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„Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es nicht“

(Horkheimer 1988e, S. 215)

1 Einleitung

Die Frage nach der theoretischen Form von Kritik versteht sich im klassischen Sinn als erkenntnistheoretische Frage nach den subjektiven und objektiven Bedingungen von Erkenntnis, aber einer solchen Erkenntnis, die nicht bloß ihren Gegenstand in adäquaten Formen des Denkens erfasst, sondern ihn im Verhältnis zu diesen Formen mit Gründen als mangelhaft oder falsch erkennt. Diese Frage kann nicht beantwortet werden, indem aus verschiedenen kritischen Arbeiten deren allgemeine theoretische Merkmale extrapoliert und aufgelistet würden. Dadurch würde ein wesentliches Merkmal kritischer Theorie ignoriert, nämlich die Geschichtlichkeit des Denkens überhaupt und des kritischen insbesondere. Diese als allgemeines Merkmal neben anderen aufzuzählen, hieße sie durchstreichen. Es sollen daher anhand einer Rekonstruktion philosophiegeschichtlicher Instanzen und Beziehungen von Kritik die systematischen Formelemente von Kritik in ihrem Zusammenhang entwickelt werden, und dieser Zusammenhang ergibt sich nicht durch methodologische Metareflexion oberhalb der Gegenstände, sondern dadurch, dass kritische Theorie in der Durchführung spezifischer Probleme über ihre Voraussetzungen Auskunft gibt. Dies tut sie deshalb, weil sie als dialektische Theorie davon ausgeht, dass subjektive und objektive Seite der Erkenntnis nicht getrennt zu behandeln sind, sondern sich als Momente bedingen. Dann ist es nicht möglich, unveränderliche Formen des Denkens auf ebenso unveränderliche Fakten anzuwenden, sondern die adäquate Darstellung des Gegenstandes erfordert Reflexionen auf die Wechselwirkungen zwischen ihm und dem Subjekt, d. h. dem jeweils avancierten Stand des kritischen theoretischen Selbstbewusstseins. Dies ist jedoch kein konstruktivistischer oder dekonstruktivistischer Relativismus. Im Gegenteil ist theoretischen Darlegungen immer eine bestimmte theoretische Form adäquat, die aber nicht methodologisch festzulegen ist, sondern sich aus dem Verhältnis von subjektiven Formen des Denkens und Bestimmtheit des Gegenstands ergibt. Die dialektische Wechselwirkung beider in der kritischen Theorie ist nur bestimmbar, wenn beide selbst auch etwas Bestimmtes sind. Damit unterscheidet sich die Frage nach der Form der Kritik essenziell von der verdinglichenden Frage „Was ist Kritik?“, auf die es nur die ihrerseits verdinglichte Antwort gibt: „Den Begriff von Kritik, auf den sich beispielsweise die Philosophie verpflichten ließe, gibt es ebenso wenig wie die Philosophie in einer allein in Europa zweieinhalbtausendjährigen Geschichte. Mit dem geschichtlichen Wandel der Sozial-, Human-, und Kulturwissenschaften verändert sich auch ihr Begriff von Kritik“ (Jaeggi und Wesche 2009, S. 9). Ich möchte dagegen zeigen, dass es einen systematischen Begriff von Kritik gibt, der einerseits historisch ist, insofern er sich aus vormodernen Voraussetzungen erst in der Neuzeit entwickelt, der aber andererseits nicht historistisch in Wandlungen und Veränderungen von Vorstellungen aufzulösen ist.

In einer kritischen Theorie der Gesellschaft ist Kritik kein bloßer Impuls des Missfallens, sondern beansprucht notwendige und allgemeine Geltung durch Begründung. Wie sie sich als kritisch gegenüber affirmativen Sozialphilosophien und Soziologien absetzt, so setzt sie sich als Theorie gegenüber solchen Schriften, denen der Begründungsanspruch nicht oder nicht mehr als notwendige Bestimmung wissenschaftlicher Arbeit gilt, ebenso ab wie gegenüber bloßen Pamphleten. Unterhalb dieses Begriffs kritischer Theorie ist über deren theoretische Form nicht zu reden. Deshalb hat kritische Theorie vorab substanziell etwas mit der von Horkheimer so genannten ‚traditionellen Theorie‘ (Horkheimer 1988e, S. 162–216) gemeinsam, nämlich dass sie Theorie ist und zu sein beansprucht. Ihre Wendung gegen die ‚traditionelle‘ Theorie ist keine abstrakte Preisgabe der Tradition, sondern deren bestimmte Negation.

Der allgemeine Begriff der Theorie lässt sich in Unterscheidung zur bloßen Erfahrung dadurch bestimmen, dass sie von ihren Gegenständen nicht bloß aussagt, dass sie sind, sondern sie in allgemeiner Form als das erkennt, was sie – möglicherweise auch im Unterschied zu ihren oberflächlichen Erscheinungen – sind; Erkenntnis besteht in der Angabe von Ursachen dafür, warum etwas so ist, wie es ist (Aristoteles 1989, Buch I, Kap. 1 und 2). So setzt der theoretische Erkenntnisprozess zwar an den für uns individuell primären einzelnen Erscheinungen an, führt diese aber auf allgemeine Prinzipien zurück. Diese sind das systematisch Primäre, denn aus ihnen folgen die theoretischen Erklärungen von Erscheinungen und Einzeldingen (Aristoteles 1991, S. 1029b). Theorie vermittelt Einzelnes und Allgemeines. Diese Grundbestimmung hat sich bei allen Variationen und Fortschritten im Theoriebegriff im Prinzip durchgehalten; ernsthaft bestritten wird er erst im bürgerlichen Positivismus.

Der Begriff der Kritik ist spezifisch neuzeitlich (Bormann et al. 1976, S. 1249–1282; Röttgers 1982, S. 651–675), nicht jedoch die Sache. Altgriechisch krinein bedeutet ‚trennen, sondern, unterscheiden‘. Allgemein ist theoretische Kritik als begründetes Unterscheiden, unterscheidendes Urteilen zu fassen. Die Unterscheidung von Bestimmungen, das Trennen richtiger und falscher oder notwendiger und zufälliger Bestimmungen dient der wahren Erkenntnis des Gegenstandes.

Insofern ist Kritik ein Formelement jeder Theorie. Die bestimmte Kritik, die Negation von genau bestimmten Elementen einer fehlerhaften Theorie mit dem Ziel der Entwicklung einer richtigen Theorie ist die historisch-systematische Entwicklungsform der theoretischen Erkenntnis. Ohne diesen Entwicklungsgedanken gibt es keine verbindliche Erkenntnis, sondern nur ein kontingent veränderliches Verhältnis der Menschen zur Natur, und dieser Kontingenz fiele auch die theoretische Begründbarkeit von Kritik zum Opfer. Der kritische Begriff von Theoriegeschichte ist deshalb keineswegs durch Paradigmenwechsel gekennzeichnet (so aber einflussreich Kuhne 2017), sondern durch die kritische Referenz auf sachliche Probleme und ihre ungenügenden Erklärungen, vor dem Hintergrund von Geschichte und Wissenschaftsgeschichte.

Begründetes Wissen ist daher ebenso Resultat wie Grundlage der Kritik falscher Vorstellungen, Wissenschaftsgeschichte ist Erkenntnisfortschritt durch Kritik falscher Vorstellungen und insofern Ideologiekritik. Dadurch wird Geschichte zum konstitutiven Element der Geltung resultativer Begriffe. Diese sind ihrerseits Geltungsgrundlage der Kritik; Wahrheit ist aufgrund ihrer notwendigen und allgemeinen Geltungsform polemisch gegen partikulare Geltungsansprüche.Footnote 1

Kritikfähig aber sind Vorstellungen nur, weil und insofern sie mit rationalem Geltungsanspruch auftreten. Die Rationalität falscher Vorstellungen ist bezogen auf den historischen Stand der Geistesgeschichte, in dem sie so etwas wie eine ‚relative‘ Notwendigkeit beanspruchen können, weil sie einen Anteil an der, wie immer auch unvollständigen, Welterkenntnis haben. Wäre dies über sie nicht zu sagen, so gäbe es keinen Erkenntnisfortschritt, sondern entweder nur Unwissenheit bis zum Eintreten des dann analytisch verstandenen absoluten Wissens, oder aber lauter gleichberechtigte Narrationen. Der theoretische Erfolg von Kritik entscheidet sich daran, ob es ihr gelingt, die Rationalität der kritisierten Position zur Grundlage der Kritik zu machen.

Dadurch wird Geschichtlichkeit zum wesentlichen Element der Konstitution des Erkenntnisgegenstands: Das zu lösende Problem stellt sich dem Denkenden so dar, wie es seine Vorgänger ihm hinterlassen. Deshalb führt der Weg zum Begriff des Gegenstands nur durch die Kritik der fehlerhaften oder unzureichenden Meinungen hindurch. Kein Neuanfang in der Philosophie ist jemals radikal gewesen; noch der radikalste des Descartes lebt implizit von der Kritik an Aristotelismus, Platonismus und Scholastik und bleibt dabei aristotelischer, platonischer und scholastischer als er es selbst sich zugesteht. In der Kritik ein Bewusstsein davon zu behalten, dass die Kritik vom Kritisierten auch bestimmt wird, ist erst ein spätes Merkmal dialektischer Kritik.

Im Folgenden soll die Entwicklung der Formbestimmungen des skizzierten systematischen Begriffs theoretischer Kritik an der modellhaften Diskussion ausgewählter Autoren dargestellt werden. Der terminus ad quem der Darstellung ist die Fassung des Kritikbegriffs bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer; dort wird zu zeigen sein, warum dieser Begriff die Problematik kritischer Gesellschaftstheorie am besten begreift. Die Auswahl der übrigen behandelten Autoren bezweckt keine vollständige Geschichte des Kritikbegriffs. Ihr Zweck ist vielmehr, den Zusammenhang der systematischen Bestimmungselemente theoretischer Kritik in seiner Entwicklung im Verhältnis zum Gegenstand der Kritik möglichst präzise an theoretisch herausragenden Autoren modellhaft zu entwickeln. Eine bloße theoretische Ableitung von Kritik ist aufgrund der essenziellen Gegenstandsverwiesenheit von Kritik nicht möglich. Ebenso wenig würde eine bloße Geschichte des Begriffs klären können, was er systematisch bedeutet. Die Darstellung ist deshalb auf Modelle verwiesen. Deren Auswahl bezieht sich dann auf die modellhafte Ausführung derjenigen Begriffselemente, deren notwendiger Zusammenhang erst bei Horkheimer deutlich gesehen und bei Adorno theoretisch begründet wird.

2 Vorgeschichte

Auch geschichtlich ist für die theoretische Form von Kritik die erkenntnistheoretische Reflexion auf die eigenen Erkenntnisbedingungen der entscheidende Prozess, denn dazu gehört auch die Reflexion auf die Resultate der jeweiligen Vorgänger. Praxisorientierte, politische Kritik ist in der Philosophiegeschichte zumeist Tyranniskritik, die einerseits literarisch (z. B. in Solons Lyrik oder in Sophokles’ Antigone), andererseits theoretisch in der Form von Politiktraktaten, dann Fürstenspiegeln und schließlich Rechtstraktaten stattfindet. Ihre Kriterien sind vor allem Tradition, ontologische oder teleologische Ordnung der Welt und des Menschen sowie ein daran orientierter naturrechtlicher Gerechtigkeitsbegriff; erst spät wird die Objektivität subjektiver Vernunft und Freiheit zum Maßstab (als Überblick: Bauer 1965). Die theoretische Form solcher Kritik bildet sich aber im Zusammenhang mit der theoretischen Philosophie in Metaphysik (und im Mittelalter Theologie) sowie Erkenntnistheorie; die politische Kritik erhält eine triftige Begründung mit dem Fortschritt des theoretischen Selbstbewusstseins wissenschaftlicher Erkenntnis.

Zu den ersten Formen theoretischer Kritik dürfte die Ablösung des Mythos durch den Logos gehören. Selbst die mythischen Vorstellungen werden erst zum Gegenstrand theoretischer Kritik, nachdem sie selbst Resultate immanenter Kritik wurden, indem naive Götter- oder Geistergeschichten zu Mythologie oder Theogonie konstruiert wurden (Reichardt 2003 und Snell 1946).

In der frühen Philosophie erscheint Kritik als theoretische Methode vor allem bei den avancierten theoretischen Fragen wie der nach dem Sein, dem Wesen oder den Prinzipien der Erkenntnis. Schon der Seinsbegriff des Parmenides, demzufolge das Sein nur ein einziges ungeteiltes sein könne, stützt sich rhetorisch auf die Polemik gegen die ‚blöde glotzenden Sterblichen‘ (Parmenides 1968, S. 165–166), die nur gelten lassen wollen, was sie wahrnehmen können. Überhaupt hat die klassische griechische Philosophie eine kritische Form, insofern sie Aufklärung ist: Sie gründet in der Sophistik, die durch Bildung und durch Aufdeckung sozialer Lebensformen als menschengemachte eine Differenz im Selbstverständnis der Menschen bewirkt, die sich selbst und ihre eigenen Interessen bewusst von den historischen Lebensbedingungen zu unterscheiden lernen. Bildung ist in diesem Sinn Entfremdung (Hegel 1980, S. 264–323) Auch der Sophist Sokrates tritt in Platons Darstellung als hartnäckiger Kritiker der Sophisten auf, unterzieht die Meinungen anderer der Kritik und findet so überhaupt erst zu einer präzisen Formulierung des Problems. Bei Aristoteles wird die Kritik an den Meinungen seiner Vorgänger, einschließlich der Ideenlehre Platons, zur methodischen Grundlage der Gewinnung theoretischer Prinzipien. Aber Aristoteles geht noch einen Schritt weiter: Er begründet auch die Gültigkeit des grundlegenden theoretischen Prinzips, des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, durch Kritik, indem er zeigt, dass sogar die Leugnung dieses logischen Prinzips ohne seine implizite Voraussetzung nicht sinnvoll möglich ist: Wer nur irgendetwas behauptet, muss zugleich behaupten, dass er es mit Recht behauptet. Darin liegt nicht weniger als die Möglichkeit von Theorie überhaupt, denn das Widerspruchsprinzip ist Prinzip aller anderen Prinzipien, insofern diese auch untereinander widerspruchsfrei sein müssen.

Alle Theorien, die nicht bloße Adaptionen von schon Vorhandenem sind, haben ein kritisches Moment in sich. Das gilt selbst für die christliche Dogmatik, die seit Augustinus die Einheit des Lehrgehalts durch kritische Abgrenzung gegenüber Häresien herstellt (Bulthaup, Kap. „Zur Legitimität der Dogmatik“, in diesem Band.) Einen besonderen Auftrieb bekommt die Kritik aber mit der Rezeption des Aristoteles im 13. Jahrhundert. Dadurch wird gegenüber autoritären Formen zunächst die Rationalität theoretischer Kritik wieder betont. So ist sich Thomas von Aquin darüber im Klaren, dass jemand, der an die christliche Offenbarung nicht glaubt, nicht durch diese Offenbarung selbst zum Glauben bewegt werden kann. Wenn aber die Gehalte der Offenbarung wahr seien, dann müssten sie jedem Menschen mittels der Vernunft erklärt und bewiesen werden können (Aquin 2013, Buch I, Kap. 3).

Die auf die Aristotelesrenaissance folgenden Auseinandersetzungen zwischen neuplatonischen und aristotelischen Strömungen bringen relativ zügig die Brüchigkeit des mittelalterlichen Weltbildes zum Vorschein. Insbesondere die für die Neuzeit maßgeblichen Begriffe des Subjekts, des Willens und der Freiheit verdanken sich der in diesen Auseinandersetzungen geübten Kritik (Mensching 1992). Gleichwohl ist die epochale Veränderung zum neuzeitlichen Denken nicht bloß Ausdruck innertheoretischer Kritik. Dass die Begriffe des Subjekts und der Freiheit auf die Tagesordnung gerieten, ist seinerseits Ausdruck tiefgreifender Veränderungen im kollektiven Leben der Menschen. Die Auseinandersetzungen um den Vorrang kirchlicher oder weltlicher Macht, die wirtschaftliche Bedeutung und politische Verselbstständigung der Städte, die Veränderung wirtschaftlicher Zwecksetzungen vom bonum commune zum Privatinteresse, die damit verbundenen technischen und rechtlichen Veränderungen und vieles mehr ließen die traditionellen meist neuplatonisch gedachten Prinzipien der göttlichen Weltordnung als problematisch erscheinen (z. B. Hoffmann 2009, Kap. I).

Die Neuzeit wird damit in einem neuen Sinn zum Zeitalter der Kritik: Kritik ist nicht mehr nur ein stets gegenwärtiges Mittel der Theorieentwicklung, sondern sie wird zur formalen Grundlage theoretischen Denkens überhaupt. Descartes hat nicht allein den Zweifel methodisch angewendet, um unsichere Erkenntnisquellen auszuschließen; das maßgeblich Neue liegt darin, dass er auf diesem Wege das Subjekt als Mittelpunkt theoretischer Erkenntnis gewinnt: Es ist Grund und Resultat von Kritik, und dadurch Maßstab aller Erkenntnisse und ihrer systematischen Zusammenhänge. Damit gelingt Descartes nichts Geringeres als die Entdeckung des Maßstabes der Kritik, der bisher naiv vorausgesetzt werden musste. Weder Platon noch Aristoteles noch auch Thomas von Aquin verfügten über einen formalen Begriff reflexiver subjektiver Identität, der aufgrund seiner Nichtanzweifelbarkeit zur Grundlage der theoretischen Rekonstruktion sicheren Wissens taugte. Ihre Wissenssysteme waren kosmologisch oder theologisch verankert. Die Kritik der Aufklärung an dem auf Descartes folgenden Rationalismus richtet sich denn auch nicht gegen den Gedanken von Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung des Subjekts, sondern vor allem gegen die theologischen und religiösen Annahmen im Rationalismus. Das seiner selbst gewisse Subjekt ist nämlich nur deswegen Subjekt von irgendetwas, weil es aus seiner Selbstbewusstseinsstruktur auf einen Gott meint schließen zu können, der es nicht täuschen will. Das Subjekt der neuzeitlichen Philosophie tritt als unbestimmte Form, als abstrakt freie Reflexivität auf die Bühne, deren leibliche Seite zunächst ebenso unsichtbar bleibt wie ihre moralische, praktische Bestimmung.

Die gesellschaftliche Dimension falscher Vorstellungen wird in der Neuzeit mit der Herausbildung allgemeiner gesellschaftlicher Beziehungen als Element der Bewusstseinsbildung entdeckt. Zuerst bringt Francis Bacon dies auf den Begriff, indem er die Grundlagen mittelalterlichen Wissens, soweit sie gesellschaftlicher Natur sind, als Idola Fori und soweit sie etablierten falschen Lehrmeinungen entspringen als Idola Theatri kritisiert (Bacon 1999, S. 43–44). Verstärkt wird der gesellschaftliche Akzent noch bei den französischen Materialisten, die die theologischen Gehalte der Philosophie als Werkzeuge des ancien régime der Kritik unterziehen (Mensching 1971). In einer radikalen Kritik aller Spuren des Göttlichen oder der Religion reduzieren sie die Menschen, um sie vom Übernatürlichen zu befreien, ganz und gar auf Natur. Der daraus folgende Determinismus ist einerseits das Spiegelbild des Vorsehungsdeterminismus, andererseits soll aber gerade die Berechenbarkeit des Handelns und des Sozialen den Determinismus in sich umwenden: Durch die Negation von Freiheit in der theoretischen Berechnung des Handelns werde dieses – anders als die Negation von Freiheit durch die Vorsehung – doch rational von den Menschen angeeignet.

Mit der Kritik der Aufklärung an transzendent begründeten Weltordnungsvorstellungen tritt das subjektive Interesse als maßgeblicher Faktor, nicht mehr nur als seinerseits der Kritik verfallender Individualismus, in die Philosophie ein. Dies hat Hobbes, mit wieviel Recht auch immer, aus Descartes gezogen und zugleich gezeigt, dass das menschliche Interesse ein ambivalentes Prinzip ist: Die Freiheitsordnung der Neuzeit entsteht als autoritäre Herrschaftsordnung.

Die möglichst erfolgreiche Umwandlung des Interesses in gesellschaftlichen Nutzen beschäftigt nicht erst die Nationalökonomie. Schon Bacon macht den menschlichen Nutzen zum Kriterium der angewandten Physik gegenüber rein spekulativer Naturphilosophie; die französischen Materialisten stellen radikaler das individuelle Glück in den Mittelpunkt. Der Mensch ist ein glücksbedürftiges Wesen. Darum drehen sich die Gesellschaftskonzepte dieser Autoren, und dieses Moment geht auch in der Kritik an ihnen nicht ganz verloren.

Bei Kant kommt die Kritik als Formbestimmung modernen Denkens in neuer Weise zu sich selbst. Das Selbstbewusstsein, die Grundlage des Denkens im Subjekt, ist Resultat von Selbstkritik, aber nicht wie bei Descartes als Kritik inadäquater Erkenntnisquellen. Über diese erkenntnistheoretische Reflexion hinaus ist Kants Selbstkritik eine wissenschaftstheoretische: Er fragt nach der theoretischen Möglichkeit notwendiger und allgemeingültiger Erkenntnisse, die nicht tautologisch, sondern sachhaltig sind. Dies ist die systematisch zentrale Frage der Kritik der reinen Vernunft (Kant 1990). Damit bezieht er sich auf die systematisierten Resultate derjenigen modernen Wissenschaften, die durch die von Descartes ausgehende kritische Erneuerung der Wissenschaft erst möglich geworden waren, vor allem auf Physik und Mathematik. Als allgemeine Möglichkeit, Inhalte der Anschauung mit Begriffen zu Erfahrungserkenntnissen zu verbinden, erschließt Kant die Einheit des Selbstbewusstseins. Die subjektive Vernunft gelangt durch eine Kritik ihrer eigenen Form zu den Grundlagen moderner Wissenschaft, aber auch zu dem Unterschied von Natur und Freiheit. Die Formen der reinen Vernunft erlauben es, sicheres Wissen über die erscheinende Natur zu gewinnen, nicht aber über die Freiheit. Das ist entscheidend, denn gesetzmäßige Erkennbarkeit von Freiheit wäre erneut Determinismus. In die natürliche Gesetzlichkeit von Kausalität und Wechselwirkung sind Menschen als Bestandteil der erscheinenden Natur zwar eingebunden, aber als kritisch hierauf reflektierende Wesen sind sie nicht Bestandteil der Natur. Insofern Menschen geistige Wesen sind und als solche Entschlüsse über ihr physisches Verhalten fassen können, bleibt Freiheit möglich (Kant 1990, S. B560–B586). Ihre Realität bestimmt Kant ebenso über die Einheit des Selbstbewusstseins: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, heißt: Nur solche Zwecke sind moralisch zulässig, die in der Form eines allgemeinen Gesetzes denkbar sind, ohne dass individueller Inhalt und allgemeine Form im Subjekt einen Widerspruch erzeugen und so die Einheit des Subjekts zerstören (Kant 1974, § 7). Zugleich hält Kant, bei aller Kritik am Materialismus, an der Notwendigkeit des individuellen Glücks fest, ordnet dieses aber der Moral unter (Kant 1974, S. 178–179).

Für Hegel ist hingegen das gesellschaftliche Leben immer schon eine Verbindung moralischer, politischer und bedürfnisbezogener Prinzipien, seine Moralphilosophie ist ebenso Bestandteil der Rechtsphilosophie wie seine Sozialphilosophie (Hegel 2010). Durch geschichtliches Handeln wird immer schon Rationalität in der Welt realisiert, der gesamte Weltlauf ist im Grunde die Selbstrealisierung von Rationalität durch das gegenständliche Handeln von Menschen hindurch (Hegel 1986, Einleitung). Wirklichkeit ist Produktion und Produziertsein. So versucht Hegel mittels der Kritik an der nominalistisch geprägten erkenntnistheoretischen Reflexion Kants noch einmal metaphysisch die Möglichkeit von Wissen und Handeln zu begründen. Hegels System ist dann ein Zusammenhang von Begriffen, die durch die Kritik ihrer Unzulänglichkeit zu Momenten herabgesetzt werden, zu Teilbestimmungen eines umfassenden Ganzen. Die Gegenbegriffe, aus denen diese Kritik begründet ist, werden zu Gegenmomenten, die Momente treten in einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang ein, der das Ganze in seiner Widersprüchlichkeit fassen kann: nicht durch starre Begriffsverhältnisse, sondern durch dialektisch in sich beweglich gemachte Begriffe. Auf diese Weise will Hegel einen systematischen Zusammenhang aller logischen Bestimmungen zur Totalität der absoluten Idee konstruieren (Hegel 1984, Einleitung), und dieser soll die logische Form für die natürliche wie für die sittliche Welt darstellen (Hegel 1992, Einleitung).

Mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit der frühindustriellen Gesellschaft stimmt das schon zu Hegels Zeit nicht mehr zusammen. Er selbst notiert immer wieder grundlegende Widersprüche der Gesellschaft (Hegel 2010, § 245), hält aber am systematischen Charakter auch der Sittlichkeit fest. Allenfalls soll staatliche Politik die Widersprüche der Gesellschaft mäßigen und entschärfen. Dagegen richtet sich die Kritik linker, am Frühsozialismus orientierter Hegelschüler, und sie richtet sich nicht nur gegen die Theorie, sondern gegen die Wirklichkeit. Dafür ist vorausgesetzt, dass die von Hegel entdeckte Geschichtlichkeit nicht nur das Resultative des gegenwärtigen Zustandes, sondern auch seine Kontingenz beinhaltet. Die Gesellschaft ist von Menschen gemacht worden und kann von ihnen daher auch anders gemacht werden.

3 Karl Marx

Die systematische Konsequenz dieses kritischen Gedankens in Form einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Praxis findet sich beim späten Marx. Zwar verliert der Begriff der Kritik nach Hegel durch die Abwendung von dessen System zunächst an Eindeutigkeit und wird in unterschiedlichem Interesse auf unterschiedlichen Gebieten unterschiedlich eingesetzt; auch der Kritik-Begriff des frühen Marx ist unspezifisch, da ihm das gesellschaftliche Prinzip der von ihm zum kritischen Maßstab erhobenen Entfremdung noch unklar ist. Mit dem Kapital aber gelingt es, an Hegels systematischen Theorieanspruch anzuknüpfen und zugleich eine Kritik gesellschaftlicher Wirklichkeit mit der Intention ihrer Veränderung zu formulieren.Footnote 2 Zugleich, und bis heute, provoziert die kapitalistische Gesellschaft eine Vielzahl von Einwänden gegen sie, die sich einer systematischen theoretischen Begründung nicht mehr unterziehen wollen, zum Teil in dieser gerade eine bürgerliche Fessel zu erblicken wähnen. Unter der Voraussetzung der Geschichtlichkeit des Denkens können aber anthropologische oder theologische Maßstäbe der Kritik nicht überzeugen; will Kritik einen Anspruch auf Geltung erheben, so muss sie die gegebenen Verhältnisse zugleich wissenschaftlich erfassen und kritisch beurteilen.

Dafür geht Marx sowohl vom Begriff des Subjekts und seiner Glücksbedürftigkeit als auch von der geschichtlichen Form der Realisierung von Subjektivität und der Einsicht aus, dass diese unter wechselnden gegenständlichen Bedingungen sowie gesellschaftlichen und politischen Formen geschieht. Im Mittelpunkt dieser geschichtlichen Einsicht steht die Erkenntnis, dass die Organisation kollektiven menschlichen Handelns grundsätzlich immer von den Formen abhängt, in denen die Menschen ihr materielles Überleben organisieren. Um Zwecke zu verfolgen, müssen Menschen leben, und die Bedingungen, unter denen sie leben können oder müssen, sind zugleich Bedingungen aller weiteren Zwecksetzungen (Marx und Engels 1990, S. 20–50). Deshalb gehen die Ergebnisse der politischen Ökonomie nun auch konstitutiv, als Sachbestimmtheit, in die theoretische Form der Kritik ein. Die Möglichkeit dieser theoretischen Wende hängt aber auch hier nicht allein von innertheoretischen Faktoren ab, sondern von einem erneuten Wandel in der Form der Gesellschaft. Zwar ist und bleibt die neuzeitliche Gesellschaft eine bürgerliche, kapitalistisch wirtschaftende, aber innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise kommt es zu einer technischen Veränderung, die die kapitalistische Form der Gesellschaft auf den Punkt bringt und dadurch eine neue Form von Kritik möglich und notwendig macht.

Im Zuge der Industrialisierung kommt es erst zur allgemeinen Durchsetzung spezifisch gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit im Handeln der Menschen. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert schlägt die Dialektik der bürgerlichen Freiheit um: Die mittels Reflexion auf die Emanzipation des bürgerlichen Rechtssubjekts aus Privilegien- und Willkürherrschaft gewonnenen Prinzipien Freiheit und Gleichheit werden verkehrt zu formellen Grundsätzen einer gesellschaftlichen Herrschaftsordnung, die Marx polemisch als „Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham“ (Marx 1990, S. 189) charakterisiert. Damit können diese Prinzipien nicht mehr in derselben Weise als Prinzipien sozial- oder rechtsphilosophischer Kritik dienen, wie dies im Naturrecht mit seiner Stoßrichtung gegen feudale Privilegien und Willkürherrschaft der Fall war. Stattdessen ist nun zu erklären, wieso trotz der immer weiter gehenden Durchsetzung bürgerlicher Rechtsprinzipien massive soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen das Leben der Menschen bestimmen. Der theoretischen Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschaft kommt eine grundlegende Bedeutung zu, und diese Bedeutung hat ihren realen Grund in der allgemeinen Durchsetzung der industrialisierten kapitalistischen Produktionsweise.

Am Anfang der bürgerlichen Neuzeit steht die Auflösung der mittelalterlichen Lehnordnung. Die Bauern werden zwar aus der Leibeigenschaft entlassen, aber sie verlieren zugleich jeden Anspruch auf die Nutzung von Grund und Boden, der allmählich aus der nutzenorientierten Besitzform des Lehnwesens in bürgerliches Privateigentum und damit in exklusiven Großgrundbesitz überführt wird. Damit sind die Arbeiter zwar bereits im frühen Kapitalismus vom Kapital abhängig, weil sie nicht über die Produktionsmittel verfügen, die sie brauchen, um mit ihrer Arbeitskraft Waren herzustellen. Sie können ihre Arbeitskraft nur anwenden, überhaupt etwas produzieren, wenn sie die Arbeitskraft zu den Bedingungen der Produktionsmittelbesitzer verkaufen. Das Leben der Menschen hängt davon ab. Deshalb sind Produktionsmittelbesitzer in der Lage, die Arbeiter länger arbeiten zu lassen, als es zu deren eigener Selbsterhaltung notwendig wäre. Sie können die Arbeiter erstens ökonomisch zwingen, Mehrarbeit zu leisten, deren Produkt sie sich zweitens aneignen können, weil sie Eigentümer der Arbeitsbedingungen sind. Das darin liegende Herrschaftsverhältnis ist aber noch an Personen gebunden. Marx nennt dies in Anlehnung an Hegelsche Terminologie ‚formelle‘ Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, weil hier das herrschende Prinzip Kapital als formell entgegengesetztes Prinzip in der empirischen Gestalt eines Kapitalisten auftritt. Da aber Arbeitstage auch mit Gewalt nicht unbegrenzt zu verlängern sind, ist das unbegrenzte Verwertungsbedürfnis des Kapitals nur durch die Produktion von relativem Mehrwert zu befriedigen, der dadurch erzielt wird, dass die Produktivkraft der Arbeit durch technische Revolutionierung der Arbeitsprozesse gesteigert wird, wodurch sich das Verhältnis von bloß reproduktiver Arbeit und Mehrarbeit innerhalb eines gegebenen Arbeitstages zugunsten der Mehrarbeit verschiebt. Diese Mehrwertquelle führt unter anderem zur systematisch betriebenen Organisation betrieblicher Arbeitsteilung, in der schließlich jeder Arbeiter nur eine Teilfunktion möglichst effektiv ausführt. Das materialisierte Produkt der Kopfarbeit, nämlich die auf wissenschaftlicher Arbeit beruhende industrielle Maschinerie, tritt dem Anwender fremd und feindlich gegenüber (Marx 1990, S. 531). Sie nimmt ihm das Werkzeug aus der Hand, entwertet alle seine Qualifikationen und macht ihn zu einem Anhängsel der Maschinerie. Dadurch, so Marx wieder in terminologischer Anlehnung an Hegel, wird die Arbeit dem Kapital ‚reell‘ subsumiert: Arbeit und Kapital sind hier derart organisch vermittelt, dass es kein äußerlich erscheinendes Herrschaftsverhältnis mehr gibt, sondern Herrschaft ist in der veränderten Gestalt des Produktionsprozesses selbst inkorporiert. Aber die Maschinerie selbst übt keine Herrschaft aus. Dem gesellschaftlichen Prinzip der Herrschaft von Menschen über Menschen, dem Privateigentum an Produktionsmitteln zum Zweck der Verwertung von Wert, korrespondiert keine Anschauung mehr; es ist nur mehr durch Theorie auf seine empirischen Erscheinungen zu beziehen.Footnote 3 Diese von Marx entdeckte Nicht-Anschaulichkeit gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen ist das entscheidende Argument für eine theoretische Form der kritischen Gesellschaftstheorie, die mit theoretischen Begriffen, die selbst nicht empirisch sind, den Erfahrungsbestand durchdringt und ihn aus seiner nicht-anschaulichen Gesetzmäßigkeit heraus bestimmt und erklärt. Die theoretischen Begriffe sind solche, die sich in der erkenntnistheoretischen Reflexion der philosophischen Tradition als nichtinduzierbare Voraussetzungen theoretischer Erkenntnis erwiesen haben, z. B. Begriffe wie Ursache und Wirkung oder Wesen und Erscheinung. Zudem geht die Marxsche Gesellschaftstheorie davon aus, dass die gesellschaftliche Funktion einzelner Phänomene nur im Verhältnis zum theoretischen Ganzen der Gesellschaft bestimmbar sind; die Totalität gesellschaftlicher Phänomene ist aber ebenso wenig empirisch fassbar wie die Relationen der Phänomene, durch die sie strukturiert ist. Auf dieses Verhältnis von Theorie und Empirie wird zurückzukommen sein.

Durch die reelle Subsumtion wird die kapitalistische Produktionsweise „allgemeine, gesellschaftlich herrschende Form des Produktionsprozesses“ (Marx 1990, S. 533), und erst dadurch wird die Gesellschaft, der Ort der materiellen Reproduktion, zu einem nach allgemeinen Gesetzen funktionierenden Gesamtzusammenhang. Und hierdurch, durch die durchgehend gesetzmäßige Bestimmung gesellschaftlichen Handelns, wird sie möglicher Gegenstand von Gesellschaftstheorie (Marx 1974, S. 26–27).

Auf der Grundlage der Marxschen Mehrwerttheorie können aus der an sich gesetzmäßig verfassten gesellschaftlichen Vielheit durch begrifflich geleitete Beobachtung Prinzipien der theoretischen Rekonstruktion des Gegenstands Gesellschaft erschlossen werden, die erkenntnistheoretisch den Status von Wesensbegriffen gegenüber der variablen Vielheit von Erscheinungen haben, wobei freilich der Wesensbegriff nicht dinghaft zu denken ist, sondern als relationaler Begriff erkenntnistheoretischer Reflexion. Schon der Begriff des Werts, der ersten Kapitalbestimmung, ist als Begriff einer Relation kein Gegenstand möglicher Erfahrung.

In der theoretischen Darstellung des Gegenstandes ‚Kapitalismus‘ als System der Verwertung von Werten haben dann alle folgenden Begriffe eine systematisch bestimmte Ordnung. Der Begriff des Werts erhält dadurch seine systematische Bedeutung, dass er bereits auf die spätere Bestimmung des Mehrwerts, insbesondere des akkumulierbaren Mehrwerts, hin angelegt ist (zur Werttheorie: Wienold und Kößler im Handbuch; Bensch 1995). Mehrwert muss in Gestalt von Waren vorliegen, die erneut in den Produktionsprozess eingehen können, denn der Wert von Konsumtionsmitteln verwertet sich nicht weiter, sondern wird in der individuellen Konsumtion vernichtet. Das Kapital wächst gesamtgesellschaftlich nur dann, wenn es Mehrwert in wieder verwertbarer Gestalt produziert, und so bestimmt es sich zur Produktion von Produktivität durch die Produktion von immer produktiveren Produktionsmitteln. Die Produktion von Lebensmitteln wird systematisch zum Anhängsel dieser Produktion von Produktivität, sie fällt auf die Kostenseite der gesamtgesellschaftlichen Bilanz und wird, soweit es physiologisch und kulturell möglich ist, reduziert. Dies bestimmt die entwickelte bürgerliche Gesellschaft zu einem irrationalen Gebilde, das theoretisch aus dem Begriff kapitalistischer Akkumulation aber durchaus systematisch erklärbar ist. Allerdings ist mit dem Systembegriff nicht mehr wie bei Hegel verbunden, dass der Gegenstand damit als rationales Ganzes erwiesen sei; vielmehr geht es darum, Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, die ein in sich widerspruchsvolles und antagonistisches Ganzes in einer stabilen prozessualen Form halten. Die kapitalistische Gesellschaft vereint zudem systematische Stringenz und historische Kontingenz, sie ist eine stabile Herrschaftsform, die das Verhalten mechanisch standardisiert, aber als Herrschaft von Menschen über Menschen eben doch essenziell vom Verhalten von Menschen, der Möglichkeit nach freien Subjekten, abhängt. Insofern tritt als zentrales Herrschaftsmittel auch bei Marx bereits das ideologische Bewusstsein hervor und Gesellschaftskritik wird zum erheblichen Teil Ideologie- und Bewusstseinskritik.

4 Historisch-Systematisches Resultat: Formelemente kritischer Theorie

Insofern die Marxsche Gesellschaftstheorie der theoretischen Form nach nicht naiv, sondern selbstbewusstes Resultat der durch Kritik bewegten Geschichte des theoretischen Denkens ist, sind in ihr die nach und nach historisch erarbeiteten Formbestimmungen kritischen Denkens systematisch zur kritischen Theorie verbunden (zu diesen Formbestimmungen: Ritsert 2014). Kritische Theorie ist der logischen Form nach negativ. Sie bestimmt ihren Gegenstand zwar mit dem Ziel systematischer Vollständigkeit, aber nicht in affirmativer Weise. Der kritische erkannte Gegenstand ist erkannt als das, was er in sich notwendig ist, aber es ist zugleich erkannt, dass er nicht überhaupt notwendig so ist, sondern auch anders sein könnte. Diese Negativität allein bliebe aber bloße Negativität ohne weiteren Inhalt, ihr Inhalt wäre sie selbst und damit wäre sie platte Affirmation und Identität. Negativität kann aus sich selbst keine Inhalte hervorbringen, sie muss sich auf Gegenstände beziehen, die von ihr unterschieden sind. Deshalb ist Kritik, um ihrer Negativität willen, auf empirisches, historisches Material angewiesen. Es ist unmöglich, einen kritischen Begriff der Gesellschaft aus begrifflichen Prinzipien zu entwickeln, sondern er muss aus der begrifflichen Analyse und Synthese gegebener gesellschaftlicher Erscheinungen erschlossen werden. Systematisch möglich und auch erforderlich ist dies in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, die erfahrungsanalog nicht mehr beschrieben werden kann, aber auch nicht muss, denn ihre allgemeinen Gesetze können Gegenstand von Theorie sein. Mit der kritischen Verbindung von negativer Form und gesellschaftshistorischem Material, die über eine Gegenstandsbeschreibung kritisch hinausgeht, stellt sich aber die Frage nach dem Maßstab der Kritik. Verbindlichkeit kann sie weder aus individuellen Vorlieben noch aus einem utilitaristischen Durchschnitt beziehen. Die ersten sind partikular, der zweite komparativ allgemein; Theorie ist begrifflich allgemein, d. h. das Kriterium muss begrifflich fundiert sein, ein Prinzip in systematischem Sinn. Der Maßstab der Kritik kann weder aus der negativen Form, noch aus dem materiellen Inhalt der kritischen Theorie stammen, denn die Form ist abstrakt, könnte auf jeden Inhalt angewendet werden, das Material aber ist zufällig oder bestenfalls komparativ allgemein, denn es ist als Material vor aller Kritik bloßer Erfahrungsinhalt (hierzu: Holzer in diesem Handbuch). Der Maßstab der Kritik ist deshalb das kritische Subjekt selbst (Kuhne 2017). Es ist als theoretisches ein vernunftbegabtes Sinnenwesen, das durch Denken die Einheit von sinnlicher Erfahrung und vernunftgeleitetem Denken herstellt. Es unterscheidet und beurteilt Erfahrungsgehalte nach dem Maßstab der Einheit des Selbstbewusstseins. Gegenstände, die als irrational erkannt werden, verfallen der Kritik. Damit reicht theoretische Kritik in die Praxis hinein: Das kritische Subjekt als praktisches ist autonomes Subjekt. Mit diesem Ausdruck sind keine Allmachtsfantasien verknüpft, sondern die bescheidene Einsicht, dass Menschen aufgrund der Reflexivität ihres Bewusstseins nicht naturkausal determiniert sind und deswegen prinzipiell über die intellektuelle Voraussetzung verfügen, ihre eigenen Zwecke zu fassen. Dass sie dies meistens nicht tun, weil die Form der Freiheit durch externe Einflüsse blockiert und deformiert werden kann, ist ein anderes Problem. Jede pragmatische Ermäßigung der Autonomie, die Kant zufolge der Grund der Menschenwürde ist, führt zum Kollaps der Kritik: Wenn es keinen absoluten Wert gibt, dann sind alle Erscheinungen nur relativ wertvoll, in Beziehung aufeinander, und die Werte wechseln je nach Relation. Wenn Menschen instrumentalisierbar sind, gibt es keinen verbindlichen Maßstab gesellschaftlicher Ordnung.Footnote 4 Alles ist aushandelbar, und das Aushandeln hängt von faktischen Machtverhältnissen ab. Deshalb ist es auch theoretisch wie praktisch aussichtslos, das autonome Subjekt in der kritischen Theorie funktional durch Deliberations- oder Rechtfertigungsverfahren ersetzen zu wollen.

Wenngleich die individuellen Subjekte nicht gegeneinander oder gegen gesellschaftliche Zwecke aufzurechnen sind, ist Subjektivität doch keine abstrakte, starre Bestimmung. Bestimmbar ist sie nur im Verhältnis zur Objektivität, und darin gründet die historisch verankerte dialektische Form kritischer Theorie. Das Subjekt, das Maßstab der Kritik sein kann, ist nicht einfach als Subjekt da, sondern es steht im Verhältnis zu Objekten. Es kann von Objekten nur durch seine subjektiven Formen hindurch wissen, aber die reale Ausprägung seiner formalen Subjektivität hängt von den objektiven Bedingungen ab, unter denen es lebt, sich selbst erfährt und eine Vorstellung von sich entwickelt. Die Form des Selbstbewusstseins ist nur wirklich in der Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis. Aufgrund dieser wechselweisen Bedingung von Subjekt und Objekt ist ein kritisch reflektiertes Selbstbewusstsein schon erforderlich, um überhaupt ein Bewusstsein von sich und andern sowie anderem zu entwickeln, das über die Reproduktion von Alltagserfahrungen hinaus geht und den Gegenständen selbst gerecht wird. Das Subjekt wird dann nicht allein als Subjekt Gegenstand der Kritik, wie es in der klassischen Erkenntnistheorie war, sondern als objektiv bedingtes Subjekt. In die Erkenntniskritik fließt Gesellschaftskritik ein. Andererseits können die objektiven Bedingungen deshalb Gegenstand der Kritik werden, weil sie selbst Ausdruck historisch realisierter Subjektivität sind.

Der emanzipative Charakter kritischer Theorie legt es sodann nahe, Utopie als eine ihrer Formbestimmungen anzunehmen, sowie das der Utopie korrespondierende Vermögen der produktiven Einbildungskraft. In diesem Sinn hat Ernst Bloch den Begriff der ‚konkreten Utopie‘ geprägt (Bloch 1980), der diesen Gedanken gegen die von Marx und Engels vertretene Reduktion der Kritik auf den wissenschaftlichen Sozialismus verteidigen sollte (Marx und Engels 1969 und Engels 1973). Die konkrete Utopie sollte ihrem Gehalt nach nicht bloße Fantasie sein, sondern in Wechselwirkung mit den realen gesellschaftlichen Bedingungen einer möglichen Umgestaltung gedacht werden. Ähnliche Überlegungen zur Dialektik von Denken, Wirklichkeit und Möglichkeit finden sich auch bei Lukács und wieder bei Marcuse, der bereits 1937 die „Phantasie“ ins Spiel bringt, die später für ihn zentral wird (Marcuse 1965a, S. 122–124). Allerdings ist auch für Adorno neben der Einheit des Subjekts und seiner Autonomie die produktive Einbildungskraft von Interesse, jedoch in erheblich reduzierter Form: Sie ist notwendig für die Vorstellung der Kontingenz des Wirklichen, um die Möglichkeit von Veränderung offenzuhalten: Was ist, ist mehr als es ist (Adorno 1966, S. 61–62; Landwehr 2012)Footnote 5. Der in diesem Satz liegende Widerspruch kann nur prozessual gedacht werden, als Antizipation der Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit in der gegebenen, und dieser Gedanke ist eine Funktion der produktiven Einbildungskraft; seine bestimmten Gehalte zieht er aber aus dem negativen Verhältnis der Einheit des Selbstbewusstseins zur Wirklichkeit, nicht aus der Phantasie. Kritische Theorie kann aufgrund der Erkenntnis der Kontingenz der Wirklichkeit an dieser bestimmen, was nicht mehr sein soll.

5 Das Subjektproblem: Vorgriff auf Herbert Marcuse

Von den bei Marx versammelten Elementen kritischer Theorie erfährt das Subjekt der Kritik kaum eine explizite Darstellung. Es gerät aber, je stärker die Erwartung einer revolutionären Veränderung hinter das Ideologieproblem zurückgedrängt wird, zunehmend in den Mittelpunkt der kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts. Marx hatte die ideologisierende Kraft der Gesellschaft durchaus gesehen, ihr aber zugleich emanzipierende Tendenzen beigeordnet. Das Kapital bricht durch Vergesellschaftung das Widerstandspotenzial der alten artisanalen und agrarischen Gesellschaft, aber es bringt mit der Arbeiterklasse zugleich neues Widerstandspotenzial hervor. Ideologie ist funktional in der gesellschaftlichen Herrschaftsordnung, aber sie ist nicht undurchschaubar. Herbert Marcuse hat diesen systematisch wichtigen Punkt besonders aufgegriffen (H.E. Schiller 1993) und soll deshalb an dieser Stelle anachronistisch vorangestellt werden, zumal seine psychologischen Arbeiten zum Subjekt der Kritik sich auch dadurch der Chronologie sperren, dass sie über einen langen Zeitraum zwar im Austausch mit den anderen Autoren aber doch parallel zu der auf Horkheimer und Adorno führenden Theorieentwicklung verlaufen. Die genaueren historischen Zusammenhänge können hier nicht entwickelt werden (vgl. aber zur Geschichte immer Wiggershaus 1988 und zur Entwicklung in der Bundesrepublik besonders Demirović 1999). Angesichts der Erfahrung, dass das Widerstandspotenzial der Arbeiterklasse unsichtbar wurde, dass es in der Nachkriegsgesellschaft überhaupt keine nicht systemstützende Opposition mehr gebe, hat Marcuse eine psychoanalytische Erklärung versucht, die von der gesellschaftlichen Organisation der Bedürfnisse ausgeht (hierzu: Dahmer, Schmid Noerr und Markard im Handbuch). Mit einer nicht unproblematischen Unterscheidung in wahre und falsche Bedürfnisse (Marcuse 1967, S. 25; Adorno 1972c) versucht er zu zeigen, dass die Gesellschaft die Entwicklung von Bedürfnissen fördere, die der Erhaltung der Herrschaftsordnung dienen. Weil sie überhaupt Bedürfnisse in so großem Umfang befriedige, erscheine die herrschaftliche Organisation dieser Befriedigung selbst als Bedürfnis. Dadurch würden alle oppositionellen Bestrebungen so modifiziert, dass sie der gesellschaftlichen Herrschaft dienlich seien. Diese Gesellschaft nennt Marcuse totalitär. Gleichwohl seien die Organisationsformen, die zur Befreiung aus dem Naturzustand dienten, und dazu gehört auch die Triebunterdrückung zum Zweck geordneter Kooperation, im entwickelten Industriestadium nicht mehr notwendig; vielmehr behinderten sie den Fortschritt zur individuellen Freiheit, der jetzt ohne ökonomische Regression möglich wäre. Der marxistische Befreiungsbegriff, der dem zu Grunde liegt, dürfte sich weniger auf das Kapital stützen als auf die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, deren Wiederentdeckung und Publikation Marcuse in einer Rezension von 1932 begeistert begrüßt (Marcuse 1969, S. 7–54). Diese Schriften haben einen ähnlichen Einfluss auf die Gestalt theoretischer Kritik genommen wie später die Renaissance der Hegelschen Frühschriften mit ihrem Anerkennungsbegriff. In den Manuskripten behauptet Marx, alle gesellschaftlichen Phänomene aus dem Begriff der Entfremdung der Arbeit ableiten zu können. Da Marx in dieser Arbeit weder über den Wertbegriff noch über den Begriff der Mehrwertakkumulation verfügt, bleibt es bei sozialphilosophischen Spekulationen über Beobachtungen, die zwar genau sind, aber sich theoretisch noch nicht ordnen lassen. Der Entfremdungsbegriff kann selbst erst vom Kapital aus einige Bedeutung bekommen, und es hängt von der Gewichtung der reifen Kapitalkritik ab, inwieweit der Entfremdungsbegriff die kritische Theorie bereichert oder aber zur Marginalität herunterbringt. Dies Verhältnis ist nicht immer klar (Rehmann in diesem Handbuch).

Dass die kapitalistische Produktionsweise zunächst der Befreiung dient und dann zu ihrer Fessel wird, hatte auch der späte Marx geschrieben. Den nötigen Auslöser für das Sprengen dieser Fesseln hatte er in den unterdrückten objektiven Interessen der Arbeiterklasse gesehen, die durch ökonomische Aufklärung zum Bewusstsein subjektiver Interessen gebracht werden müssten. Marcuses psychoanalytische Erklärung verstellt diesen Weg: Wie von der deformierten Triebstruktur zum Antrieb der Befreiung zu gelangen sei, lässt sich über rationale Argumentation allein nicht mehr klären. Marcuse sucht deshalb die Möglichkeit der Befreiung einerseits in einer ästhetischen Sensibilisierung des politischen Bewusstseins, ähnlich wie Friedrich Schiller sie konzipiert hatte (Marcuse 1965b).Footnote 6 Die Phantasie sei nämlich der einzige Bereich, der nicht durch das Realitätsprinzip völlig deformiert sei. Andererseits sucht Marcuse nach dem revolutionären Subjekt nicht bloß in der Kunst, sondern zunächst in den Gruppierungen der radikal Ausgeschlossenen (die deshalb kein Bedürfnis nach Herrschaftserhaltung haben), der „Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, [der] Arbeitslosen und [der] Arbeitsunfähigen“ (Marcuse 1967, S. 267), später dann auch in der Studentenbewegung (Marcuse 1973). Man kann hier eine Tendenz zu den später so genannten neuen sozialen Bewegungen sehen, die zur Stütze der poststrukturalistischen Wende in der Soziologie gemacht worden sind. Für Marcuse sind diese Gruppen aber klarerweise Ausdruck der Klassenstruktur der kapitalistischen Gesellschaft und geben von daher keinen Anlass zur Abkehr von der Marxschen Theorie (Roth 1985). Dabei changiert er zwischen Passagen, in denen eine nicht näher bestimmte ästhetische Erziehung vorgeschlagen wird, und solchen, in denen klare Bekenntnisse zur theoretischen Bildung und Aufklärung formuliert werden. Dass Marcuse sich nicht festlegt, ist keine Marotte, sondern der theoretischen, nämlich psychoanalytischen Fundierung seiner Kritik geschuldet.

6 Situation des 20. Jahrhunderts I: Lukács, Kracauer, Benjamin, Horkheimer, Adorno

Im 20. Jahrhundert wird die Frage, warum die Menschen ihre gesellschaftlichen Zwänge nicht überwinden, obwohl alle theoretischen und gegenständlichen Bedingungen vorhanden sind, immer drängender. Die Arbeiterbewegung korrumpiert sich im Ersten Weltkrieg, indem sie die Waffen nicht gegen die Herrschenden, sondern gegen einander richtete (Bulthaup 1975, S. 131). Was von ihr geblieben war, wurde zunächst von der Sozialdemokratie brutal diszipliniert, dann von den Nationalsozialisten ausgelöscht. Der Faschismus brachte zudem eine systematische Bestimmung des entwickelten Kapitals zur historischen Entfaltung: die Gleichgültigkeit des individuellen Subjekts (Bulthaup 1998b, S. 122–123). Die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln basierende Konkurrenz der Arbeiter untereinander, der systematisch reproduzierte Mangel, begründen eine spezifische Form von Fremdenhass die auch in der Ideologie der Massenvernichtung fungiert Bulthaup 1998b, S. 122 – 123.

Die kritische Theorie der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit einer Gesellschaft konfrontiert, die durch diese Erfahrung der radikalen Überflüssigkeit des Individuums hindurchgegangen war (Adorno und Horkheimer 1969, S. 232). Bei allen Widersprüchen und aller Disfunktionalität des Faschismus hat dieser doch dem Kapital einen Dienst erwiesen: Im Kontrast zu ihm erhält der regenierte bürgerliche Kapitalismus den Anschein der selbstverständlichen, mit allem historischen Recht siegreichen Ordnung. Die vom Faschismus bekämpfte Opposition kommt dann nur systemkonform wieder zu sich. Die Egalisierung der Gesellschaft durch den Faschismus wird mit Menschenrechtserklärungen ausgestattet, aber nicht mehr zurückgenommen; das klassische Ideal individueller Vervollkommnung weicht dem der Chancengleichheit. So wird die Gleichheit der Menschen in den Dienst des kapitalistischen Aufbaus gestellt. Dem korrespondiert ein neuer Schub von Positivismus und Historismus in der Wissenschaft sowie eine Tendenz zur affirmativen Illusion von Unmittelbarkeit im Bewusstsein: Das Vorrecht subjektiven Empfindens und die Denunziation differenzierenden Denkens, Kernbestimmungen faschistischen Bewusstseins, beherrschen auch in weitem Maße das Selbstverständnis der Nachkriegsgesellschaft.

Diese Situation verschärft die gesellschaftstheoretische Problemstellung nicht bloß graduell, sondern sie wirkt sich auf die Form kritischer Theorie aus, die nun an ihrem Wahrheitsanspruch festhalten muss, ohne an die Erfolgserwartungen des frühen Marxismus anknüpfen zu können. Kritische Theorie wird zu dem Unternehmen, das kritische Subjekt gegen seine gesellschaftsfunktionale Vereinnahmung festzuhalten, auch um den Preis der Schizophrenie (Adorno 1973, S. 191–192).

6.1 Georg Lukács

Das zeichnet sich bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen ab. Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zur Massengesellschaft, die „steigende[] kapitalistische[] Vergesellschaftung der Gesellschaft“ (Lukács 1968, S. 340) inspiriert Lukács Anfang der 1920er- Jahre zu erkenntnistheoretischen Überlegungen darüber, wie das kritische Subjekt zu einem adäquaten Bewusstsein der geschichtlichen Wirklichkeit fähig sei, und er stellt dies durchaus in den Rahmen einer allgemeinen materialistisch-dialektischen Erkenntnistheorie. Seine zentrale und einflussreich gewordene Überlegung ist es, die gesellschaftstheoretische Bedeutung des Warenfetischs hervorzuheben. Marx hatte bemerkt, dass gesellschaftliche Eigenschaften wie der Wert, wenn sie allgemeine Prinzipien gesellschaftlichen Handelns werden, als natürliche Eigenschaften der Dinge selbst aufgefasst werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen, vermittelt über ihre Arbeiten, erscheinen dann als sachliche Verhältnisse, die gesellschaftlichen Verhältnisse werden als dinghaft-natürliche, als Sachzwänge aufgefasst (Marx 1990, S. 87). Diese verkehrte Auffassung ist aber sachgemäß, weil die Bestimmungen der kapitalistischen Gesellschaft das Handeln innerhalb dieser Gesellschaft tatsächlich mit naturkausaler Strenge regeln. Selbst wer dies durchschaut, muss die Sachzwänge in der Alltagspraxis bedienen. Seine Aufgabe sah Lukács darin, den Schein zu erklären und die Richtung des revolutionären Handelns aufzuzeigen. Während Marx kaum an der künftigen Revolution gezweifelt hatte und Aufklärung um der Richtung willen betrieb, hatte er doch zugleich mit dem Warenfetisch die Problematik eines Subjekts der Theorie angesprochen. Lukács bestimmt mit seinem Verdinglichungsbegriff die Ausmaße und die Verdichtung von Ideologie illusionslos: Es „senkt sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen hinein“ (Lukács 1968, S. 185). Wenn die Ware das Element der kapitalistischen Gesellschaft und mit ihr der Fetischcharakter verbunden sei, dann müsse dieser sich folgerichtig über alle Lebensvollzüge ausbreiten, die von der Warenform ergriffen würden. Dagegen will Lukács nun das Proletariat als Träger eines objektiven Bewusstseins von der Gesellschaft aufbieten. Dieses Bewusstsein sei aber nach dem Modell ‚Subjekt erkennt Objekt‘ nicht konstruierbar, weil das Subjekt selbst Bestandteil der Objektivität sei. Die Lösung soll darin liegen, dass das Proletariat praktisch verändernd in den Lauf der Geschichte eingreift. Das Problem liegt darin, dass das dafür nötige Klassenbewusstsein als reales erst Resultat der geschichtlichen Praxis ist, wie diese Praxis umgekehrt das Klassenbewusstsein als auslösendes Subjekt voraussetzt. Lukács will auf einen prozessualen Begriff gesellschaftlicher Wirklichkeit hinaus, in dem das Proletariat ein Moment ist. Deswegen soll es in der Lage sein, die in der gesellschaftlichen Dynamik verborgenen Momente, die über die Grenzen des Kapitalismus hinausweisen, wirksam zu machen. Allerdings ist damit ein Modus angedeutet, wie innerhalb eines heteronomen gesellschaftlichen Systems autonomes Bewusstsein als wirklichkeitsbildend gedacht werden kann; aber die Autonomie selbst, die Möglichkeit des Subjekts wird schlicht postuliert: „Diese Verwandlung selbst kann aber nur die – freie – Tat des Proletariats selbst sein“ (Lukács 1968, S. 355). Die Frage nach der Möglichkeit des historischen Subjekts reicht indes hinter ‚das Proletariat‘ zurück: Dort hatte Lukács die Proletarier, die je ideologisch eingebundenen Individuen, vergessen, ihre objektive Konstitution zur Klasse wie selbstverständlich vorausgesetzt.

6.2 Siegfried Kracauer

Der Einzelne gerät hingegen bei Siegfried Kracauer in den Blick, wenn er Ende der 1920er- Jahre vom Ornament der Masse spricht (Kracauer 1977). Die kapitalistische Gesellschaft sieht er in der Tradition organischer Gesellschaftsmodelle, in denen die Einzelnen ebenso wie im Nationalismus als Funktionen eines Ganzen mythologisiert werden, das nicht das ihre ist. Auch Kracauer geht es um die Richtung: Der menschliche Weg aus dem Kapitalismus führt nicht in Gesellschaftsformen niedrigerer Rationalisierungsstufen zurück. Die moderne Gesellschaft ist ein Schritt auf dem Weg zu menschenwürdigen Lebensbedingungen. „Doch die Ratio des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist nicht die Vernunft selbst, sondern eine getrübte Vernunft. Von einem bestimmten Punkt ab läßt sie die Wahrheit im Stich, an der sie einen Anteil hat. Sie begreift den Menschen nicht ein“ (Kracauer 1977, S. 57). Damit ist der selbstbewusste, autonome Einzelne gemeint, also das Individuum, das an der Gattung teilhat: „Der Prozeß führt durch das Ornament der Masse mitten hindurch, nicht von ihm aus zurück. Er kann nur vorangehen, wenn das Denken die Natur einschränkt und den Menschen so herstellt, wie er aus der Vernunft ist. Dann wird die Gesellschaft sich ändern“ (Kracauer 1977, S. 63). Diese Insistenz auf dem vernünftigen, an der Gattung teilhabenden Subjekt wird auch die kritische Theorie nach 1945 bestimmen; die Selbstverständlichkeit dieser Insistenz ist ihr aber abhanden gekommen und deren Begründbarkeit wird ihr zum zentralen Problem.

6.3 Walter Benjamin

Die verzweifelte Form dieses Problems deutet sich bereits bei Walter Benjamin an. Hatte er noch 1936 im Kunstwerkaufsatz vertreten, dass die Massen in den Kinos zwangsläufig zu kritischen Subjekten gebildet würden (Benjamin 1955a, bes. VIII und XII), und dass die „Politisierung der Kunst“ (Benjamin 1955a, S. 169) eine Form von Kritik sei, die anders als die bürgerliche Theorie in der Praxis das Subjekt einer kommunistischen Bewegung zu konstituieren vermöchte, so stehen die Thesen Über den Begriff der Geschichte (1939) unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes, der für Benjamin die Korrumpierung, ja Selbstauflösung des historischen Subjekts bedeutet. Von hier aus rekonstruiert er den bürgerlichen und sozialdemokratischen Positivismus, insbesondere den positivistischen Fortschrittsbegriff als theoretische Form ideologischer Affirmation. Dagegen bietet Benjamin weniger einen Begriff von Geschichte als diese selbst auf: Der fatale kontinuierliche Verlauf der Geschichte soll nicht umgelenkt, sondern angehalten werden. „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst“ (Benjamin 1955b, S. 257). Soweit folgt Benjamin Lukács. Aber er fügt dem revolutionären Bewusstsein der Klasse ein historisches Element hinzu, durch das sie die Individualität und vor allem das individuelle Glück und Leid sich konstitutiv aneignet: Das materialistische historische Bewusstsein soll aus der Not der Gegenwart heraus Geschichte rekonstruieren. Dadurch sollen in dem scheinbaren Fortschritt Niederlagen und Opfer sichtbar werden, die Entwicklung der Menschheit stellt sich als dialektisch in sich gebrochener Prozess dar. Was Benjamin darüber hinaus unmissverständlich klarstellt, ist, dass Kritik im entwickelten Kapitalismus nur mehr aus dem radikalen Anspruch auf Befreiung formulierbar ist. Keineswegs hatte er sich damit nur auf den Faschismus bezogen, sondern diesen ausdrücklich als Gipfelpunkt des bürgerlichen Positivismus dargestellt (zur Geschichtsphilosophie: Bulthaup 1975; zu Benjamin insgesamt: Tiedemann 1973).

6.4 Max Horkheimer

Insbesondere gegen den Positivismus richtete sich dann auch die erste theoretische Reflexion auf kritische Theorie, von der diese auch ihren Namen bezieht: Max Horkheimers Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie von 1937.Footnote 7 In ihm werden alle bisher entwickelten Formelemente kritischer Theorie zusammengeführt, wie eine Passage vom Schluss des Textes zeigt: „Die kritische Theorie hat bei aller Einsichtigkeit der einzelnen Schritte und der Übereinstimmung ihrer Elemente mit den fortgeschrittensten traditionellen Theorien keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. Diese negative Formulierung ist […] der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft. In eine geschichtlichen Periode wie dieser ist die wahre Theorie nicht so sehr affirmativ als kritisch, wie auch das ihr gemäße Handeln nicht ‚produktiv‘ sein kann. An der Existenz des kritischen Verhaltens […] hängt heute die Zukunft der Humanität“ (Horkheimer 1988e, S. 216; zu Horkheimer: Moritz 1992)

Der idealistische Begriff der Vernunft liegt in der Einheit des subjektiven Selbstbewusstseins, die der Kritik vorausgesetzt, aber für sich selbst leer ist und eines Inhalts bedarf. Dieser Inhalt, das Material der Kritik, wird gewonnen durch Negation gesellschaftlicher Erfahrungsgehalte, hier des Unrechts. Dieses negative Verhältnis der Kritik zu ihrem Gegenstand ist zudem geschichtlich bestimmt, worin einerseits ein polemisches Verhältnis zur Ideologie und andererseits ein Praxisbezug gründen (Asbach 1997).

Horkheimer gelangt zu dieser Bestimmung zunächst durch Abgrenzung von der von ihm so genannten traditionellen Theorie. Diese wird über ihre logische Form, als System von Sätzen verstanden, die auf einen von der Theorie selbst getrennt gedachten Gegenstandsbereich angewendet oder aus ihm extrahiert werden. Ihr Verhältnis zum Gegenstand ist äußerlich und unhistorisch, sie stellt zeitlos gültige allgemeine Sätze über etwas auf. Diese Denkweise wird bis auf Descartes zurückgeführt. Horkheimers Einschätzung ist, soweit sie Mathematik und Naturerkenntnis betrifft, nicht unproblematisch, denn deren Erkenntnismethoden stellen ja durchaus ein wesentliches Mittel zur Emanzipation menschlichen Lebens aus dem unmittelbaren Naturzwang dar (hierzu: Müller und Bittlingmayer in diesem Handbuch). Dass die neuzeitliche Erkenntnistheorie als Reflexion der modernen Naturforschung das adäquate Selbstbewusstsein dieser Emanzipation ist, kommt bei Horkheimer ebenfalls nicht zum Ausdruck.Footnote 8 Entscheidender ist aber wohl die Bemerkung, dass die Geisteswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert die positivistische Form der Wissenschaft adaptieren, um ihren Marktwert zu steigern. Außerdem sei die Wissenschaft in ihren technischen Anwendungen (die Horkheimer ebenfalls nicht deutlich von der Wissenschaft unterscheidet) in gesellschaftliche Zwecke involviert. Auch sei zu beobachten, dass das wissenschaftliche Denken in der Geschichte Veränderungen unterworfen sei, und diese bezieht Horkheimer auch auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen des Denkens. Wissenschaft sei Element gesellschaftlicher Arbeitsteilung und daher funktional gebunden. Sie trägt zur gesellschaftlichen Kohärenz bei, selbst wenn sie nicht ökonomisch produktiv ist, sie hat eine mittelbare ökonomische Funktion (zum Ökonomismusproblem Horkheimer 1988a, S. 222). Die traditionelle Wissenschaft hingegen sitzt der Illusion ihrer Unabhängigkeit auf.

Weder die Welt noch das Subjekt seien fix gegebene Größen im Sinne des erkenntnistheoretischen Dualismus, in dem das Subjekt nur das passiv aufnehmende sei. Tatsächlich sind beide geschichtlich bestimmt und vermittelt. Die Welt ist Resultat geschichtlichen Handelns und das Subjekt ist durch gesellschaftliche Funktionen konditioniert. Das theoretische Selbstbewusstsein dieses Verhältnisses von Subjekt und Welt ist nun die kritische Theorie, die Horkheimer einmal auch kritisches Denken, meistens aber kritisches Verhalten nennt. Offenbar soll damit der die bloße Theorie übersteigende Praxisbezug eingeholt sein. Der Gegenstand dieses Verhaltens ist die Gesellschaft selbst, aber nicht in konstruktiver oder verbessernder Absicht. Es geht um ein kritisches Bewusstsein vom Ganzen.

Das „Subjekt[] des kritischen Verhaltens“ (Horkheimer 1988e, S. 181) zeichnet sich dadurch aus, dass es die gesellschaftlichen Bedingungen nicht einfach hinnimmt. Dadurch gerät es aber in einen existenziellen Widerspruch: Es erkennt die Welt als (historisch und theoretisch) seine eigene, die aber (politisch) doch nicht seine ist. Die darin liegende Überwindung der Trennung von wissenschaftlichem und politischem Bewusstsein reproduziert diese Trennung als Spaltung im Subjekt. Bei allem revolutionären Pathos, das Horkheimers Text noch hat, erscheint das Subjekt der Kritik schon als gebrochene Figur, die sich zu dem Material, dessen sie als Subjektivität bedarf, nur negativ verhalten kann, also von sich abstoßen muss, was es benötigt. Dieser Widerspruch in der Form des kritischen Bewusstseins überträgt sich in die Begriffe der kritischen Theorie, die stets affirmative und negative Momente vermitteln; die kritische Theorie ist wesentlich eine dialektische Theorie, sie erhält ihre Bestimmungen nur durch Kritik.

Dieses Subjekt ist kein absolutes oder autonomes, sondern ein konkretes. Aber die eigene Konkretion kann es doch nur als unzulänglich begreifen und deshalb Selbstverwirklichung zur historischen Aufgabe machen, weil es – das bleibt bei Horkheimer implizit – von sich als der Möglichkeit nach autonomem Subjekt ausgeht. Die Verankerung der Konkretion in der Erfahrung liegt für Horkheimer in der Konvergenz des kritischen Subjekts mit den objektiven Klasseninteressen des Proletariats. Von hier bezieht es seinen kritischen Impuls, aber keineswegs in Form einer Garantie der Kritik. Die objektiven Interessen der Arbeiter werden von der Kritik ebenso gegenüber dem Kapital wie gegenüber reaktionären Bewegungen im Proletariat verteidigt. Das damit verbundene Ideologieproblem diskutiert Horkheimer ausführlich.

Schließlich kommt Horkheimer auch auf die Funktion der Einbildungskraft zu sprechen. Die kritische Theorie knüpft an die gesellschaftliche Gegenwart an und erkennt die in ihr gelegene Möglichkeit einer befreiten Zukunft, z. B. in Akten der Spontaneität, Handlungen aus Freiheit in der Unfreiheit. Diese scheitern zwar politisch, vergegenwärtigen aber real die Möglichkeit der Veränderung. Die damit verbundene Leistung der Einbildungskraft wird auch von Horkheimer als „Phantasie“ benannt, treffender aber noch vielleicht mit dem Ausdruck „Eigensinn“ (Horkheimer 1988e, S. 194; zur Phantasie als subjektkonstitutiv siehe oben Abschn. 5 zu Herbert Marcuse). Im Unterschied zur Phantasie drückt dies auch die verzweifelte Renitenz aus, an der Befreiung auch angesichts ihrer Unwahrscheinlichkeit festzuhalten.

Obwohl die kritische Theorie im Unterschied zu den mechanistisch beschriebenen Methoden der traditionellen eher eine organische Rekonstruktion ihres Gegenstandes anstrebt und durch die theoretische Arbeit auch praktisch in diesen eingreift, soll sie doch mit gleicher wissenschaftlicher Strenge verfahren (Ritsert 2011). Insbesondere die permanent fortschreitende ideologische Beschädigung der Subjekte stellt ein Problem für die Theorie dar, auf das sie nur durch ebenso permanente Umbildung und Fortentwicklung reagieren kann, wobei diese Fortbildung nicht additiv ist, sondern jeweils das organische Ganze betrifft. Bei diesen Überlegungen, die heute als Assonanzen an den soziologischen Relativismus erscheinen können, ist aber eines klar: „Die kritische Theorie hat nicht heute den und morgen einen anderen Lehrgehalt. Ihre Änderungen bedingen keinen Umschlag in eine völlig neue Anschauung, solange die Epoche sich nicht ändert“ (Horkheimer 1988e, S. 208). Eine Änderung der Epoche wäre erst die vollständige Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, nicht schon die Verlagerung oder Verdeckung von Klassenstrukturen, auf die die Abkehr der neueren Soziologie von der kritischen Theorie sich hauptsächlich stützte.

6.5 Theodor W. Adorno

Die Verbindung der Sozialforschung mit dem gesellschaftstheoretischen Blick aufs Ganze der Gesellschaft bleibt auch bei Adorno der hauptsächliche Ansatzpunkt zur Abgrenzung vom Positivismus. Dem liegt die erkenntnistheoretische Einsicht zugrunde, dass weder wissenschaftliche Urteile über Empirie noch ihre Geltungsgründe Gegenstände möglicher Erfahrung sind. Jene sagen über die Erfahrung Allgemeines aus, das per se nicht anschaulich ist, diese hingegen bestimmen die Gültigkeit von Verknüpfungen von Erfahrungen, und diese Gültigkeit kann ebenso wenig aus den Erfahrungen selbst stammen, wenn sich die Frage nach der Gültigkeit der Gültigkeit nicht ad indefinitum verlieren soll (Adorno 1972a, S. 293). Während positivistische Sozialforschung erhobene Daten, die sie als bloß subjektive Äußerungen ohne soziale Kontexte auffasst, unter methodologisch ermittelte logische Formen subsumiert, also beispielsweise Beobachtungen in Protokollsätzen niederlegt, geht die dialektische Gesellschaftstheorie davon aus, dass auf der einen Seite die subjektiv geäußerten Meinungen von Probanden durch objektive gesellschaftliche Zusammenhänge mitbestimmt sind, die zugleich auch Resultate der Handlungen dieser Probanden sind, und dass auf der anderen Seite auch die Form der Gesellschaftstheorie selbst Resultat einer Geschichte ist; beides muss sie reflektieren, um Ideologie von Wahrheit zu unterscheiden. Wenn es das dialektische Verhältnis von objektiven Formen und subjektiven Vorstellungen nicht gäbe, so wären alle subjektiven Vorstellungen notwendig wahr. Die Möglichkeit der Kritik von Vorstellungen gründet in ihrem Verhältnis zur Objektivität der Gesellschaft als Ganzer (Adorno 1972a, S. 295 und 307–308) Verbunden damit ist das Festhalten der Theorie an der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung (Adorno 1972a, S. 281), allerdings eher in dem gegenüber Aristotelischer Metaphysik verschärften Sinne Hegels, demzufolge die Erscheinung dem Wesen nicht einfach nachrangig ist, sondern zu seinen Konstituentien gehört (Adorno 1972a, S. 292). Daraus folgt, dass Wesen und Erscheinung auch in einem Missverhältnis stehen können, dass am Wesen etwas falsch sein kann, wenn die Erscheinungen ihm inadäquat sind. Das impliziert einen „emphatischen Wahrheitsanspruch“ (Adorno 1972a, S. 284). Dieser Wahrheitsanspruch ist aber kein abstrakt übergeschichtlicher, sondern reflektiert auf das Gewordensein des Gegenstands sowie des Denkens (Adorno 1972a, S. 302).

Der Streit um die Begriffe der Erfahrung und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis markiert zwar die Grenzlinie zwischen Positivismus und kritischer Theorie, aber den „Brennpunkt der Kontroverse“ (Adorno 1972a, S. 288) verortet Adorno an einem ganz bestimmten Punkt: Der Anspruch des Positivismus – wie jeder theoretischen Disziplin – „auf Modernität kann kein anderer sein als der fortgeschrittener Aufklärung. Er jedoch bedarf der kritischen Selbstreflexion subjektiver Vernunft. Deren Fortschritt, bis ins innerste zusammengewachsen mit der Dialektik von Aufklärung, ist nicht umstandslos als höhere Objektivität zu supponieren“ (Adorno 1972a, S. 288). Adorno bestimmt hier das theoretische Selbstbewusstsein des Subjekts als Zentrum der Theorie. Dieses Selbstbewusstsein ist als Resultat historischer Dialektik kein in sich formell abgeschlossenes, sondern es ist Selbstbewusstsein im Verhältnis zu Anderem, zu seiner Objektivität. Dieses Verhältnis ist aber nicht das einer logischen Subsumtion, sondern es ist ein negatives Verhältnis, in dem das Subjekt die Objektivität, die bildend in es eingeht, zugleich als inadäquate erkennt. Damit sind wesentliche Formelemente von Kritik auch bei Adorno versammelt: Subjekt, Materialität, Negativität, Geschichtlichkeit, Ideologiekritik (hierzu: Schweppenhäuser 1990). Die so verstandene kritische Theorie geht auch bei Adorno aufs Ganze: Das ordnende Verhalten des Subjekts gegenüber dem Material der Erfahrung wird durch den Begriff der Totalität angeleitet, und zwar kritisch: Die Idee der Totalität, die Kant zufolge ein Begriff reiner Vernunft ist, sich deren reflexiver Form verdankt und bloß regulativ zur Ordnung der Denkinhalte verwendet werden darf, weil sich über ihre objektive Realität nichts aussagen lässt, wird zum kritischen Prinzip gegenüber der objektiven Realität, sobald das Subjekt sich nicht bloß passiv zu ihr verhält, sondern negativ reflektiert, dass es eine praktische Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt gibt. Die totalitären Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit widersprechen dem subjektiven Erkenntnisprinzip der Totalität (Adorno 1972a, S. 292). Die Kritik der kritischen Theorie ist nie nur Kritik der theoretischen Darstellung, sondern immer auch Kritik des Gegenstands Gesellschaft selbst.

Adornos Kritik der Gesellschaft erliegt dabei nicht der Illusion, nicht selbst auch ein Resultat und Teil dieser Gesellschaft zu sein. Was sich gegen sie sagen lässt, lässt sich nur mit den in ihr selbst entwickelten geistigen Mitteln erfassen und vortragen (Adorno 1977a; Demirović 2004). Damit ist jedoch nicht die Möglichkeit der Kritik aufgehoben, sondern zunächst die Notwendigkeit einer Form von Kritik angezeigt, die ihre eigene Bedingtheit in jedem ihrer Urteile mit reflektierte: Gerade weil solche kritischen Urteile immer selbst im Kontext des Beurteilten stehen, von ihm her ihre Möglichkeit beziehen, sollten sie ihm die Zustimmung verweigern. Grundsätzlich ist damit jede sogenannte ‚konstruktive: sich duckende Kritik‘ (Adorno 1966, S. 329) ausgeschlossen, denn diese bestätigt das bestehende Ganze um partikularer Korrekturen willen. Es ist aber auch die utopistisch motivierte Kritik ausgeschlossen. Wie die befreite Gesellschaft aussehen könnte, darüber gibt die Kritik der Unfreiheit keine bestimmte Auskunft; sie bestimmt lediglich diejenigen Bedingungen, die nicht mit Freiheit kompatibel sind und deren Aufhebung die Minimalbedingung von Befreiung wäre (zum Verhältnis von Utopie und Kritik: Städtler 2005).

Der Maßstab der Kritik bleiben die Subjekte mit ihren individuellen Glücksansprüchen, die sie erst als autonome Subjekte in einer selbstbestimmt gestalteten Objektivität realisieren könnten (Ritsert 2011, S. 230; Steinert 2007, S. 218). In der gegenwärtigen Gesellschaft steht ihr Glück unter dem Vorbehalt heteronomer Zweckmäßigkeit kapitalistischer Verwertung. Für Adorno bleibt unbestritten, dass „Gesellschaft aus Subjekten sich zusammensetzt und durch ihren Funktionszusammenhang sich konstituiert“ (Adorno 1972a, S. 295). Als Funktionszusammenhang ist Gesellschaft objektive Systemstruktur und daher innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht zu korrigieren. Eine Schwachstelle von Adornos Gesellschaftsbegriff besteht darin, dass er als Prinzip dieses Zusammenhangs immer wieder den Tausch angibt. Der Tausch ist aber Marx zufolge kein Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft, sondern das Medium, in dem die kapitalistische Produktionsweise sich darstellt. Das Prinzip der gesellschaftlichen Herrschaft ist das Produktionsverhältnis zwischen Produktionsmittelbesitzern und Proletariat. Aus dem Tausch selbst folgt keine Herrschaft. Adorno hat dies oft gesehen (z. B. Adorno 2008, S. 49 oder 1966, S. 301–302), aber am Begriff des Tauschprinzips dennoch festgehalten (zu Adornos Marx-Rezeption: Hossdorf 1980).

Negativität erhält für Adornos Denken insgesamt fundamentale Bedeutung (zur näheren Bestimmung und für weitere Nachweise zur Debatte um Negativität bei Adorno: Städtler 2012). Während von Marx bis Horkheimer die Negativität der Kritik noch direkt auf die praktische Veränderung der Gesellschaft bezogen war (Bolte 1995), wird dieses Ziel bei Adorno ein vermitteltes. Kritische Theorie ist auf Befreiung aus, aber sie weiß auch, dass die Bedingungen hierfür schlecht stehen. Das dürfte die entscheidende Veränderung der kritischen Theorie durch die Erfahrung von Faschismus und Shoah sein. Adornos Begriff der Negativität sieht nicht mehr in derselben Weise positive Ansatzpunkte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dennoch ist sie kein Negativismus oder Kulturpessimismus; sie ist kein Programm, sondern die konsequente Durchführung der logischen Form von Kritik (Steinert 2007, S. 18). Sie dient dadurch dem Schutz des kritischen Subjekts vorm Mitmachen, der Bewahrung intellektueller Widerstandskraft, um überhaupt den Gedanken an die Möglichkeit politischer Veränderungen offenzuhalten. In der Zeit des Faschismus war das Mitmachen zur Existenzbedingung geworden. Noch der Impuls der Kapitalismuskritik war instrumentalisiert worden von einem sich sozialistisch gebenden Nationalismus. Auch die Nachkriegsgesellschaft, mit der Adorno konfrontiert wird, weist eine besonders hohe integrative Kraft und Homogenität auf, was einen Grund in der Erfahrung der Auslöschung von Widerstandspotenzial in Subjekten wie in Institutionen haben dürfte. Mit einer nicht nur metaphorischen Anlehnung an Hegels Geistbegriff könnte man sagen, dass der Geist der Nachkriegsgesellschaft nicht einfach durch die Beendigung oder Überwindung des Faschismus bestimmt ist, sondern auch dadurch, dass er durch ihn hindurch gegangen ist. Die bürgerliche kapitalistische Gesellschaft nach dem Faschismus integriert nicht nur durch ihren wirtschaftlichen Erfolg, sondern, und das wurde eigentlich erst nach Adornos Tod durch die Krisen offenbar, auch durch einen vom Potenzial zu grundsätzlichem Widerstand gereinigten objektiven Geist. Gegen dieses Klima dichtet Adornos negative Dialektik sich ab. Sie lässt keine positive Aussicht zu, auch nicht im Verborgenen oder insgeheim. Durch Konstellation von lauter Negationen lässt sie das gesellschaftliche Ganze als in sich auswegloses gewahr werden. Das Ziel von Kritik liegt jenseits dieser Gesellschaft. Damit steht das kritische Subjekt zugleich innerhalb und außerhalb der Gesellschaft. Das widersprüchliche Selbstbewusstsein der Kritik ist zusammen mit der technischen Möglichkeit einer menschenwürdigen Gesellschaft das Redukt konkreter Möglichkeit von Befreiung in der Gegenwart.

Das moderne Subjekt ist nicht nur die theoretische Grundlage der kritischen Theorie Adornos, sondern auch das zentrale Thema seines Denkens. Am konzentriertesten lässt sich dies anhand des Zweiten Teils der Negativen Dialektik darstellen (Städtler 2015; Weyand 2001). Von hier aus verstehen sich auch dessen Materialität, Negativität und Geschichtlichkeit. Am Subjekt interessieren Adorno vor allem die praktischen Gründe und die theoretischen Formen, durch die es sich selbst missversteht. Die zentrale Frage ist, wie die historische Durchsetzung des Subjektprinzips gleichzeitig zur Stillstellung der Spontaneität führen konnte oder doch zu ihrer Instrumentalisierung, was einer Stillstellung gleichkommt (Adorno 1966, S. 75). Adorno führt diese ‚Entmächtigung des Subjekts‘ darauf zurück, dass Subjektivität im Kontext gesellschaftlicher Funktionen zur Entfaltung kommt, in denen sie zugleich instrumentalisiert und dadurch als Subjektivität neutralisiert wird.

Der Erfahrung des Subjekts, das in seiner Entwicklung zugleich entmächtigt wird, korrespondiert ein systematisches Problem im theoretischen Selbstbewusstsein moderner Subjektivität: Die subjektive Identität, die den systematischen Grund für Objektivität darstellt, kann die Differenz, ohne die sie kein bestimmtes Denken wäre, nicht aus sich selbst hervorbringen. Damit ist angedeutet, dass das Subjekt nur in einem grundlegenden Verhältnis zum Objekt Subjekt sein könne. Wenn Subjekt nur im Verhältnis zum Objekt und Objekt nur im Verhältnis zum Subjekt bestimmt werden kann, dann kann jedes nur gedacht werden, insofern sein Anderes gedacht wird. Damit übernimmt Adornos kritische Theorie grundsätzlich die dialektische Form aus dem Idealismus, will dieser aber durch ‚rücksichtslose Selbstkritik‘ der Philosophie ihren Gegenstandsbezug erschließen (Adorno 1966, S. 13–14).

Adornos dialektischer Subjektbegriff will daher von Anfang an auf eine negative Wendung der Dialektik hinaus. Das Subjekt muss um eines kritischen Bewusstseins seiner selbst willen auf seine objektiven Bedingungen reflektieren. Da die Konstruktion dieser Bedingungen vom Subjekt her dem Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, in dem die totale Funktionalisierung der Subjekte als einzige Gestalt ihrer Freiheit erscheint, gilt es, die Subjekte als Funktionen einer zweiten Natur zu begreifen und aus diesem Widerspruch die Möglichkeit von Autonomie neu zu bestimmen. So wäre Autonomie nicht die bloße Form der spontanen Vernunft, sondern das in den gewordenen und daher geschichtlich verfassten Bedingungen des Handelns objektiv begründete Potenzial von Subjektivität (Adorno 1966, S. 62).

Die Gegenstände des Denkens sind nicht einfach da, sondern sie stehen als Gegenstände im Verhältnis zu menschlicher Zwecksetzung. Diese Zwecke stehen ihrerseits unter den jeweils historisch geltenden politischen und sozialen Zwecken, unter denen überhaupt Erkenntnis stattfindet. Dies hat Adorno als den Zeitkern der Wahrheit bezeichnet (Adorno 1970a, S. 285).

Dass Wahrheit einen Zeitkern habe, bedeutet nicht, dass ihr Geltungsanspruch auf die historischen Bedingungen ihrer Genese reduziert wäre. Im Gegenteil geht es darum, den Erfahrungsgehalt von Erkenntnis zur Geltung zu bringen, ihn im allgemeinen Begriff von Erkenntnis mit zu reflektieren, ohne diesen jedoch um seine allgemeine und notwendige Form zu bringen. Die Rede vom Zeitkern der Wahrheit versucht, die in der Überzeitlichkeit sedimentierte Zeitgebundenheit des klassischen deutschen Subjektbegriffs in einem Erkenntnisbegriff zu überwinden, der den Erfahrungsgehalt in der Form von Erkenntnis mit reflektieren soll.

In der Fehleinschätzung dieses Zeitkerns liegt die Möglichkeit von Ideologie. Sowohl die Behauptung absoluter Zeitlosigkeit von Erkenntnis als auch die entgegengesetzte Historisierung des Denkens zum Narrativ sind falsche Vorstellungen. Das Entscheidende an Ideologiekritik ist daher die Verschränkung theoretischer Kritik mit einem historischen Moment (hierzu: Rehmann in diesem Handbuch). Dies denunziert nicht die kritisierte Position, sondern achtet ihren rationalen Gehalt; es versagt freilich vor der akademischen Produktion unkritischer Soziologie, denn diese ist weder systematisch zu begreifen, weil sie den Anspruch auf Rationalität – oft explizit – aufgegeben hat, noch historisch, weil sie aufgrund der Verweigerung rationaler theoretischer Voraussetzungen noch hinter die klassische Ideologie der Nationalökonomie zurückfällt, noch auch funktional, denn der Kapitalismus der reellen Subsumtion bedarf solcher Apologetik nicht. Der Positivismusstreit war vielleicht der letzte Versuch einer ideologiekritischen Klärung, der noch einen greifbaren Gegenstand hatte. Im Unterschied zu postmodernen Soziologien war der klassische Positivismus mit einem eindeutigen und darum kritisierbaren Erkenntnisanspruch aufgetreten. Ideologiekritik ist übrigens kein Privileg der Philosophie, deren akademische Entwicklung mutatis mutandis doch ähnlich verläuft wie die der Soziologie ein Unterschied besteht nur darin, dass Soziologen, wenn sie ideologiekritische Theorie betreiben, sich selbst den Boden entziehen, denn die Konsequenz von Ideologiekritik ist die Überwindung derjenigen bürgerlichen Gesellschaft, als deren theoretisches Selbstbewusstsein die Soziologie im 19. Jh. entstanden war. Diese Konsequenz widerspricht zwar der akademischen Institutionenlogik, dürfte aber als Preis für eine befreite Gesellschaft – in der alle Wissenschaften sich verändern würden – nicht zu hoch angesetzt sein. Nur aus der gegenwärtigen Perspektive erscheint er vielen als unbezahlbar.

Mit Adornos Begriff der Ideologie als „gesellschaftlich notwendig falsches Bewußtsein“ (Adorno 1977b, S. 585) ist wiederum ein Problem der erkenntnistheoretischen Form verbunden: Notwendigkeit ist ein Merkmal von Wahrheit. Ließe sich falsches Bewusstsein als notwendig ausweisen, wäre es formal von der Wahrheit nicht unterschieden. Außerdem wäre dann notwendig jedes Bewusstsein falsch, so dass ein kritisches Bewusstsein formal unmöglich wäre. Die Lösung sieht Adorno darin, dass Gesellschaft zweite Natur ist. Ihre objektiven Strukturen sind verdinglichte subjektive Zwecke. Deshalb kann Gesellschaft ihrem eigenen Begriff fundamental widersprechen (Adorno 1977a, S. 19). Der Ausweg aus der Notwendigkeit ideologischen Bewusstseins liegt in der Bestimmung des Denkens als Vermögen: Auch der falsche Gedanke ist subjektive Aktualisierung von Denkvermögen, und darin liegt immer ein Moment von Spontaneität: „Eigentlich ist Denken schon vor allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand“ (Adorno 1977g, S. 798). Die formale Bedingung der Aktualisierung dieser Kraft ist die Verbindung des gegen sich selbst kritischen spekulativen Denkens mit der Erfahrung der Unangemessenheit seiner Ergebnisse an die gesellschaftliche Wirklichkeit (Städtler 2005).

In dieser Differenz, von Adorno Nichtidentität genannt, liegt das gegenständliche Substrat seines Materiebegriffs. Der Begriff des Nichtidentischen, den Adorno als „Scharnier negativer Dialektik“ (Adorno 1966, S. 24). bezeichnet, steht für die Asymmetrie von Vermittlung und Unmittelbarkeit, für den Umstand, dass die Vermittlung sich das zu Vermittelnde, dessen sie bedarf, nicht selbst erzeugen kann. Adorno kritisiert schon in der Kierkegaard-Arbeit die Vorstellung „objektloser Innerlichkeit“ (Adorno 1979, S. 46). Die Gegenstände lösen sich nicht in der Bewegung des Begriffs auf, sondern die Begreifenden sind fundamental in einer selbst gegenständlichen Beziehung auf die Gegenstände bezogen.

Denken ohne solche Differenz bleibt leer. Das Nichtidentische ist somit selbst Moment erkenntnistheoretischer Reflexion, das dort ansetzt, wo das Selbstbewusstsein als reine Sichselbstgleichheit in sich zusammenzufallen droht. Dieser theoretischen Situation korrespondiert die Beziehung praktischer Selbstbestimmung auf gegenständliche Bedingungen. Die formale Allgemeinheit vernünftiger Zwecke gründet im Subjekt, aber ihr Zweckcharakter setzt reale Bedingungen voraus. Reine Selbstbestimmung wäre leer. Ihr Verhältnis zum Glück bliebe unbestimmt, weil solche Reinheit bloß Negation von Bedürfnissen ausdrückt. Eine objektive Vermittlung subjektiver Selbstbestimmung gelingt nur, wenn die objektiven Bedingungen nicht vollständig in subjektiven Bestimmungen aufgehen.

Dem Nichtidentischen entspricht im Erkennen dasjenige, was Adorno ‚Mimesis‘ nennt. Es geht darum, in der Erkenntnis nicht das Besondere zu subsumieren und zu katalogisieren, sondern es als Besonderes zu erschließen. Ohne allgemeine Begriffe lässt sich aber keine Erkenntnis formulieren. Es wären Begriffe erforderlich, die gegen ihre eigene begriffliche Form so kritisch wären wie gegen ihre Gegenstände. Zugleich käme dieser Erkenntnisform ein ästhetisches Moment zu, das Adorno als mimetische Anschmiegung an den Gegenstand bezeichnet: Erkenntnis wird nicht methodisch geregelt hergestellt, sondern ähnelt sich dem Gegenstand an, wird zum Ausdruck von dessen eigener innerer Form, so wie Mimesis (Nachahmung) in der Kunst durch stilisierte Darstellung die dem Stoff eigene Wahrheit zur Geltung bringen soll (Adorno 1970b, S. 354, 1974). Subjektiv setzt solches Erkennen ein gebildetes Urteilsvermögen voraus, objektiv aber die Tatsache, dass die zu erkennenden gesellschaftlichen Phänomene als geistige eine Verwandtschaft mit dem erkennenden Prinzip haben. Mimetische Erkenntnis erhält so eine präzise Bedeutung: Gesellschaftstheorie ist Erkenntnis von Geistigem durch Geist, letztlich formal Reflexion des Geistes auf sich selbst und auf seine ihm von ihm selbst vorausgesetzten materiellen Daseinsbedingungen. Indem der Geist sich selbst als Prinzip von Gesellschaft erkennt, schließt er diese von innen her auf. Dabei erkennt er aber auch, wo das geistige Prinzip von Gesellschaft nicht in angemessener Weise realisiert ist, wo die Rationalität der Gesellschaft irrational wird, wo Brüche im System sind. Das adäquate Mittel der Darstellung solcher geistiger Erfahrung ist das Denken in Modellen, das Allgemeines im Besonderen zeigt: „Die Forderung nach Verbindlichkeit ohne System ist die nach Denkmodellen“ (Adorno 1966, S. 39). Damit wird keineswegs das Prinzip systematischen Denkens preisgegeben. Ohne den emphatischen Anspruch auf Wahrheit (Adorno 1972a, S. 284) des Gedankens und damit auf seine begründbare Beziehung auf Gegenstände würde jeder Anspruch auf seine Verbindlichkeit zur puren Herrschaftsgeste. Daran reflektiert sich der Materialismus der negativen Dialektik: „In der Idee objektiver Wahrheit wird materialistische Dialektik notwendig philosophisch, trotz und vermöge aller Philosophiekritik, die sie übt“ (Adorno 1966, S. 198).

In der Einsicht, dass theoretische Erkenntnis nicht unabhängig neben der menschlichen Praxis steht, sondern dass Naturerkenntnis und deren philosophische Reflexion sich in Wechselwirkung mit Naturbearbeitung und Naturbeherrschung sowie deren gesellschaftlicher und politischer Geschichte entwickeln, gründet Adornos im Prinzip konsequente, in der Durchführung aber oft problematische Verknüpfung von Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie (hierzu: Ludwig in diesem Handbuch).

Adorno verlangt vom theoretischen Subjekt kritischen Denkens, dass es noch in der erkenntnistheoretischen Reflexion dessen gewahr bleibe, dass sie die erkenntnistheoretische Reflexion eines empirischen Subjekts auf seine allgemeinen Formen ist und dass diese ohne jenes nicht wären. „Die Einheit des Bewußtseins ist die des einzelmenschlichen und trägt auch als Prinzip sichtbar dessen Spur“ (Adorno 1966, S. 180). Ein Bewusstsein, das nur die Reflexion seiner eigenen Form wäre, unabhängig von jeder Beziehung zu bestimmtem Bewusstsein, kann es nicht geben. Die Erfüllung der Form ist aber aus dem Begriff der Form nicht zu deduzieren. Ohne solche Erfüllung erfüllen die Formen aber ihren eigenen Begriff nicht. Diese Unerfüllbarkeit des reinen Denkens ist die Spur des einzelmenschlichen Bewusstseins in der Einheit des Bewusstseins.

Mit dem einzelmenschlichen Bewusstsein geraten die Bedingungen, unter denen es Selbstbewusstsein formuliert, in den Blick, denn diese sind das Einzige, das sie von ihrer allgemeinen Form unterscheidet. Der Unerfüllbarkeit reinen Denkens korrespondiert die Differenz zwischen Denken und Natur, die in der zweiten Natur keineswegs vermittelt, sondern konserviert ist. Diese Differenz von Denken und Natur wird in der modernen Gesellschaft geradezu zum Hebel, an dem Herrschaft ansetzt. Die materiellen Bedingungen des Selbstbewusstseins werden so reproduziert, dass die Subjekte einerseits abhängig bleiben, andererseits aber glauben, nur diese Abhängigkeit gewährleiste ihre Reproduktion und mit dieser das ihnen erreichbare Maß von Freiheit (Adorno 1966, S. 169).Footnote 9

Dass die Menschen im Zuge ihrer durch Herrschaft, also immer durch partikulare Zwecke, organisierten Naturbeherrschung die natürlichen Objekte nicht mehr als das momenthafte Gegenstück ihres subjektiven Geistes, ohne den dieser nichts ist, begriffen haben, sondern immer mehr als bloße Verfügungsmasse zur partikularen Bereicherung, hat Adorno zufolge in der Erkenntnistheorie zu abstrakt isolierten Begriffen von Subjekt und Objekt geführt, deren Verhältnis letztlich konsequent aus dem Subjekt bestimmt worden ist. Dagegen betont Adorno einen ‚Vorrang des Objekts‘ (Adorno 1977d, S. 746–747).

Dieser ‚Vorrang des Objekts‘ kann nicht die Geschichte zurückdrehen, meint auch nicht die metaphysische intentio recta, derzufolge ein unmittelbarer erkennender Zugriff aufs Objekt möglich wäre. Objektivität ist hiernach weder naive Unmittelbarkeit (Adorno 1966, S. 185), noch ein Letztes, Gegebenes (Adorno 1966, S. 164–165): „Der Vorrang des Objekts, als eines doch selbst Vermittelten, bricht die Subjekt-Objekt-Dialektik nicht ab. So wenig wie die Vermittlung ist Unmittelbarkeit jenseits von Dialektik“ (Adorno 1966, S. 187).

Allerdings ergibt sich eine materielle Asymmetrie im Begriffsverhältnis: Wenngleich Subjekt so wenig ohne Objekt wie Objekt ohne Subjekt zu denken ist, kann zwar „Objekt […] nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt“ (Adorno 1966, S. 184). Auch ist das physische Substrat dasjenige, vermöge dessen überhaupt Erfahrungsgehalte ins Subjekt gelangen. Und in diesem existenziell grundlegenden Sinn ist das Subjekt selbst ein Objekt: Es kann nur als gegenständliches, leibhaftes, existieren. Die Objekte sind zwar subjektiv bestimmt, insofern Subjekte von ihnen wissen, aber das Dasein der Objekte setzen die Subjekte damit nicht, und das erscheint eben in der Erfahrung, die lehrt, dass Subjekte über die materiellen Bedingungen ihres Denkens ebenso wenig verfügen wie über die ihrer eigenen Existenz. Sehr wohl aber verfügen sie mittels negativer Dialektik über die Möglichkeit kritischer Organisation dieser Bedingungen. „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden soll“ (Adorno 1966, S. 203). Das bedeutet, dass die Gesellschaft „so eingerichtet werde, wie die Produktionsmittel [. . .] [genauer: deren Eigentumsverhältnisse, M. St.] unerbittlich es verhindern, und wie es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens“ (Adorno 1966, S. 203).Footnote 10

Der negative Verweis der Darstellung auf ein Offenes, das nur und erst in der bewussten gesellschaftlichen Praxis der Menschen selbst erschlossen werden könnte, ist theoretisch nicht weiter zu entwickeln. Diese Grenze theoretischer Darstellbarkeit wird bei Adorno durch die, oft unverstandene, Bedeutung der Ästhetik bezeichnet. Dabei geht es nicht darum, dass Philosophie in Kunst überginge, sondern dass sie eines ästhetischen Moments bedarf, wenn sie nicht kontemplativ bei sich selbst bleibt, sondern bei ihren gesellschaftlich gebildeten Gegenständen ist. Kritische Erkenntnis von Gesellschaft bedarf sowohl der Erfahrung des Leids wie der von Freiheit in ihrem leidvollen Scheitern an der Gesellschaft. Solche Erfahrung bleibt unmittelbar, dumpfer Schmerz, wenn sie nicht modellhaft in ihrer Allgemeinheit bewusst zu machen ist. Dies wird ermöglicht durch Kunsterfahrung, die dann freilich ihrerseits eines philosophischen Moments bedarf (weitere Nachweise zur Debatte um die Ästhetische Theorie: Städtler 2014).

Adornos Bestimmung kritischer Theorie ist auf die Möglichkeit des kritischen Subjekts gerichtet. Konsequentes, kompromisslos negativ auf seinen Gegenstand bezogenes Denken und ästhetische Erfahrung sind in doppelter Weise Form des kritischen Subjekts: Sie ermöglichen ihm die Kritik und sie ermöglichen es ihm zugleich, bei aller Zerrüttung im Gedanken an seine Gegenstände bei sich selbst zu bleiben. Dies ist kaum eine Versöhnung im Bewusstsein, sondern die Fähigkeit, vermöge der Kritik in den Gegensätzen an sich selbst festzuhalten, nicht einer Seite nachzugeben und dadurch sich selbst zu verlieren.

Das erweckt den Anschein, als habe die kritische Theorie Adornos den praktischen Anspruch des frühen Horkheimer oder Benjamins verloren gegeben. Adorno hat allerdings, im Unterschied zu Marcuse, darauf bestanden, dass die Nachkriegsgesellschaft sich nicht in einer revolutionären Situation befinde. Er hat noch in seinen letzten Aufsätzen gegen die Studentenbewegung vertreten, dass es nicht die Aufgabe des Theoretikers sei, revolutionäre Politik zu betreiben (hierzu: S. Martin in diesem Handbuch; Adorno 1977e, f, g; Adornos Theorie- und Praxisverständnis: Demirović 1999; zur Sache auch: Steinert 2007, S. 242; Demirović et al. 2015). In dieser Situation sei Praxis nicht mehr „die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation“, wie es von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die des 20. gewesen war, sondern der zeitgenössische Ruf nach Praxis drohe, „den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte“ (Adorno 1966, S. 13). Dass kritische Theorie nicht auf tagesaktuelle Ausbesserungen, sondern auf eine umfassende und grundstürzende Praxis bezogen ist, war für Adorno immer klar: „Ans Leben gehen ihr [der Menschheit; M.St.] die Formen ihrer eigenen gesellschaftlichen Gesamtverfassung, wofern nicht ein seiner selbst bewußtes Gesamtsubjekt sich bildet und eingreift. An es allein ist die Möglichkeit von Fortschritt übergegangen […] . […] Ob weiter Mangel und Unterdrückung sei – beides ist eines –, darüber entscheidet einzig die Vermeidung der Katastrophe durch vernünftige Einrichtung der Gesamtgesellschaft als Menschheit“ (Adorno 1977a, S. 30, b, S. 592, c, S. 618). Theorie, die tätige Selbsterhaltung des kritischen Subjekts, die Verwirklichung der Form kritischer Theorie in ihren Gegenständen durch ein denkendes Subjekt, das sich nicht dumm machen lässt, hat er als Teil gesellschaftlicher Praxis verstanden. Deshalb ist umgekehrt die theoretische Reflexion auf falsche gesellschaftliche Praxis konstitutiver Bestandteil der kritischen Theorie. Diese ist nicht auf traditionelle Philosophie reduzibel, der sie nur eine dialektische Volte hinzufügte (dies legt jedoch nahe: Sommer 2016).

7 Situation im 20. Jahrhundert II: Habermas und Honneth

7.1 Jürgen Habermas

Nach Adornos Tod verändert sich die Form dessen, was als kritische Theorie auftritt, rasch (Türcke et al. 1984, S. 148–169 der Referenztext dieser Kritik: Friedeburg und Habermas 1983). Bereits 1967/68 hatte Jürgen Habermas die Prinzipien Subjektivität, materialistische Gesellschaftstheorie und Negativität aufgegeben. Als Grund dafür werden erstens eine Veränderung der kapitalistischen Ökonomie hin zu einer wissenschaftlich und technisch bestimmten Produktion und zweitens eine Veränderung der Herrschaft vom „autoritativen Staat“ zur „technisch-operativen Verwaltung“ (Habermas 1968b) angegeben, in deren Folge weder die Arbeitswertlehre noch die Begriffe der Klasse und der Ideologie unverändert brauchbar seien (Schiller 1983, S. 92–123). Dass Technik und Wissenschaft Faktoren der Produktivkraft sind, findet sich indes bereits bei Marx, auch dass sie die in der kapitalistischen Produktionsweise entscheidenden Produktivkraftfaktoren sind, allerdings mit dem Wissen, dass Produktivkraftfaktoren stets auf die Produktivkraft der Arbeit bezogen sind und dass ‚Produktivkraft‘ davon abgetrennt – etwa als „unabhängige[] Mehrwertquelle“ (Habermas 1968b, S. 80) – ein ökonomisch sinnloser Ausdruck ist. Technik und Wissenschaft produzieren unabhängig von der menschlichen Arbeit so wenig Waren oder Werte wie der Produktivkraftfaktor Wetter (hierzu: Wienold und Kößler sowie Bittlingmayer in diesem Handbuch). Einzig richtig ist, dass in der Periode der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital der Zusammenhang von Arbeit und Wertbildung sich vollständig der Erfahrung entzieht und nur mehr theoretisch erkennbar ist. Dass dies Habermas’ eigentliches Problem ist, wird an seiner Kritik an den Begriffen Klasse und Ideologie deutlich: (Habermas 1968b, S. 84–85, 1981b, S. 576): Unter Klasse will er nur die spürbaren Differenzen des Alltagslebens fassen; von der ökonomischen Funktion der Klassen, durch das Privateigentum an Produktionsmitteln eine gesellschaftliche Herrschaftsform darzustellen, die Voraussetzung für Lohnarbeit und damit unabdingbar für die Mehrwertakkumulation ist, ist – im Unterschied zur früheren kritischen Theorie – nirgends mehr die Rede. Unter Ideologie versteht Habermas eher umgangssprachlich kontingente Gedankensysteme, die das Vorstellen und Handeln der Menschen bestimmen. Adornos Bestimmung des gesellschaftlich notwendig falschen Bewusstseins war dagegen eng an Marx’ Fetischbegriff angelehnt und bezeichnete, vermittelt über Lukács, eine Verdinglichung im Bewusstsein, die durch die ökonomischen Bedingungen des Handelns erzwungen ist; auch davon bei Habermas kein Wort mehr. Dieser geht von der Beobachtung aus, dass der Staat nicht mehr der ‚Überbau‘ der ökonomischen Basis sei, sondern als Interventionsstaat in die Ökonomie eingreife, deren Härten korrigiere und dadurch Loyalität in der Gesellschaft erzeuge (Habermas 1968b, S. 75). Abgesehen davon, dass die Relation von Basis und Überbau beim reifen Marx keine starre oder mechanische, sondern eine funktional-dynamische ist, ist spätestens seit der Diskussion um den Normalarbeitstag im Kapital offensichtlich (Marx 1990, Kap. 8), dass der Staat in der industrialisierten Gesellschaft als ideeller Gesamtkapitalist die Interessen des Kapitalismus auch unmittelbar gegen die Einzelkapitale wahrnimmt (Habermas 1981b, S. 507). Das ändert also nicht die Form des Kapitalismus, sondern ist eine seiner Bestimmungen. Darin besteht auch die ‚unauflösliche Spannung‘, die Habermas zwischen Kapitalismus und Demokratie beobachtet: Die begrenzenden Eingriffe des Gesetzgebers dienen der Selbstkorrektur und damit Stabilisierung der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Spannung ist eine kapitalfunktionale innerkapitalistische, nicht die zwischen Kapital und etwas Anderem, wie auch Habermas selbst feststellt (Habermas 1981b, S. 512). Dennoch behauptet Habermas, die orthodoxe, d. h. nicht-kommunikationstheoretische, Marxinterpretation könne die Pazifizierung des Klassenkonflikts durch die Sozialpolitik nicht erklären (Habermas 1981b, S. 505). Das Problem entsteht offensichtlich dadurch, dass Habermas das Kapital kommunikationstheoretisch uminterpretiert und dann Defizite feststellt (Habermas 1981b, S. 504), weil ihm auf dem Wege die materialistische Herrschaftskritik, die das Kapital grundiert, verloren ging.

Zwar ist es schon das Ziel der Sozialpolitik Bismarcks oder auch Hitlers gewesen, Loyalität zu erzeugen, aber deshalb war es eben gerade nicht das Ziel, die Gesellschaft zu verändern. Für Habermas ist die Qualifikation der politischen Erzeugung sozialer Loyalität als Veränderung aber entscheidend wichtig, denn er schreibt ihr zu, die Ursache einer Entpolitisierung der Gesellschaft zu sein (Habermas 1968b, S. 78). Die Diskurse, in denen die normativen Richtlinien gesellschaftlichen Handelns bestimmt würden, verlören ihren politischen Charakter zugunsten einer technokratischen Überformung: Alles würde im Bezugsrahmen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts interpretiert, der aber ohne normatives Korrektiv maßstabslos wachse. Was wie eine Erklärung der Wachstumsideologie des 20. Jahrhunderts aussieht, ist eine handlungstheoretische Beschreibung, die intendiert, durch eine Repolitisierung der Diskurse die Entwicklung des Kapitalismus zu humanisieren. Ließ sich bei Marx über den Begriff der Verwertung des Werts, des automatischen Subjekts, noch die gesellschaftliche Zwecksetzung der Produktion als Grund einer inhumanen gesellschaftlichen Organisation ausmachen, so wird bei Habermas die normative Steuerung des Inhumanen, das als inhuman nicht mehr kenntlich ist, zum Ziel. Das Verhältnis von Gesellschaft und Staat folgt dabei der Form ‚das Gesellschaftliche saugt das Politische auf‘. Später nennt Habermas dies die Kolonialisierung der Lebenswelt (Habermas 1981b, S. 522). Es gelte, das Politische gegenüber dem übergriffigen Gesellschaftlichen zu reaktivieren, eine Denkfigur, die in der deutschen Geschichte keineswegs nur auf der progressiven Seite beliebt war und die sich der Verkennung des dialektischen Zusammenhangs von Politik und Gesellschaft verdankt, den die Gesellschaftstheorie von Marx bis Adorno erkannt hatte. Diese Vorstellung findet sich grundsätzlich bei dezidierten Anti-Marxisten unterschiedlichster Art wie z. B. Carl Schmitt oder Hannah Arendt. Bei aller Problematik der Vorstellung, das gesellschaftliche Sein bestimme das Bewusstsein, drückte diese doch die materielle Bedingtheit subjektiver Freiheit aus: Ohne Veränderung der gegenständlichen Lebensbedingungen, in denen Herrschaft materialisiert ist, ist ein vernunftgemäßes und menschenwürdiges Leben nicht möglich. Bei Habermas schrumpft dies auf die immanente Justierung der Bedingungen, über die kommunikativ entschieden wird.

Mehr ist nicht denkbar, weil Habermas nicht allein die materialistische Gesellschaftstheorie und konsequenter Weise auch die strikte Negativität der Kritik ablehnt; diese Ablehnung ist selbst Folge der Preisgabe des traditionellen Maßstabs der Kritik, des Subjekts, und dies wiederum geschieht durch eine Wende von der Gesellschaftstheorie zur Kommunikations- und Handlungstheorie (zur Kritik des gesellschaftstheoretischen Anspruchs bei Habermas: Tuschling 1978). So wie der Arbeitsbegriff nicht mehr ökonomisch, sondern handlungstheoretisch gefasst wird (Habermas 1968b, S. 62), wird auch das Subjekt nicht mehr als Selbstbewusstsein, sondern als Stelle in intersubjektiven Interaktionen bestimmt. Dies geschieht im Rahmen einer steilen Interpretation der frühen Sozialphilosophie Hegels (Habermas 1968a). Diese selbst war der Versuch, die widersprüchliche Dynamik der modernen Gesellschaft durch eine sozialphilosophische Herrschaftslegitimation aufzuheben, die ihrerseits in einen geistphilosophischen Rahmen eingebettet war. Obwohl dort Anerkennung für Subjekt- und Eigentumskonstitution eine Rolle spielt, ist die intersubjektive Versöhnungsphilosophie, die darin gesehen wurde, bei Hegel nicht vorhanden. Aber die Uminterpretation von Geist in Intersubjektivität (Habermas 1968a, S. 13) und des Kampfes um Anerkennung in einen kommunikativen Akt (Habermas 1968a, S. 17) dient der Strategie, innerhalb der Gesellschaft zwischen Lebenswelt und Systemwelt (mit ihren Subsystemen) unterscheiden zu können. Während in der Systemwelt strategisch, im weitesten Sinne technisch, gehandelt wird, ist die Lebenswelt durch kommunikatives Handeln bestimmt. Hier finden Diskurse statt, in denen Normen ausgehandelt und vermittelt werden, und zwar prinzipiell in der Form kritisierbarer Legitimitätsansprüche. Während technische Normen feststehen, sind soziale verhandelbar. Deshalb sei „[e]ine Zurückführung der Interaktion auf Arbeit oder eine Ableitung der Arbeit aus Interaktion […] nicht möglich“ (Habermas 1968a, S. 33, b, S. 91). Habermas wirft Horkheimers und Adornos Kritik der totalitären Gesellschaft eine „Verwechslung von System- und Handlungsrationalität“ (Habermas 1981b, S. 490) vor und trennt eine Sphäre des Handelns als der Möglichkeit nach immer integer von den strategischen Handlungen der Systemwelt ab (Habermas 1981a, S. 132). Weil Kommunikation geradezu analytisch auf Verständigung angelegt sei, bleibe sie auch immer ein mögliches Korrektiv (Habermas 1981a, S. 37–38, S. 149), das im Rahmen der „öffentliche[n], uneingeschränkte[n] und herrschaftsfreie[n] Diskussion über die Angemessenheit und Wünschbarkeit von handlungsorientierenden Grundsätzen und Normen“ (Habermas 1968b, S. 98–99) wirksam auf die Systemwelt zu beziehen sei. Gegenstand dieser Gesellschaftskritik ist nicht die kapitalistische Produktionsweise, sondern die spezifische Entwicklung von Kommunikationsformen in ihr; Ziel ist nicht die Überwindung inhumaner Gesellschaftsformen, sondern ihre deliberative Regulierung. Wenn aber die Erörterung der ‚Angemessenheit und Wünschbarkeit von handlungsorientierenden Grundsätzen und Normen‘ an die Stelle moralischer Reflexion tritt, verdankt sich die Verbindlichkeit des Ergebnisses nicht der logischen Form praktischer Vernunft und der durch sie bestimmten Kritik, sondern den Umständen des Diskurses und der Vereinbarkeit der Interessen der daran Beteiligten, über deren Zulässigkeit allenfalls in einem erneuten Diskurs und vorläufig zu entscheiden wäre. Dass unter diesen Interessen moralische Begriffe überhaupt vertreten wären, bliebe dem Zufall überlassen, und selbst wenn sie vorkämen, könnten sie von ihren Vertretern nur gegen ihre unmittelbaren Interessen vertreten werden. Das gesellschaftlich notwendig falsche Bewusstsein schließt den moralischen Erfolg solcher Diskurse jedenfalls solange aus, wie die gesellschaftlichen Gründe des falschen Bewusstseins bestehen bleiben. Der Begriff des herrschaftsfreien Diskurses bleibt in einer Welt, die bis ins Privatissimum hinein durch gesellschaftliche Herrschaft tingiert ist, ein affirmativer Idealismus.

Der wohl einflussreichste Vorwurf, den Habermas gegen Horkheimer und Adorno vorbringt, besagt, dass sie aufgrund der Verwechslung von Systemrationalität und Handlungsrationalität den Maßstab ihrer Kritik nicht auszuweisen vermöchten (Habermas 1981a, S. 500) und deshalb auf Geschichtsmetaphysik zurückgriffen (Habermas 1981b, S. 560–561). In der frühen kritischen Theorie sei die normative Grundlage ein „Vertrauen in ein Vernunftpotenzial der bürgerlichen Kultur“ (Habermas 1981b, S. 560) gewesen, das aber später der Kritik der instrumentellen Vernunft zum Opfer gefallen sei. Die normative Grundlage sei dann in eine „objektive Teleologie der Geschichte“ verlagert worden, in ein Entwicklungspotenzial der Vernunft, die „sich in den bürgerlichen Idealen zweideutig ausgelegt hatte“ (Habermas 1981b, S. 561). An diesen Vorwurf schließen sich die Versuche bei Habermas und später bei Honneth an, ein ‚normatives Fundament‘ kritischer Theorie in der gesellschaftlichen Erfahrung selbst, etwa in der Kommunikationsstruktur oder in bürgerlichen Verhaltensnormen wie der Anerkennung, auszumachen: „Das Missverständnis entsteht, weil Adorno und Horkheimer konsequent befreiungstheoretisch denken, die Interpreten aber ein ordnungstheoretisches Modell darüber stülpen“ (Steinert 2007, S. 36). Weil dieser Versuch immanenter Kritik das von Adorno betonte transzendente Gegenmoment – die kritische subjektive Vernunft mit ihren Ideen der Freiheit und des Glücks – als metaphysischen Ballast abwirft, kann er den Maßstab der Kritik nur innerhalb der Erfahrung des historisch Falschen gewinnen. Dies führt zwingend zu dessen theoretischer Affirmation im Verbesserungsvorschlag, der ein Vorschlag zur Verbesserung der Gestaltung von Herrschaft ist, nicht zu deren Überwindung, weil diese in eine separate Systemdimension ausgegliedert worden ist (Benhabib 1986; schon Theunissen 1969, S. 37–38 kann den Maßstab der Kritik nicht finden; hingegen: Ellmers und Elbe 2011, sowie Kuhne 2017).

Dem Vorwurf der Geschichtsmetaphysik liegt näher die Verwechslung des Entwicklungspotenzials von Vernunft mit der geschichtlichen Form seiner Realisierung zu Grunde. Es hat mit Geschichtsteleologie nichts zu tun, dass die Vernunft die logische Form der Vermittlung von Allgemeinem und Einzelnem bereithält und deshalb Maßstab und Medium der Kritik an Vergesellschaftungsformen ist, in denen diese Vermittlung durch Herrschaft realisiert ist. Die bürgerliche Subjekt- und Freiheitsphilosophie weist als theoretisches Selbstbewusstsein einer herrschaftlichen Gesellschaft über deren Widersprüche prinzipiell hinaus. Das Bewusstsein, in das diese Kritik fällt, kann freilich nicht konstruktiv an der Wirklichkeit partizipieren. Deshalb denunziert Habermas die negative Dialektik als bloßes Exerzitium, das seinen Erkenntnisanspruch an die ästhetische Theorie abgetreten habe (Habermas 1981a, S. 514).Footnote 11 Ohne die Bedeutung zu mindern, die der Ästhetik bei Adorno zukommt, gelangt die Negative Dialektik doch zu eigenen Ergebnissen, nur eben nicht zu affirmativen oder empirischen. Sie kontrastiert die Form von Rationalität und deren empirische Realisate dadurch, dass sie beide auf das subjektive Selbstbewusstsein bezieht: Die Reflexion auf die logische Form von Selbstbewusstsein, den Grund der Freiheit, erfolgt historisch unter Bedingungen, die dieser Form nicht genügen und doch selbst realisierte Vernunft sind. Habermas gibt nun Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie zugunsten einer erfahrungskompatiblen Handlungstheorie auf (Habermas 1981a, S. 523–533, bes. 532). Dadurch wird das gesellschaftliche Handeln in verschiedenen Bereichen empirisch darstellbar und Konflikte entstehen nur dort, wo Systemgrenzen überschritten werden, also z. B. ökonomische Krisen von der Lebenswelt aufgefangen werden. Das ökonomische System als solches gerät nicht in die Kritik. Auf der Grundlage des Subjektbegriffs ist hingegen überhaupt keine konsistente Handlungstheorie möglich, denn unter Bedingungen einer umfassenden kapitalistischen Ordnung muss jede Handlung, die auf Realisierung von Freiheit gerichtet ist, um ihres Zweckes willen unmittelbar auch dessen Gegenteil realisieren. Bei Habermas sind Systemrationalität und kommunikative Rationalität deshalb beides empirische Gestalten, die ihre eigenen Regeln haben, aber nicht durch eine reflexive Form der Subjektivität miteinander in Verbindung stehen. Für die theoretische Reflexion stellt sich hier ein Widerspruch zwischen vernünftigem Handlungszweck und unvernünftigen Handlungsbedingungen dar. Zwar ist die theoretische Reflexion auf den gleichen empirischen Inhalt bezogen, aber sie bezieht den Maßstab der theoretischen Beurteilung nicht aus der Empirie. Nur wenn dieser Maßstab aus der Empirie bezogen wird, sind die Seiten des Widerspruchs innerhalb einer konsistenten Handlungstheorie darstellbar und erscheinen nicht mehr als Widerspruch, sondern als vermittlungsfähiger Gegensatz. Der Maßstab theoretischer Reflexion der gesellschaftlichen Erfahrung ist der im kritischen Selbstbewusstsein begründete moralische Autonomieanspruch, der nicht mit unvernünftigen Handlungsbedingungen vermittelt werden kann.

Wie mit der Negativität und dem Subjektbegriff der frühen kritischen Theorie räumt Habermas auch mit dem kapitalismuskritischen Gesellschaftsbegriff auf. Weil Verdinglichung im Rahmen von Subjektphilosophie auf Paradoxien führe, wird die kommunikationstheoretische Wende vollzogen, um die Verklammerung von System- und Lebenswelt zu lösen (Habermas 1981a, S. 533, b, S. 500). Schließlich sei der Marxsche Ökonomismus zu überwinden: Nicht der Wert sei das Prinzip der Gesellschaft, sondern Geld und Macht seien konkurrierende Steuerungsmedien, die in System- und Lebenswelt unterschiedlich kanalisiert würden. Habermas übersieht auch hier, dass die Marxsche Kapitalkritik eine politische Theorie der Gesellschaft ist: Sie ist Herrschaftskritik. Habermas hingegen kann auf seine eigene Frage, woher denn, wenn der Sozialstaat die Gesellschaft bereits pazifiziert habe, überhaupt noch die Konflikte rührten (Habermas 1981b, S. 514–515), nicht mehr theoretisch antworten: Weil die Menschen nicht frei sind. Stattdessen stellt er auf die ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ und die ‚Fragmentierung des Alltagsbewusstseins‘ durch die technokratische Rationalität ab. Der Umkehrschluss ist intendiert: Innerhalb der Systemgrenzen hat der moderne Kapitalismus ein „höheres und evolutionär vorteilhaftes Integrationsniveau“, einen „evolutionären Eigenwert, den mediengesteuerte Subsysteme besitzen“ (Habermas 1981b, S. 499). Damit ist die Kapitalismuskritik endgültig erschlagen: Das zentrale Argument der kritischen Gesellschaftstheorie, dass die Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum, die Organisation seiner Produktion, für alle durchsichtig nach rationalen Zwecken zu erfolgen habe, wird der angeblichen Effektivität einer eigengesetzlich ablaufenden Ökonomie geopfert, deren ‚evolutionärer Vorteil‘ doch historisch lediglich gegenüber (mittelalterlichen oder primitiven) Subsistenzwirtschaften sowie realsozialistischen Planwirtschaften erwiesen ist. Diese Effektivität soll ‚kritisch‘ gerettet werden durch kommunikative Normierung des Verhältnisses von Systemwelt und Lebenswelt. Insbesondere die hier auftretenden Pathologien (Habermas 1981b, S. 554, 564–565) sollen empirisch registriert und durch Aufdeckung des in den kommunikativen Strukturen der Gesellschaft verborgenen Lernpotenzials geheilt werden (Habermas 1981b, S. 549). Explizit, ihrer eigenen Einschätzung nach, ist diese ‚kritische‘ Theorie weder ideologiekritisch (Habermas 1981b, S. 583), noch steht sie in Konkurrenz zu anderen soziologischen Ansätzen (Habermas 1981b, S. 550). Diese kritische Theorie prallt nirgends ab und eckt nirgendwo an, weil sie nicht kritisieren, sondern vermitteln will.

7.2 Axel Honneth

Wie bei Habermas liegt auch bei Axel Honneth der Revision kritischer Theorie eine ostentative Abwendung von Horkheimer und Adorno sowie auch von Marx zugrunde (zu Marx: Habermas 1981b, Kap. VIII, 2; Honneth 2011, C., III, 2; zu Horkheimer und Adorno: Habermas 1981a, Kap. IV, 2; Honneth 1985, erster Teil; Honneth 2009a).

Während es Habermas aber noch darum ging, die kritische Theorie in eine nach empirischen Bestimmungen aufgebaute Makrotheorie zu transformieren, setzt Honneth vor allem auf die Rehabilitation empirischer Elemente der klassischen Soziologie, die Horkheimer selbst zunächst vertreten und dann suspendiert habe (Bonß und Honneth 1982; zu der zu Grunde liegenden Fehlinterpretation von Horkheimers frühem Materialismusprogramm: Moritz 1992, S. 214–215). Mit der Kritik der Soziologie, die Honneth bei Horkheimer und Adorno sieht, werde hingegen ‚das Soziale endgültig verdrängt‘ (Honneth 1985, S. 70). Die Kritik, die der emphatische Soziologe Adorno an seiner Disziplin übte, galt freilich der Rettung des Sozialen vor einer bloß positivistischen akademischen Verwaltung, die den falschen Zustand festzuzimmern drohte (eine nicht substanzielle, sondern eher methodische Kritik sieht darin hingegen Müller-Doohm 1996). Für die behauptete Verdrängung macht Honneth in Anlehnung an Habermas ‚geschichtsphilosophische Prämissen‘ der kritischen Theorie verantwortlich, näher die Festlegungen darauf, dass zunächst das gesamte soziale Handeln der Menschen durch ökonomische Arbeit zur fortschreitenden Naturbeherrschung definiert sei (Honneth 1985, S. 15), zunächst affirmativ, später pejorativ bewertet. Andere ‚Typen sozialen Handelns‘ (Honneth 1985, S. 38) würden dann unsichtbar. Honneth verwechselt hier geschichtsphilosophisches Denken mit geschichtlichem Denken. Der Gedanke, dass alle kulturellen und sozialen Leistungen und Vorstellungen der Menschen Resultate einer Geschichte sind, die an substanzieller Stelle durch ökonomische Fragen bestimmt wird, ist ein materialistischer und geschichtlicher Gedanke, geschichtsphilosophisch ist er hingegen nicht, denn er macht keine allgemeinen Aussagen über die Geschichte, ihr Ziel oder ihren Verlauf. Auch verhindert diese Auffassung nicht, wie Honneth meint, „die handlungspraktischen Bestandteile sozialer Auseinandersetzungen und Konflikte als solcher zu erfassen“ (Honneth 1985, S. 26), sie verhindert hingegen, sie unabhängig von ihren geschichtlichen und kontemporären Bedingungszusammenhängen, also abstrakt handlungstheoretisch, zu erfassen. Die Polemik gegen die Geschichte, die allenfalls als empirische Offenheit auftreten darf, markiert den Grundton des Positivismus. Dieser, nicht Geschichtsphilosophie, war wie gesagt der Grund, aus dem Adorno die Soziologie kritisierte.

Honneth erblickt Adornos theoretische Leistung allein darin, die Philosophie auf eine formelle Reflexion von Begrifflichkeit einerseits und eine hypertrophe Ästhetik andererseits heruntergebracht zu haben (Honneth 1985, S. 75, 83. Auch hier wirkt der Einfluss von Baumeister und Kulenkampff 1973). Adornos Kapitalismuskritik sei abzulehnen, weil sie nicht empirisch-soziologisch, sondern theoretisch ist; sein Ideologiebegriff wird als manipulative Steuerung aller Einzelnen durch ein administratives Übersubjekt missverstanden; die bei Adorno aus der systematisch-unpersönlichen Form gesellschaftlicher Herrschaft und ihrer Fortsetzung im ideologischen Bewusstsein begründete Vernachlässigung sozialer Integrationspraktiken wird als einseitiger Herrschaftsbegriff gerügt; theoretische Begriffe oder Urteile gelten ihm als vage. Immer wieder wird die Weigerung der kritischen Theorie, Gesellschaft als Resultat selbstbewusster Selbstorganisation zu fassen, als soziologische Unfähigkeit denunziert; die Absicht kritischer Theorie, durch negative Rekonstruktion des sozialen Zwangs vom Subjekt aus einen Begriff der Ausweglosigkeit zu vermitteln, der die Notwendigkeit des radikalen historischen Sprungs darlegt, bleibt dem reformistischen Interesse unbegreiflich. All diesen Abgrenzungen gegenüber Adorno und Horkheimer liegt die Tendenz zu Grunde, als Gesellschaftstheorie nur gelten zu lassen, was sich erfahrungsanalog darstellen lässt. Darin setzt sich der von Habermas begonnene Abbau theoretisch reflektierter Begriffe – metaphysischen Ballasts – verschärft fort. Insofern handelt es sich um eine Empirisierung der kritischen Theorie, durch die dieser ihr Gegenstand entgleitet: Die Gesetze, nach denen sich Kapital verwertet und nach denen gesellschaftliches Handeln funktional bestimmt wird, entziehen sich der Erfahrung. Erfahren werden nur die Auswirkungen der Funktionalisierung, die Honneth als Pathologien beschreiben will, aber nicht vom Prinzip her theoretisch erklären kann.Footnote 12

Honneths Unbehagen an der kritischen Theorie gründet stets in der handlungstheoretischen Voreinstellung seiner Lektüre. So vermisst er in der kapitalismuskritischen, am autonomen Subjekt gemessenen Negation gesellschaftlicher Zwänge aus deren allgemeinem Begriff heraus immer wieder den Blick auf kapitalismusimmanente kollektive Verständigungsformen und subkulturelle Handlungsorientierungen. Er möchte zeigen, dass der Kapitalismus ohne ein Mindestmaß an allgemeiner Zustimmung nicht existieren könnte; aber dass diese Zustimmung aus normativen Implikationen des Kapitalismus selbst begründet sei (und nicht Ausdruck der von Marx bis Adorno beschriebenen Ideologie ist), bleibt eine Behauptung. Das bürgerliche Selbstbewusstsein zieht die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit keineswegs aus der selbstbewussten Erkenntnis des Frühkapitalismus, sondern aus der Opposition des Individuums gegen die sozialen Bindungen des Mittelalters. Diese Prinzipien werden von Naturrecht und Nationalökonomie erst auf die Ökonomie übertragen, um diese als empirisches Medium der Emanzipation mit dem theoretischen Bewusstsein der Autonomie verträglich zu machen. In diesen Widersprüchen liegt ein Potenzial kritischer Theorie, das Marx aufgriff, das Honneth aber in empirischer Vereinfachung als normative Implikationen oder Versprechungen des Kapitalismus auffasst (Honneth 2011, S. 317–470). Wie auch Habermas kommt Honneth erst im Zusammenhang der Globalisierungskrisen wieder bzw. überhaupt auf den Kapitalismus zu sprechen, also aus empirischem Anlass. Beide stellen nun fest, dass der Kapitalismus nicht eben den Anschein einer herrschaftsfreien oder kooperativen Organisation macht. Bisweilen wirkt dies vor dem Hintergrund bereits geleisteter Kapitalismuskritik als geradezu unfreiwillig rührend: „Es erscheint [!] heute [2011] im allgemeinen [!] wohl [!] eher [!] als abwegig, das System des marktvermittelten Wirtschaftshandelns als eine Sphäre sozialer Freiheit zu begreifen“ (Honneth 2011, S. 317). Die Ignoranz gegenüber theoretischer Kapitalkritik führt insgesamt dazu, die Entwicklung nicht als Ausdruck längst bekannter Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Gesellschaften, sondern als Fehlentwicklung oder Entgleisung zu qualifizieren (Honneth 2011, S. 317; Habermas 2005). Deren Korrektur durch Reaktivierung der normativen Potenziale von Anerkennungsrelationen ist das Ziel von Honneths Kritik, die damit beansprucht, eine nicht allein theoretisch affirmative sondern auch praktisch stabilisierende Theorie der Gesellschaft zu sein. Zu diesem Zweck thematisiert er empirische soziale Konflikte, die auf Veränderungen sozialer Strukturen hinweisen und hinwirken, indem sie fraglich gewordene Konsense auf neuer Grundlage wiederherstellen. In diesen Vorgängen wird die ‚moralische Grammatik‘ vermutet, der die Gesellschaft ihre Stabilität verdankt. Um sie zu bestimmen, macht Honneth aber keine allgemeinen theoretischen Aussagen über Gesellschaft, sondern ist auf der Suche nach pragmatischen Regeln, die abstrakt genug sind, um nicht empirisch zu wirken, und empirisch genug, um nicht leer zu sein (Honneth 1993, S. 277).

Diesen Zweck soll die Anerkennung als soziales Prinzip erfüllen. Sie sei die Form empirisch gegebener sozialer Selbstverwirklichung, aber sie mache als Form keinerlei bestimmte ethische Vorgaben: Wie einer sich selbst verwirkliche, ist nicht von vornherein festgelegt. Als Sphären der Anerkennung benennt Honneth die Liebe (Familie), das Recht (Wirtschaft/Gesellschaft) und die Solidarität (Politik). Es gelte jeweils, die intersubjektiven Interaktionen so zu gestalten, dass in ihnen Selbstverwirklichung möglich sei. Zugleich finde in ihnen die Verständigung über die Normen des sozialen Handelns statt und es würde so das Einverständnis mit der geltenden normativen Ordnung erzeugt und bestätigt. Gerate die Ordnung in ein Ungleichgewicht, so komme es zu einem Kampf um Anerkennung, der von den durch das Ungleichgewicht Benachteiligten ausgehe und zu einer Neujustierung der normativen Ordnung führe, so dass soziales Einverständnis, evtl. auf einer neuen Stufe, restauriert werde. Den kritischen Akzent dieser Vorstellung sieht Honneth darin, von sozialen Pathologien ausgehend solche Ungleichgewichte zu ermitteln und so theoretisch am Kampf um Anerkennung mitzuwirken.

Die Anerkennung, die beim frühen Hegel noch ein theoretisches Moment der Konstitution des Selbstbewusstseins zu einem kollektiv beziehungsfähigen Subjekt war und den Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist moderierte, ist bei Honneth zur Struktur empirischer Verkehrsverhältnisse geworden. Bei Hegel ist Anerkennung die Form der Eigentumsbegründung, die anschließend allen bürgerlichen Vertragsformen zu Grunde liegt. Von der Vertragsform her werden deshalb die sozialen Beziehungen interpretiert, weil diese Form als freies Verhältnis freier und gleicher Subjekte gedacht wird. Dadurch ist in ihr Geist realisiert, Allgemeines im Einzelnen, und die bürgerliche Gesellschaft fügt sich in die geistige Struktur der Totalität. Von dieser Einbettung der Anerkennung, in der sie philosophisch immerhin einen kritisierbaren Sinn hat, grenzt Honneth sein Konzept strikt ab, vor allem weil Hegel deshalb nur in der Gesellschaft, nicht aber im Staat dem Individuum gerecht werde (z. B. Honneth 1993, S. 102). Allerdings ist bei Hegel der Staat als Instrument zur Beherrschung einer in sich keineswegs durch Anerkennung harmonisierten, sondern verselbstständigten Konkurrenzdynamik der Gesellschaft konzipiert. Anstatt daraus Rückschlüsse auf die Form der Gesellschaft zu ziehen, will Honneth das Anerkennungsprinzip auch für die politische Solidarität erschließen. Es geht ihm nicht um theoretische Prinzipien, sondern um die individuelle Erfahrung von Anerkennung, die die Individuen befähigen soll, sich aus der Sicht ihrer Interaktionspartner zu sehen. Diese Perspektive ist für die in modernen Gesellschaften existenziell geforderte Anerkennung aber nicht möglich, denn diese Gesellschaften werden nicht durch sympathetische Anerkennung, sondern durch Kapital und Verwertungszweck konstituiert und durch rechtspersonale Anerkennung bloß moderiert. Selbst bei Hegel blieb Fremdheit konstitutiv für Anerkennung. Wie das von Honneth am Liebesverhältnis modifizierte Anerkennungsmodell in einer auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft möglich sein soll, bleibt sein Geheimnis; ob eine Reproduktion der normativen Affirmation in der kapitalistischen Gesellschaft auf der Basis von Affekt, Gefühl und Empfindung (Honneth 1993, S. 212) wünschenswert ist, steht dahin. Die affektive Reaktion auf Missachtung zum Prinzip der Kritik zu erheben, ist nicht erst auf der Grundlage massenpsychologischer Erfahrung des 20. Jahrhunderts theoretisch naiv. Mit dieser Erhebung empirischer Anerkennungs- oder Missachtungsverhältnisse zu Konstituentien oder Kritikinstanzen der Vergesellschaftung sind jedenfalls das Subjekt als Prinzip und Maßstab, die Negativität als logische Form und die materialistische Gesellschaftstheorie als Inhalt kritischer Theorie aufgegeben.

8 Ausblick

Die Empirisierung, die sich – in dem oben näher bezeichneten Sinn – schon bei Habermas abzeichnete und die bei Honneth zum erklärten Ziel wird, ist als solche mit kritischer Theorie nicht vereinbar. Damit ist keine ausschließende Opposition von Theorie und empirischer Forschung gemeint, vielmehr ist Gesellschaftstheorie auf genaue Kenntnisse ihres letztlich in der Erfahrung existierenden Gegenstands angewiesen. Schon die Marxsche Kapitaltheorie war nur als Kritik der politischen Ökonomie möglich, d. h. als Kritik des Bestandes der weitgehend auf empirischen Grundlagen fußenden Nationalökonomie. Aber dieser Bestand konnte nur durch ein auf Vernunftbegriffen beruhendes theoretisches Denken zu einer theoretischen Einheit gebracht werden, die sich im Wechselspiel von Begriff und Erfahrung bildet. Die weitere empirische Erforschung der Gesellschaft kann nur dann vermeiden, den Erkenntnisstand zu unterlaufen, wenn die Konzeption empirischer Untersuchungen das theoretische Wissen über die Gesellschaft bereits voraussetzt. Es gibt kein nicht-normatives Theoriedesign. Das scheinbar naiv herantretende Beobachten akzeptiert implizit die normativen Vorgaben der gesellschaftlichen Wirklichkeit, indem der Gegenstand so genommen wird wie er ist (Adorno 1972d).

Zwar standen der kritischen Theorie immer schon positivistische und empiristische Theorien gegenüber, denn dies sind die Stoßrichtungen der klassischen Soziologie: „Soziologie hat dagegen eine Neigung, die jeweilige Gesellschaftsformation als gegeben zu nehmen. Das ist oft genug ein Fehler und jedenfalls der Verzicht auf eine Erkenntnismöglichkeit“ (Steinert 2007, S. 236).

Neu war es hingegen, dass im Zuge der weiteren Etablierung der Frankfurter Schule seit den 1970er-Jahren der positivistische und empiristische Protest gegen die kritische Theorie unter deren eigenem Namen geführt wurde und wird. Auch das Missbehagen am Einverständnis mit der kapitalistischen Gesellschaft hat nicht zur Rückbesinnung auf die Prinzipien der kritischen Gesellschaftstheorie geführt, sondern zu deren noch vehementerer Preisgabe. Für die kritische Theorie sind unterm Vorwand von Praxis – was immer das jeweils heißen mag – Soziologen wie Pierre Bourdieu und Luc BoltanskiFootnote 13 oder Autoren im Gefolge der neuen sozialen Bewegungen wie Antonio Negri und Michael Hardt oder Chantal Mouffe und Ernesto Laclau herangezogen worden. Sie haben gemeinsam, dass sie die kapitalistische Gesellschaft in ihren Erscheinungen pejorativ beurteilen, insbesondere was die Globalisierung betrifft; ebenso haben sie aber gemeinsam, dass sie kein Subjekt des Widerstands benennen können, obwohl sie es so gern möchten. Das liegt schon an dem Denkfehler, dass die Erfahrung von Alltagspraktiken, die die Subjektivierung erst bewirken sollen, ohne ein vorausgesetztes Subjekt der Subjektivierung gedacht wird. Was tatsächlich in der Praxis erst entsteht, sind Individuen. Indem die Individuen nicht mehr durch einen Subjektbegriff zusammengefasst werden können, ist jede Oppositionsbildung zufällig: Sie kann nicht mehr auf den Anspruch auf Vermittlung des Subjekts mit seinen objektiven Bedingungen rekurrieren. ‚Kritische Massen‘ können nur zufällig und unreflektiert aus massenpsychologischen Dynamiken oder sozialen Trends evolvieren, worin eher eine Gefahr als eine Chance für die Menschheit liegen dürfte. Zudem führt das Subjektivierungstheorem dazu, den Klassenbegriff preiszugeben. Bei Marx war er theoretischer Reflexionsbegriff, der ein Formprinzip der kapitalistischen Gesellschaft angab: Es gab Menschen, die Produktionsmittel besaßen und solche, die keine besaßen. Dadurch wird systematisch über Produktionszwecke und gesellschaftliche Formen entschieden.Footnote 14 Das ist der Kern gesellschaftlicher Unfreiheit, gegen den zu opponieren bedeutete, die Produktionsweise zu kritisieren. In der postmodernen Politiktheorie gibt es die Klassen nicht, weil es keinen Subjektivierungsfaktor Klassenerfahrung gibt. Empirisch ist die Gesellschaft vielfältig in Gruppen zerteilt, von denen einige sich konstituieren über irgendein Missbehagen an der Gesellschaft, die sogenannten neuen sozialen Bewegungen. Auf sie baut die Widerstandshoffnung der postmodernen Politiktheorie, deren bürgerliches Pendant die Repräsentationstheorie ist, die auf Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie setzt. In beiden wirkt kein theoretisches Prinzip von Kritik.Footnote 15

Die kritiklose Akzeptanz der Vielfalt von Bewegungen verzichtet auf deren theoretische Einigung durch politische Aufklärung. Dadurch divergieren nicht nur die Zwecke der einzelnen Gruppen, sondern diese Gruppen sind selbst Produkte der bestehenden Gesellschaft, die so aus sich selbst heraus ihren relativen Widerpart erzeugt. Damit ist die postmoderne Theorie eine Beschreibung der realen Entwicklung, positivistisch und affirmativ.Footnote 16

Die empirische Perspektive auf partikulare oder singuläre soziale Akteure verliert den Gegenstand der Gesellschaftstheorie, nämlich Gesellschaft, aus den Augen. Dass die Gesetze kapitalistischer Gesellschaften, insbesondere mit der reellen Subsumtion, keine Gegenstände möglicher Erfahrung sind, wird zum Problem, wenn die Theorie auf Empirie beschränkt ist: Die Kritik der Gesellschaft ist dann undenkbar.Footnote 17 Negativität, einst logische Form der Kritik, verkümmert, wo sie als Impuls des Protests noch geblieben ist, zum Affekt, der sich gegen alles und nichts richten kann, wenn eine verbindliche Begründung der Kritik als theoretische Zumutung abgelehnt wird. Bruno Latour hat dies, wohl contre coeur, als Nähe zeitgenössischer Kritik zur Verschwörungstheorie erfasst (Latour 2007). Vor allem aber geht das Subjekt als Maßstab verloren, weil der empirische Blick keine Subjekte registriert, zu Recht, denn sie sind nicht sichtbar. Was sich erfahren lässt, sind allenthalben Individuen mit ihren gescheiterten Prätensionen von Subjektivität. Aber diese werden nicht mehr am Maßstab der Reflexion zum Ausgangspunkt der Kritik, sondern sie werden so wie sie sind zum Maßstab einer Kritik am Subjektbegriff, die sich als Kritik so selbst theoretisch untergräbt.

Eine Konsequenz dieses Reflexionsverlusts von Kritik dürfte ihre irritierte Diagnose des eigenen Wirkungsverlusts sein (z. B. Latour 2007, aber auch bereits Foucault 1992 oder Butler 2002, S. 249–265). Foucault schlägt vor, die Kritik wieder stärker als Haltung, „daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird“ (Foucault 1992, S. 12), gegenüber ihrer Entwicklung zur theoretischen Reflexion auf Gründe zur Geltung zu bringen. Bei Butler und anders bei Latour diffundiert noch diese Haltung in immer neuen Praxiskontexten, manifestiert sich nicht als inhaltlich bestimmte Kritik. Auf jeden Fall wird Kritik von einer theoretischen Erkenntnisform in eine individuelle Haltung transformiert. Die Frage nach der Wirksamkeit von Kritik ist ambivalent, postmodern und modern zugleich. Postmodern ist jene Verlagerung in die Alltagspraktiken, modern aber ist der Gedanke einer Tugend des Nonkonformismus, die Wahrheit, die man erkennt, auch zu sagen. Der Impuls hierzu wird von der kritischen Erkenntnis selbst nicht notwendig erzeugt. Das Problem ist unter dem Namen Akrasie in der Philosophie lange bekannt; modern bestimmen lässt es sich präzis mit Kants Begriff der Selbstachtung als notwendig subjektiver Triebfeder einer vernünftigen Praxis (Demirović 2008). Kritik, die bei sich bleibt, ist keine (Adorno 1977a, S. 30). Auf der anderen Seite ist die Aufgabe von Kritik durch eine Haltung oder eine Praktik nicht abgegolten. Daraus ergibt sich die zu der Frage nach dem Wirkungsverlust von Kritik komplementäre Frage nach ihrem Formverlust.

Diese Deformation, Entformung, kritischer Theorie entspricht einem Bewusstsein, das Robert Menasse als Resultat einer Phänomenologie der Entgeisterung dargestellt hat (Menasse 1994). Ausgehend von dem Niveau umfassender begrifflicher Vermittlung des theoretischen Selbstbewusstseins bei Hegel entwickelt Menasse im Zusammenhang historischer Bedingungen wie Klassenkampf, Industrialisierung, Faschismus, Weltkrieg und Shoah, wie das moderne kollektive Selbstbewusstsein unter dem Einfluss empirischer Zwänge und Gewalt allmählich an Bestimmtheit und Vermittlung verliert, bzw. sich deren theoretisches Potenzial gar nicht erst aneignet. Diese Erfahrung entformen den Geist der modernen Gesellschaft derart, dass er zu seinen gegenständlichen Lebensbedingungen in ein zunehmend wieder unmittelbares Verhältnis tritt. Es verliert die in historischer Erfahrung gebildeten Formen von Widerständigkeit, zunächst weil es sich taktisch positionieren, sich stets relationieren muss, sodann weil es im Durchgang durch die absolute Bedrohung das Festhalten am Unmittelbaren für den Gewinn des Ganzen hält. Wer an der Existenz bedroht ist, gibt den Kampf um ein emphatisch menschenwürdiges Leben zugunsten des Kampfes um Leben, wie es ist, auf. Dies kennzeichnet den Geist der Nachkriegsgesellschaft, deren adäquates Selbstbewusstsein nach einer Phase des radikalen Antimarxismus der Pragmatismus und Poststrukturalismus wurden, die durchaus wahlverwandt sind. Die Gesellschaft ist postmodern. Die Theorie, die das begreifen soll, kann es nicht sein.

Kritische Theorie steht damit vor massiven Schwierigkeiten. Die hohe Affinität zu verkürzten Formen von Kritik bewirkt Zerrüttung und Lagerbildung; es wiederholt sich gewissermaßen die Fraktionierung der Arbeiterbewegung. Ständige interne Auseinandersetzungen behindern die Identifikation der tatsächlichen Objekte von Kritik, zumal gerade die theoretische Form der Objekte und ihrer Identifikation in Zweifel gezogen wird. Was hier auf die kritische Theorie durchschlägt, ist das bürgerliche Interesse an der Zerrüttung und dadurch Paralysierung der theoretischen Vernunft (Bulthaup 1998a): Die moderne bürgerliche Gesellschaft hat sich nicht allein ökonomisch und politisch stabilisieren können, sondern sie hat auch die Institutionen der Bildung, die bis zu Fichte und Humboldt noch als Horte der autonomen Subjektivität galten, einer instrumentellen Integration zugeführt, in der die kritische Reflexion nicht systematisch anschlussfähig ist, sondern Zufall bleibt.

Peter Bulthaup zufolge ist das „Subjekt radikaler Kritik“ (dieses und die folgenden Zitate aus: Peter Bulthaup, Kap. „Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie“, in diesem Band), zunächst mit Lukács das Proletariat, in der Entwicklung der Neuzeit zu einem „Wesen ohne Dasein“ geworden. Das Subjekt radikaler Kritik ist das moderne Selbstbewusstsein, das um seiner Autonomie willen die heteronomen Bedingungen seiner Existenz der Kritik unterwirft. In dieser Kritik wirkt als ‚Wesen‘ die substanzielle Idee menschenwürdigen Daseins der Gattung in jedem ihrer Exemplare, die aber im tatsächlich heteronomen Dasein der vereinzelten Einzelnen nicht wirklich ist. Subjekte der Kritik sind die Proletarier deshalb, weil sie der Form nach an der in Eigentum und Naturbeherrschung gründenden Autonomie der bürgerlichen Gesellschaft partizipieren; der Sache nach aber, als bloßen Eigentümern von Arbeitskraft, treten ihnen die Bedingungen von Autonomie als Bedingungen von Heteronomie entgegen. Weil die Negation dieser Bedingungen – die Aufhebung der Produktionsweise – einerseits Bedingung ihrer Autonomie wäre, aber andererseits zugleich deren Bedingungen negierte, wird der radikale Akt der Selbstverwirklichung unmittelbar zu einem Akt der Selbstzerstörung. Auch wer kein Interesse am Kapitalismus hat, hat existenzielle Interessen im Kapitalismus. Solange das Subjekt radikaler Kritik nicht als kollektives sich ein Dasein gibt, bleibt es bei „empirische[n] Manifestation[en] der Kritik durch einzelne Subjekte“, die aber dem „Wesen kein Dasein“ geben, sondern nur Provokationen darstellen für das bloße Dasein der anderen, die keine Manifestationen der Kritik sein wollen. Diese werden durch die vereinzelte radikale Kritik daran erinnert, dass sie an sich Wesen sind, dass sie als vernunftbegabte Sinnenwesen ihre adäquate Entfaltung in einem glücklichen autonomen Leben hätten. Zugleich werden sie daran erinnert, dass dies nur dadurch möglich würde, dass sie selbst Subjekte radikaler Kritik würden: „Die Reaktion auf diese Provokation, Wut und militante Abwehr, ist Symbol des an sich seienden Wesens des Daseins, das nicht für sich werden kann, ohne die radikale Veränderung der Verfassung der Totalität der Bedingungen seiner Reproduktion.“ Das Dasein dringt, weil der Preis seines Wesens es ängstigt, auf Liquidierung der radikalen Kritik. Diese erfolgt nicht erst durch die akademische, bürgerliche oder physische Auslöschung kritischer Subjekte, sondern schon, und wirkungsvoll, durch die theoretische Deformation der Kritik. „Im Widerstand gegen die Tendenz zu seiner Liquidation erst wird die empirische Manifestation des Wesens ohne Dasein, die Selbstbehauptung radikaler Kritik, zu einem objektiven Moment der Agitation für die essentia singularis, die noch nicht ist.“ Die Prinzipien Subjektivität, Negativität, materialistische Gesellschaftstheorie, Geschichtlichkeit und Ideologiekritik ermöglichen eine Reflexion der ‚gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie‘, für die auch ihr Verhältnis zu ihrer Deformation theoretisch bestimmbar wird. Die Deformation vermag umgekehrt nicht, ihr Verhältnis zur kritischen Theorie theoretisch zu fassen, denn die Preisgabe der theoretischen Formprinzipien erfolgt explizit nicht durch eine allgemeine theoretische Begründung, sondern aus pragmatischen Erwägungen. Es tut der Deformation aber auch nicht Not, weil sie „mit der realen historischen Tendenz harmoniert“.