Autofiktionales Schreiben ist noch nie sein Ding gewesen. Dafür ist bei Aris Fioretos die Weltneugierde viel zu unersättlich. „Literatur über mich selbst? Nein, danke. Es befriedigt mich weit tiefer, aus fremden Erfahrungen zu lernen“, sagte er in einem Interview. Der schwedische Autor, Jahrgang 1960, ist ein mehrsprachiger Kosmopolit, Literaturwissenschaftler und Übersetzer, Sohn eines Griechen und einer Österreicherin.
Unter Kennern hat er sich einen gediegenen Ruf als sanfter, aber eigenwilliger Homme de Lettres erarbeitet, der sich in seinen formal avancierten Romanen und Essays von gerade angesagten Themen fernhält und lieber seinen eigenen partikularen Interessen nachgeht. Mit extravaganten Konzeptromanen hat er begonnen, und seine migrantische Herkunft hat er elegant in eine zeithistorische Griechenland-Romantrilogie einfließen lassen. Es mag daher verwundern, aber nicht wirklich überraschen, wenn Aris Fioretos sich in seinem neuen Roman einem Stoff zuwendet und sich ein Milieu aneignet, die dem intellektuellen Schöngeist fremder nicht sein könnten.
„Die dünnen Götter“ ist ein Entwicklungs- und Künstlerroman aus der anglo-amerikanischen Rockmusik-Szene der 1970er-Jahre, eine Art Revival der Subkultur von Clubs, Kneipen und Studios, aus denen ikonische Rock-Bands hervorgingen, mit Frontmen wie Jim Morrison, Iggy Pop oder Mick Jagger. In seinen fiktiven dünnen Göttern lässt Fioretos diesen Typus ausgemergelter Jünglinge wiedererstehen und spürt dem Sound und der Stimmung ihrer ekstatischen Auftritte und psychedelischen Studio-Alben nach. Um diese Zeitreise plausibel zu machen, erfindet Fioretos eine Rahmenhandlung. Sein Held Tim Middler ist ein gealterter New Yorker Rockmusiker, der zurückgezogen und halb vergessen im heutigen Berlin lebt. Eines Tages wird er von einer todkranken Ex-Geliebten darüber informiert, dass er eine elfjährige Tochter hat. Sie beauftragt ihn, sich dem Mädchen als Vater bekanntzumachen. Dies ist der Anlass für die große Lebensbeichte des Helden in 20 Kapiteln, die den Hauptteil des Romans ausmachen.
Dieser Ich-Erzähler Tim ist ein Provinzjunge aus Delaware, ein Einzelgänger und Ausreißer auf der Suche nach seiner Bestimmung im Leben. Er ist getrieben von „Hunger nach Intensität“, doch er sehnt sich nach anderen Exaltationen als den Drogen- und Sexräuschen, die ihm die wüsten Jungs seines Umfeldes vorleben. Da er „lieber in seinem Kopf lebt“, verlangt es ihn nach spirituellen Ekstasen jenseits der Pforten der Wahrnehmung. Er berauscht sich zunächst an Rimbauds Lyrik, die ihn zu eigenen Versen animiert – je verstiegener und unverständlicher, desto besser. In schäbigen New Yorker Absteigen fristet er das harte Leben eines Gitarre zupfenden Underground-Poeten am Rande des Asozialen, bis er sich nach Jahren des Herumexperimentierens entscheidet: Er will „ein Techniker der Bewusstseinserweiterung werden“. Und die Musik soll das Genussmittel für seinen Erfahrungsdurst sein.
Wenn der Ruhm vergeht
Tim gründet eine experimentelle Rock-Band mit sich als visionärem Songwriter und Frontman. Doch der Ruhm dieser Avantgarde-Formation verglüht rasch, wie bei ihrem realen Vorbild, der psychedelischen Rock-Gruppe „The 13th Floor Elevators“. Die Band zerbricht, Tims Solo-Karriere verkleckert, die Zeit exaltierter Geniekult-Delirien ist vorbei, genauer: aus Geniekult wird Kommerz, nachdem die globale Musikindustrie historisch das Rennen gemacht hat. Und doch ist erst die Hälfte des Romans erreicht. Der Leser fragt sich bang, was Aris Fioretos wohl auf den restlichen 300 Romanseiten vorhat.
Wenig Erbauliches, wie die eher mühsame Lektüre von Tims langatmigem Lebensbericht nach dem Karriere-Ende zeigt. Die Banalität des Alltags holt den gewesenen Rock-Star ein. Melancholisch macht er irgendwie weiter und bringt sich mit Jobs und wechselnden Geliebten durch, erst in London, dann in Berlin; er erkrankt und altert, er führt wie die meisten Menschen ein uneigentliches Leben – bis hin zu einem krassen finalen Abenteuer, das auf den letzten hundert Seiten den Duktus des ganzen Romans zu torpedieren droht.
Was hat Fioretos an diesem Stoff gereizt? Welches formalästhetische Problem wollte er mit diesem Roman lösen? Vielleicht eines, an dem sich schon Thomas Mann in „Doktor Faustus“ und Toni Morrison in „Jazz“ abgearbeitet haben: Wie lässt sich Musik, die spirituellste aller Künste, in Worten beschreiben? Mit welchen sprachlichen Mitteln kann man die prinzipiell nichtmimetische Tonkunst – fiktive Musik zumal – in Wortkunst übertragen?
Toni Morrison machte den Jazz selbst zum Erzähler, indem sie John Coltranes Rhythmen und Improvisationstechnik narrativ nachahmte. Fioretos seinerseits sucht hinter den psychedelischen Songs seiner erfundenen Rock-Band den schöpferischen Prozess als solchen zu versprachlichen – mit deliranten Formulierungen und exaltierten Vergleichen und durch immer extremere Wortbilder und überspanntere Metaphern. Ständig droht der Text ins Lächerliche zu kippen, das literarische Risiko der Selbstparodie ist hoch. Aris Fioretos nimmt es in Kauf.
Aris Fioretos: Die dünnen Götter. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Hanser, 528 Seiten, 34 Euro