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Kultur „Polizeiruf 110“

Diesem Team werden wir noch lange nachweinen

Redakteur Feuilleton
Können es nicht fassen: Peter Kurth (l.) und Peter Schneider Können es nicht fassen: Peter Kurth (l.) und Peter Schneider
Kommissare: Peter Kurth (l.) und Peter Schneider
Quelle: MDR/filmpool fiction/ Felix Abrah
Der Schriftsteller Clemens Meyer und der Regisseur Thomas Stuber sind das Dreamteam des deutschen Films. Niemand schreibt und filmt so intensiv und genau und tief aus der Seele der Menschen von Halle bis Hiddensee. Jetzt haben die beiden wieder einen fabelhaften „Polizeiruf“ gemacht. Es könnte der vorletzte sein.

Es gibt einen Choral in diesem „Polizeiruf“, den wird man nicht mehr los, egal, was immer da noch passiert in diesem Film, der so hell und so heiß wie finster und kalt ist, so mitfühlend wie hart. Johann Sebastian Bach hat ihn geschrieben, für sein Orgelbüchlein.

In „Der Dicke liebt“, in dem er durch die sternlose Nacht über Halle torkelt, spielt ihn Igor Levit am Klavier irgendwo in der Mitte, nachdem Inka, acht Jahre alt, weggeworfen, missbraucht in einer Kleingartenanlage am Rand einer Plattenbausiedlung aufgefunden wurde. Und die Kommissare – Peter Kurth als gläubiger Alkoholiker Henry Koitzsch und Peter Schneider als gläubiger Christ Michi Lehmann – an den Rand ihrer prinzipiell unendlichen Empathie getrieben werden.

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„Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ heißt der Choral. Ein Mensch fleht im Text – man weiß weder, wer ihn, noch wer die Melodie geschrieben hat – um Christi Beistand. Um Stärke, Hoffnung, um Vergebung für die Feinde, darum, dass er nicht weiter zum Gespött wird.

Sollte sich jetzt jemand wundern, warum hier im Zusammenhang mit einem Sonntagabendkrimi derart von Glaube, Liebe, Hoffnung, von christlichen Werten und Metaphern die Rede ist – „Der Dicke liebt“ ist neben einigem anderen auch die Geschichte eines Kreuzwegs. Eigentlich mehrerer.

Der Schriftsteller Clemens Meyer und der Regisseur Thomas Stuber – so etwas wie das cineastisch-literarische Dreamteam des deutschen Films, Abteilung Ausleuchtungen der Seele des sogenannten Ostens – haben sie geschrieben. Der Ursprung von „Der Dicke liebt“ war eine Erzählung aus Meyers Story-Band „Die Nacht, die Lichter“.

Auf den Friedhof der Kuscheltiere: Sascha Nathan ist der Lehrer Krein
Auf den Friedhof der Kuscheltiere: Sascha Nathan ist der Lehrer Krein
Quelle: MDR/filmpool fiction/Felix Abrah

Da kam auch schon ein umfangreicher Lehrer vor, der mit seinem pädagogischen Ethos bis an den Rand des Missverstehbaren geht. Der zum Gespött wird. Der Beistand braucht. Und Hoffnung und Liebe. Ein Mord kam da nicht vor.

Krein heißt der Lehrer. Ein schwitzender Typ, man will ständig den Notarzt rufen, so rot lässt der Blutdruck sein Gesicht blühen (Sascha Nathan ist Krein, er ist zum Verzweifeln gut). Wohnt in einem Seelensilo, in dem der Mob nicht weiß, wo er mit seiner Aggression hin soll und sich irgendwann über Krein hermacht. Kreins Bude ist voll von Kuscheltieren. Das weiß aber keiner.

Inka hat er Nachhilfe gegeben. Eis essen war er auch mit ihr. Sonst kümmerte sich ja keiner um das Mädchen. Es muss ein schwerer Mensch gewesen sein, unter dem Inka starb, sagt die Pathologie. Koitzsch, der gläubige Trinker, will alle Ermittlung auf sich nehmen, damit Lehmann, der gläubige Familienvater, nicht zum ermittelnden Zombie wird wie er.

Der Tag der Volkspolizei

Koitzsch und Lehmann stützen sich, schonen sich, sie müssen diese Geschichte irgendwie überstehen. Von Einsamkeiten handelt dieser langsame, entsättigte Film. Vom Verlust der Menschlichkeit, der Unschuld und der Unschuldsvermutung in einem Land, das nur noch Hitze und Überhitzung kennt. Aus der Geschichte der DDR-Kriminalistik (die es streng genommen gar nicht hätte geben dürfen, weil der neue soziastische Mensch seinem Nächsten nie ein Wolf sein durfte) lernen sie am Tag der Volkspolizei (1. Juli) den entscheidenden Hinweis.

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Clemens Meyer hat vor ein paar Tagen ein Interview gegeben. In dem bricht irgendwann die gekränkte Schriftstellerseele aus ihm heraus. Seit „Von Hunden und Pferden“, Stubers Abschlussfilm an der Filmakademie von Baden-Württemberg, macht Meyer, 1977 geborene Hallenser, Filme mit dem vier Jahr jüngeren Stuber. Ihrer farbstarken, so empathischen wie analytischen Ausleuchtung der Seelen, der Verfasstheiten vergessener Nachwende-Menschen, entsprangen die Gabelstapler-Moritat „In den Gängen“ mit Franz Rogowski und Sandra Hüller und die Bahnhofslegende „Stille Trabanten“ mit Martina Gedeck und Nastassja Kinski.

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Dass er lieber auf einer Buchmesse sei als in der Selbstbespiegelungsmaschine namens Filmfestival, bekannte Meyer. Das kann man gut verstehen. Dass zwischen Stuber und ihm das Tischtuch zerschnitten sei, eher nicht. Meyer, der aufgrund seiner eminenten literarischen Strahlkraft (er bekam 2008 den Leipziger Buchpreis und gefühlt sämtliche Förderpreise dieses Landes) wahrscheinlich meisterwähnte Drehbuchautor und -inspirator des Landes, hat, so scheint es auf, keine Lust mehr, als eigentlicher Erfinder des Films gerade in der öffentlichen Wahrnehmung ständig vergessen zu werden.

Es seien seine Figuren, seine Dialoge, seine Geschichten, die man da sieht. Das geht vielen Drehbuchautoren so. Das hat schon viele Drehbuchautoren (wie Andreas Pflüger) dazugebracht, die Filmarbeit an den Nagel zu hängen. Thomas Stuber kann da nichts für. Und es wäre ewig schade, würden die beiden das ohnehin marginalisierte Filmerzählen über Menschen aus Halle oder Hiddensee, über die ganze vermeintliche AfD-Klientel, aufgeben. Keiner kann das besser, empathischer, analytischer.

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Es wäre ein Desaster. Vielleicht sollten sie eine öffentlich-rechtliche Drehbuch-Regie-Clearingstelle anrufen, die man dringend gründen müsste.

Am Ende vom „Dicken“ übrigens singt Ella Fitzgerald Gershwins „Summertime“. Es liegt ein Himmel wie Blei über Halle. Und der Henry besucht seinen Kumpel im Knast. Er bringt ihm eine Flasche mit, an der Jack London, der heilige Trinker, seine Freude gehabt hätte, und fragt sich, ob es da draußen wirklich so viel besser ist als da drinnen. Auf den Sommer hat man – nach „Der Dicke liebt“ und den Ankündigungen von Clemens Meyer – eigentlich sowieso keine Lust mehr.

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