Brunelleschis Wunder: Der Dom von Florenz

Er war kein gelernter Architekt, aber ein Genie: Also schuf Filippo Brunelleschi die Kuppel des Doms von Florenz. Und wir staunen noch heute.

Von Tom Mueller
bilder von Dave Yoder
Veröffentlicht am 22. Juli 2020, 16:58 MESZ
Florentiner Dom
Die Bauarbeiten am Florentiner Dom begannen im Jahr 1296, noch im Mittelalter. Deshalb ist die Kirche im gotischen Stil errichtet. Als Brunelleschi mehr als hundert Jahre später die Kuppel konstruierte, begann eine neue Epoche: die Renaissance.
Foto von Dave Yoder

Im Dach der Kathedrale klaffte ein riesiges Loch. Die Stadtväter von Florenz kannten das Problem – und ignorierten es seit Jahrzehnten. Man schrieb das Jahr 1418, als die Florentiner endlich beschlossen, Santa Maria del Fiore mit einer einzigartigen Kuppel zu krönen.

Die Bauarbeiten für die Kirche hatten bereits 1296 begonnen. Für das reiche Florenz, das sich durch sein Finanzwesen und den Handel mit Wolle und Tuch zu einem der wichtigsten wirtschaftlichen und kulturellen Zentren Europas entwickelt hatte, war der Dom ein Statussymbol. Und so sollte die größte Kuppel der Welt dieser Kathedrale den krönenden Abschluss verleihen. Doch auch viele Jahrzehnte später hatte anscheinend niemand eine brauchbare Idee, wie man eine Kuppel mit einem inneren Durchmesser von 45 Metern erbauen konnte – noch dazu auf Mauern in 55 Metern Höhe.

Auch andere Fragen machten den Bauherren zu schaffen. Ihre Pläne sahen keine gotischen Strebepfeiler und Spitzbögen vor, wie sie in den rivalisierenden Städten des Nordens üblich waren, so auch im verfeindeten Mailand. Das war damals für ein Gewölbe dieser Größe die einzige bekannte Lösung. Würde eine Zehntausende Tonnen schwere Kuppel auch ohne sie halten? Gab es in der Toskana genügend Holz für das Gerüst und die Verschalungen, die für die Formung des Mauerwerks notwendig waren? War es überhaupt möglich, auf acht tortenstückförmigen Keilen eine Kuppel zu bauen, ohne dass diese in sich zusammenfiel, wenn sich das Mauerwerk zum Scheitelpunkt hin krümmte? Niemand wusste es.

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So schrieben die besorgten Florentiner Stadtväter und die aufstrebende Medici-Familie 1418 einen Wettbewerb für den idealen Kuppelentwurf aus. Mit einem Preisgeld von 200 Goldflorinen für den Sieger – und der Aussicht auf ewigen Ruhm. Führende Architekten kamen nach Florenz, um ihre Pläne vorzulegen. Aber von Anfang an war das Projekt von Zweifeln, Ängsten, Geheimniskrämerei und Bürgerstolz begleitet, so dass sich bald Legenden darum rankten.

Der Bau der Kuppel wurde zur Parabel auf den Florentiner Erfindergeist und ein zentraler Gründungsmythos der italienischen Renaissance.

BELIEBT

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    In den ersten Chroniken dieser Geschichte kommen die Verlierer gar nicht gut weg. Einer der Bewerber wollte die Kuppel mit einem riesigen Mittelpfeiler stützen. Ein anderer schlug vor, sie aus „Schwammstein“ (möglicherweise spugna, einem porösen Vulkangestein) zu errichten, um das Gewicht zu verringern.

    Belegt ist, dass einer der Bewerber, ein unansehnlicher, schmächtiger, hitzköpflger Goldschmied namens Filippo Brunelleschi, versprach, nicht nur eine, sondern zwei ineinander gesetzte Kuppeln zu bauen, ganz ohne aufwendige und kostspielige Gerüste. Allerdings weigerte er sich — wohl aus Angst vor gieistigem  Diebstahl — zu erklären, wie genau er das bewerkstelligen wollte. Sein Starrsinn führte zu einer handfesten Auseinandersetzung mit den Dombauverwaltern, die ihn zweimal zur Ordnung rufen und gewaltsam aus dem Ratssaal schaffen ließen, um ihn schließlich als „Schwachkopf und Schwätzer“ zu beschimpfen.

    Dennoch hatte Brunelleschis mysteriöser Entwurf sie neugierig gemacht. Vermutlich ahnten sie, dass dieser Querulant auch ein Genie war.

    Schon während seiner Goldschmiedelehre hatte er Malereien und Zeichnungen, Holzschnitzereien, Silber- und Bronzeskulpturen, Edelsteinfassungen, Niello- und Emailarbeiten angefertigt. Später befasste er sich mit Optik und experimentierte mit Rädern und Zahnrädern sowie Gewichten und Bewegung. Auch erbaute er mehrere kunstvolle Uhren, darunter die vermutlich erste Weckuhr der Geschichte.

    Sein theoretisches und mechanisches Wissen wendete Brunelleschi auf die Beobachtung der Welt an und entwickelte daraus die Gesetze der Zentralperspektive. Auch in Rom war er schon gewesen und hatte dort mehrere Jahre mit dem Vermessen und Skizzieren antiker Bauwerke verbracht. Brunelleschis ganzes Wirken, so schien es, war darauf ausgerichtet, eines Tages eine Kuppel von so unvergleichlicher Schönheit, Ehrwürdigkeit und Grandezza zu erbauen, wie Florenz sie ersehnte.

    IN DEN NÄCHSTEN JAHREN trafen sich die Dombauverwalter mehrmals mit Brunelleschi und brachten Einzelheiten seines wagemutigen Plans in Erfahrung. Sie begannen zu ahnen, wie brillant (und riskant) sein Entwurf tatsächlich war.

    Die Kuppel sollte aus zwei konzentrischen Gewölbeschalen bestehen und die innere, im Dom sichtbare Schale in der breiteren und höheren äußeren Kuppel ruhen.

    Zum Auffangen des Seitenschubs, des nach außen gerichteten, auf das Mauerwerk einwirkenden Drucks, der durch das Gewicht eines großen Bauwerks, sollten Ringanker aus Stein, Eisen und Holz die Wände umgurten — so wie Metallreifen die Dauben eines Fasses. Die ersten 17 Meter wolle er aus Stein bauen, erklärte Brunelleschi, und danach mit leichterem Material, entweder spugna oder Ziegelsteinen, fortfahren. Er versicherte den Bauherren, dass er ohne herkömmliches, auf dem Boden stehendes Gerüst auskommen würde. Sie begrüßten die enorme Ersparnis an Holz und Arbeitskräften, die das zumindest für die ersten 21 Meter bedeutete; alles andere würde sich ergeben.

    Im Jahr 1420 beschlossen die Dombauverwalter, Brunelleschi zum proveditore, zum ersten Baumeister des Kuppelprojekts, zu ernennen. Doch die Sache hatte einen Haken: Die geschäftstüchtigen Kaufleute und Bankiers hielten Konkurrenz für ein probates Mittel der Qualitätssicherung, und so ernannten sie einen weiteren Kandidaten, den Goldschmied Lorenzo Ghiberti, zum zweiten Baumeister.

    Die beiden Männer waren schon seit 1401 Rivalen, als sich beide um einen anderen prestigeträchtigen Auftrag beworben hatten: die Erneuerung der Bronzetüren des Florentiner Baptisteriums. Damals hatte Ghiberti den Zuschlag bekommen: der berühmteste und politisch am besten vernetzte Künstler der Stadt. Jetzt musste Brunelleschi, dessen Kuppelentwurf den Sieg davongetragen hatte, mit seinem Rivalen Seite an Seite arbeiten. Für Spannung war also gesorgt.

    So begann die Erbauung des cupolone (der großen Kuppel) unter stürmischen Vorzeichen. In den folgenden 16 Jahren bestimmte das monumentale Projekt sogar den Alltag der Florentiner Ereignisse wurden vorhergesagt und Versprechen sollten eingehalten werden, «bis die Kuppel fertig ist». Die hoch aufragende, runde Wölbung, so bahnbrechend anders als die strengen Formen der Gotik, symbolisierte die Freiheit der Republik Florenz und die Befreiung von den Zwängen des Mittelalters in der aufkommenden Renaissance.

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    DAS ERSTE PROBLEM BEIM KUPPELBAU war technischer Art: Keine der bis dahin bekannten Hebevorrichtungen konnte das tonnenschwere Baumaterial, darunter Sandsteinstürze, in eine solche Höhe heben und in Position bringen. Brunelleschi wuchs nun über sich hinaus. Er erfand einen Dreigang Lastenaufzug mit einem komplizierten System aus Zahnrädern, Seil winden, Stellschrauben und Antriebswellen; in Gang gesetzt wurde er von einem Ochsenge spann, das einen hölzernen Schwenkarm im Kreis bewegte. Auch ein Spezialseil von 183 Meter Länge und einer halben Tonne Gewicht kam zum Einsatz — eigens von Schiffbauern in Pisa angefertigt — sowie ein revolutionäres Kupplungssystem, das einen Richtungswechsel ermöglichte, ohne dass die Ochsen umgespannt werden mussten.

    Später konstruierte Brunelleschi noch andere Hebezeuge. Die Aufzüge waren ihrer Zeit so weit voraus, dass sich Vergleichbares erst wieder in der Industriellen Revolution findet. Diese Neuerungen zogen ganze Generationen von Künstlern und Erfindern in ihren Bann, darunter auch einen gewissen Leonardo aus dem nahen Städchen Vinci, der uns in seinen Skizzenbüchern überliefert hat, wie sie funktionierten.

    Nachdem Brunelleschi die nötige Technik ausgetüftelt hatte, wandte er sich ganz der Kuppel zu. Mit erstaunlichen neuen Aussagen. Sein Doppelschalenentwurf ermöglichte ein wesentlich leichteres und höheres Gebilde als eine massive Kuppel. Er durchzog das Mauerwerk mit regelmäßigen Reihen im Fischgrätverband, eine bis dahin kaum bekannte Technik, und verlieh dem Ganzen damit zusätzliche Stabilität.

    Brunelleschi verbrachte immer mehr Zeit auf der Baustelle. Er beaufsichtigte die Herstellung der Ziegel in verschiedenen Abmessungen und prüfte eigenhändig die Qualität von Sandstein und Marmor. Er dirigierte ein Heer von Maurern und Steinmetzen, Zimmerleuten, Schmieden, Bleigießern, Böttchern und Wasserträgern. Verstanden sie ein kniffliges Konstruktionsdetail nicht, dann formte er ein Modell aus Wachs oder Ton oder schnitzte eine Rübe zurecht, um zu zeigen, worauf es ihm ankam. Auch auf das Wohl seiner Leute war er bedacht um ihrer Sicherheit wifien, aber auch, um den Kuppelbau möglichst schnell voranzutreiben. So ordnete er an, ihren Wein mit Wasser zu verdünnen, damit sie einen klaren Kopf behielten (auf Druck ver ärgerter Arbeiter wurde diese Anordnung wieder rückgängig gemacht), und ließ an den Hängegerüsten Brüstungen anbringen, damit sie nicht hinunterfielen.

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    SEINE WIDERSACHER ABER machten ihm das Leben schwer, allen voran Lorenzo Ghiberti. Zwar war Brunelleschi von Anfang an der inhaltliche und operative Leiter des Projekts, doch beide erhielten das gleiche Jahresgehalt von 36 Florinen. Die Biografen erzählen eine amüsante Geschichte, wie es ihm schließlich gelang, Ghiberti auszuschalten.

    Im Sommer 1423, kurz bevor der hölzerne Ringanker um die Kuppel gezogen werden sollte, legte sich Brunelleschi eines Tages ins Bett und klagte über starke Seitenschmerzen. Als die verdutzten Zimmerleute und Maurer bei ihm nachfragten, wie sie die enormen Kastanienholzbalken einsetzen sollten, delegierte er die Aufgabe an den guten Ghiberti. Kaum hatte der einige der Balken verbauen lassen, kehrte Brunelleschi, auf wundersame Weise genesen, auf die Baustelle zurück und erklärte Ghibertis Arbeit laut klagend für so mangelhaft, dass die Balken herausgerissen und ersetzt werden mussten. Sein Gehalt stieg bald darauf auf 100 Florinen jährlich, während das von Ghiberti bei 36 Florinen blieb.

    Doch Ghiberti gab nicht auf. Um 1426 sandte sein Assistent, der Architekt Giovanni da Prato, den Dombauverwaltern ein großes Pergament, in dem er, detailliert und mit Illustrationen belegt, Kritik an Brunelleschis Arbeit übte. Dieser sei aus «Unwissenheit und Dünkel» von den Originalbauplänen für die Kuppel abgewichen, die deshalb «verunstaltet und der Gefahr des Einsturzes ausgesetzt» sei.

    Da Prato verfasste auch eine heftige Attacke in Form eines Sonetts. Darin bezeichnete er Brunelleschi als eine «tiefe, dunkle Quelle der Unwissenheit» und als «jämmerliche Kreatur und Schwachsinnigen», dessen Pläne zum Scheitern verurteilt seien. Sollten sie je von Erfolg gekrönt sein, versprach er ein wenig unbedacht, würde er sich umbringen. Brunelleschi antwortete mit einem nicht weniger bissigen Sonett, in dem er Da Prato riet, seine Gedichte lieber zu vernichten, «weil sie sonst gar zu lächerlich klingen, wenn wir zu tanzen anfangen, um das zu feiern, was er jetzt für unmöglich hält».

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    Brunelleschi und seine Arbeiter sollten Gelegenheit zu ihrem Freudentanz bekommen, wenn auch erst nach weiteren Jahren voller Zweifel und Mühen. 1429 taten sich neben der Kuppel an der Ostseite des Langhauses Risse auf – Brunelleschi ordnete an, die Mauern mit eisernen Zugankern zu verstärken. 1434 wurde Brunelleschi, möglicherweise auf Ghibertis Betreiben hin, festgenommen, weil er seine Mitgliedsbeiträge zur Maurerzunft nicht entrichtet hatte. Doch kurz darauf kam er wieder frei, und die Kuppel wuchs weiter, jeden Monat um weitere 30 Zentimeter gen Himmel.

    Am 25. März 1436, zum Fest Mariä Verkündigung, weihte Papst Eugen IV. den vollendeten Dom zum Klang der Glocken und den Jubelrufen der stolzen Florentiner. Ein Jahrzehnt später wurde der Grundstein für die Laterne gelegt, den dekorativen Marmoraufbau, mit dem Brunelleschi sein Meisterwerk krönte.

    Kurz darauf, am 15. April 1446, starb Brunelleschi, offenbar nach kurzer Krankheit. Bei der Beisetzung lag er, in weißes Leinen gehüllt, auf einer von Kerzen umringten Bahre und starrte mit leeren Augen hinauf in die Kuppel, die er Stein auf Stein gebaut hatte. Bestattet wurde er in der Krypta des Doms, eine Gedenktafel erinnert an seinen „göttlichen Schöpfergeist“. Dies waren hohe Ehren. Architekten galten damals noch eher als Handwerker, und vor Brunelleschi wurde nur sehr selten jemand in der Krypta bestattet, darunter ein Heiliger. Mit seiner Genialität, seinen Führungsqualitäten und seiner Entschlossenheit hatte sich Filippo Brunelleschi in den Rang eines Kunstschaffenden aufgeschwungen, dem ewige Huldigung gebührte – ein Verständnis, das für die Renaissance prägend werden sollte.

    Im komplexen Zusammenwirken von Inspiration und Analyse, durch die kühne Adaption der klassischen Vergangenheit an die Bedürfnisse und Bestrebungen seiner Zeit wies Brunelleschi den kulturellen und sozialen Umwälzungen der neuen Epoche den Weg.

    Als nach der Fertigstellung Künstler wie Donatello, Paolo Uccello und Luca Della Robbia die Kirche ausgestalteten, wurde Santa Maria del Fiore zu einem Herzstück der Renaissance. Noch heute erhebt sich Brunelleschis Kuppel über das Terrakottameer der Dächer von Florenz, perfekt proportioniert, wie eine griechische Göttin im selbstgewebten Kleid.

    Gewaltig ist sie und doch seltsam schwebend, als würden die zu ihrer Spitze aufsteigenden weißen Marmorrippen sie an die Erde binden wie die Seile eines Zeppelins. Irgendwie war es Brunelleschi gelungen, Freiheit in Stein zu fassen und die Silhouette von Florenz für immer mit der aufwärtsstrebenden Verkörperung des menschlichen Geistes zu überhöhen.

    Tipps für einen Spaziergang durch Florenz finden Sie hier.

    (NG, Heft 02 / 2014, Seite(n) 92 bis 106)

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