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Meinung „Made in Germany“

Von der Schwerstarbeit, ein Fremder zu sein

Migrants Seeking Asylum Arrive In Berlin Migrants Seeking Asylum Arrive In Berlin
Wenn man fremd ist, ist man auf andere angewiesen. Gut, wenn es Menschen gibt, die helfen wollen
Quelle: Getty Images
Wer sich jemals fern der Heimat durchschlagen musste, bewundert alle, die in diesen Tagen Fremden ihr Lächeln, ihre Hilfe, ein wenig Vertrauen schenken. Denn Fremdsein macht wund und verletzlich.

Verglichen mit den Strömen der Flüchtlinge, dem angestauten Hass und den Wellen der Hilfsbereitschaft, war ich ein Tropfen im japanischen Menschenmeer, als ich vor 25 Jahren nach Tokio ging. Es war alles andere als eine Flucht, ein luxuriöses Abenteuer, ohne Familie, mit Kreditkarte und Jobgarantie in der Heimat, von einem sicheren Land ins andere.

Jeder Vergleich mit den Verzweifelten, die auf das Mitgefühl der Deutschen angewiesen sind, scheint sich zu verbieten. Und doch, in einem glaube ich, mit ihnen fühlen zu können: In der Erfahrung absoluter Fremdheit.

Fremdsein entmündigt. Es kommt einer kulturellen Regression auf Kindesniveau gleich, über Nacht nicht mehr lesen und schreiben zu können. Nicht mehr für sich sprechen und eintreten zu können, angewiesen zu sein auf Nachsicht und Freundlichkeit jedes Passanten. Wie dankbar war ich denen, die mir den verlorenen Weg in Tokio nicht zu erklären versuchten, sondern ihn mit mir gingen. Wie oft wurde ich adoptiert für Minuten und wieder entlassen in ein fragiles Erwachsensein.

Die westlich geprägten Erfahrungen eines Mittdreißigers schienen nicht viel wert zu sein, die Erschütterung des Selbstwertgefühls war schockierender als die Erdstöße, die im japanischen Archipel so gewiss kommen wie die Jahreszeiten.

Fremdsein macht wund, lahm und verletzlich

Fremdsein erschöpft. Es ist Schwerstarbeit: wund, lahm, verletzlich, überreizt tastet man sich durch eine Welt, in der sich alle anderen auskennen. Ich war allein, bedrohte niemanden, wurde nie bedroht in einem der gastfreundlichsten Länder der Erde. Und doch: Um eine Wohnung zu finden und ein Auto zu kaufen, brauchte es einen einheimischen Bürgen.

Ohne einen Mitleidigen mit Bonität, der für etwaige Schäden am japanischen Gemeinwesen durch meine Ahnungslosigkeit aufzukommen versprach, wäre es nicht weitergegangen. Fremde sind immer nur auf Bewährung gelitten.

Fremdsein entwaffnet. Jeder ist angewiesen darauf zu wissen, wie das Gesellschaftsspiel gespielt wird. Ich war nicht arm, suchte keine Arbeit in Japan, brauchte keine Sozialleistungen, wollte nicht einmal bleiben. Das beruhigte viele meiner Wohltäter. Es beruhigte auch mich an Tagen, wenn mir die Fremdheit gegen den Stolz ging.

Ich blieb der Tropfen Öl auf dem Meer, nie würde ich untergehen, nie Teil davon werden. Je länger ich schwamm, desto wohliger wurde es: die Narrenfreiheit des Ausländers tröstete über den Kontrollverlust. Als ich nach sieben Jahren das Land verließ, war ich Ehemann, zweifacher Vater, glücklich.

Auch weil ich gelernt hatte, mit Fremden zu fühlen. Meine Bewunderung gilt all denen, die in diesen Tagen Fremden ihr Lächeln, ihre Hilfe, ein wenig Vertrauen schenken, ohne je in einem anderen Land gelebt zu haben.

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