge von Schabowskis Versprecher in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 besetzten tausende Berliner die Mauer am Brandenburger Tor
Die Folge von Schabowskis Versprecher in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 besetzten tausende Berliner die Mauer am Brandenburger Tor
Quelle: picture-alliance / dpa

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant