1 Einleitung

Die Frage nach der sozialen Kompetenz wird in den theoretischen und empirischen Auseinandersetzungen zu Kindern und Kindheit seit mehr als drei Jahrzenten sehr prominent diskutiert und ist mittlerweile in tragfähige Forschungskonzeptionen umgesetzt worden (Moran-Ellis 2013, S. 306; Moran-Ellis und Tisdall 2019, S. 212). Interdisziplinäre Forschungszugänge haben neue Wege des Verstehens und Theoretisierens von Kindheit ermöglicht und somit zur Veränderung der vorherrschenden sozialisatorisch und entwicklungspsychologisch konnotierten Paradigmen der Wahrnehmungen und Deutungen von Kindern als abhängige und passive Personen beigetragen (Canosa und Graham 2020, S. 26 f.). Wenn Kinder als eigenständige soziale AkteureFootnote 1 verstanden werden, sind auch immer Fragen nach dem Zusammenhang von kindlicher Handlungsfähigkeit, Handlungsmacht und Handlungsvermögen zu stellen (Moran-Ellis und Tisdall 2019, S. 213). Mit diesen Verhältnisbestimmungen gehen Überlegungen über die gesellschaftlichen, sozial-ökologischen und kulturellen Bedingungen einher, in denen Kinder leben und handeln können (ebd.). Gleichzeitig plädieren Moran-Ellis und Tisdall (2019, S. 212) dafür, dass mit dem Agency-Konzept sorgfältig umgegangen werden soll und muss, da Handlungsfähigkeit eng gekoppelt ist an intergenerationale Ordnungen, Machtbeziehungen und strukturelle Bedingungen, in denen kindliches Handeln stattfinden kann (s. a. Moran-Ellis 2013, S. 319). Nachfolgend wird den Fragen nachgegangen, wie sich das Agency-Konzept in der Kindheitsforschung herausgebildet hat, wie es aktuell in ihren unterschiedlichen disziplinären Ausrichtungen diskutiert wird und welche zentralen theoretischen Fragen einer weiteren Klärung bedürfen.

2 Empirische und theoretische Befunde zum Agency-Konzept in der Kindheitsforschung

Angestoßen wurden die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die Handlungskompetenzen von Kindern im internationalen Kontext schon mit den Kinderrechtsbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Braches-Chyrek 2020, S. 445; Weyers i. d. B.).

„Die gesellschaftliche Bedeutung der Subjektivität von Kindern und deren Implikationen für Analysen und Theoriebildung sozialer Phänomene, die sich als direkt relevant für Kinder und Kindheit oder als vermittelt mit Kinderleben und kindlichen Lebenswelten erweisen“,

sind Gegenstand der Forschungen, die sich durch eine „Sensibilität für Kinder als soziale Akteure auszeichnen“ (Moran-Ellis 2013, S. 304). Durch die Arbeiten von James und Prout (1990, S. 8) sowie Hutchby und Moran-Ellis (1998) wurde das Agency-Konzept in den 1990er Jahren theoretisch als:

„the social competencies which children manifest in the course of their everyday lives as children, with other children and with adults, in peer groups and in families, as well as the manifold other arenas of social action“ (Moran-Ellis 1998, S. 9)

gerahmt. Diese Überlegungen verweisen darauf, dass Kinder als soziale Akteure an der Gestaltung ihrer eigenen Welt und der Welten anderer beteiligt sind (James und Prout 1990, S. 8). Angelehnt an die Überlegungen von Giddens (1984) wird Agency als Fähigkeit von Individuen definiert, sich für eine Handlungsweise zu entscheiden, einen bestehenden Zustand, materielle Ressourcen oder den Verlauf von Ereignissen in sozialen Settings oder formalen sozialen Ordnungen durch zweckgerichtetes und effektives Handeln verändern wie auch reflektieren zu können (ebd., S. 14). Durch zahlreiche empirische StudienFootnote 2 konnten diese dualistischenFootnote 3 Annahmen von kontingenten und situierten Interaktionen in gegebenen sozialen Strukturen und Beziehungen relativiert werden. Kindliches Handlungsvermögen wird nunmehr nicht mehr nur als ein Attribut des Kindes konzeptualisiert, sondern die konkreten Ausformungen der Handlungskompetenz von Kindern untersucht, um relationale, kontextuelle und zeitliche Einflussfaktoren mitberücksichtigen zu können (Moran-Ellis und Tisdall 2019, S. 213). Wenn Agency nicht mehr nur als praktische kindliche Fähigkeit betrachtet wird, wird es möglich – auch auf methodologischer Ebene – die Beteiligung aller Erwachsenen und/oder Kinder an Forschung und Praxis in einer glaubwürdigeren, legitimeren und ethisch anspruchsvolleren Weise zu berücksichtigen (ebd., S. 219). So kann ausgelotet werden, in welcher Weise forschungsimmanente Strukturen, Prozesse, Analysen und Theoriebildungen die Akteurschaft von Kindern als relationales, kontextuell und zeitlich ausgedrücktes Phänomen einordnen (ebd., S. 319).

In den letzten Jahren haben sich im Zusammenhang mit dem Agency-Konzept kritische Sichtweisen hinsichtlich des Einflusses von bestimmten kulturellen Vorstellungen und Traditionen – insbesondere in Bezug auf eurozentristische Einflussnahmen (vgl. Betz und Eßer 2016) – herausbilden können. Die globalen Diskurse über Kinderrechte und die Vorstellung, dass Kinder eigenständige soziale Akteure seien, sowie die „Betonung von Handeln und Handlungsmöglichkeiten jenseits der Determination durch soziale Systeme“ (Moran-Ellis 2013, S. 310) weisen bisher nur eine „begrenzte Verbreitung“Footnote 4 auf und fungieren nicht als „primäres epistemisches Anliegen“ (Canosa und Graham 2020, S. 33), bspw. hinsichtlich notwendiger Veränderungen von Forschungs- und Praxiszugängen.

In der deutschsprachigen Diskussion ist das Agency-Konzept in unterschiedlicher Weise aufgenommen worden, einerseits als „naturalisierendes und essentialisiertes Verständnis“ und andererseits als relationaler Ansatz, um „Effekte von Institutionen und Beziehungen“, „die Bedeutung von Anerkennung und Adressierung“ sowie „Machtstrukturen und Ordnungsmuster“ (Baader 2018, S. 26), welche die Akteurschaft von Kindern rahmen können, in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig werden theoretische Ansätze kindlicher Agency diskutiert, die das Thema Materialität und nicht-menschliche Akteure im Kontext der Auseinandersetzungen um Handlungsfähigkeit und Handlungsmächtigkeit von Kindern berücksichtigen oder auch ungleichheitstheoretische Perspektivierungen für relevant halten (vgl. ebd., S. 25). Es zeigt sich, dass sich neuere Entwicklungen in der Kindheitsforschung von Giddens’ Ansatz des Handelns entfernen. Durch die Annahme, dass Agency relational zu begreifen sei, als soziale (Esser 2016) oder kollektive Leistung (Oswell 2013), wie etwa innerhalb sozialer Netzwerke oder auch in Zusammenschlüssen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren (Oswell 2016) oder Menschen, Dingen und Prozessen (Raithelhuber 2016), wird die Unterscheidung zwischen Struktur und Handeln notwendig (Larkins 2019). Bisher identifizierte Kernverständnisse individueller Handlungsfähigkeit von Kindern werden zunehmend überdacht, da liberale, rationale und bewusste (Esser 2016) oder essenzielle (Raithelhuber 2016) kindliche Handlungskompetenzen, bspw. in institutionellen Settings, in nicht ausreichender Weise reflektiert wurden. Folglich stellt sich die Frage „in welchem Ausmaß“ es notwendig ist, „anzunehmen, Handelnde müssten fähig sein zu erklären, was sie tun“ (Moran-Ellis 2013, S. 312), oder ob es nicht „andere Weisen“ gibt, kindliche „Absichten und Ziele zu verstehen und aufzuschlüsseln“ (ebd., S. 313). Diese erste Zusammenfassung wichtiger empirischer und theoretischer Befunde zum Agency-Konzept zeigt, dass es äußerst relevant ist, den Begriff „Agency“ zu definieren, um die analytischen Perspektiven kindlicher Handlungskompetenz bestimmen zu können, also bspw. in welchen Kontexten und Situationen Kindern welche Handlungsfähigkeit und Handlungsmächtigkeit zugestanden und in welchen Forschungs- und Praxiskonzepten kindliche Handlungsbefähigung berücksichtigt wird.

3 Agency in der soziologischen Kindheitsforschung

Aus kindheitssoziologischer Perspektive kann man David Oswell (2013, S. 3) zustimmen, wenn er das zwanzigste Jahrhundert zum „age of children’s agency“ erklärt. Denn mit der Etablierung der ‚neuen‘ Kindheitssoziologie in den 1980er und 1990er Jahren charakterisieren – konstituierende aber bald auch kritisch-hinterfragende – Debatten um das zentrale Konzept der Agency die Disziplin (Bühler-Niederberger 2020, S. 194; Betz und Eßer 2016). Mit der Einführung des Begriffs wurde das Ziel verfolgt, das soziale Handeln der Kinder sichtbar zu machen und zu erfassen, ja, es sogar zum Ausgangspunkt empirischer Forschung über Kinder zu machen. In klassischen soziologischen Theorien und dem Mainstream der soziologischen Forschung sei diese Handlungsfähigkeit ausgeblendet worden, da sie sich ohnehin für Kinder, so lautete der allgemeine Vorwurf der neueren Disziplin, wenn überhaupt, dann nur aus einer Sozialisationsperspektive und damit in Bezug auf das zukünftige Handeln der Kinder heraus interessiert hätten (vgl. Hungerland und Kelle 2014). Durch das Fokussieren der Handlungen, Perspektiven und Erfahrungen der Kinder als ‚soziale Akteure‘ im ‚Hier und Jetzt‘ sollte entsprechend auch eine Abkehr von der dominierenden „ideologischen Erwachsenensicht“ (Speier 1976) auf Kinder erreicht werden, die sie als unfertige, defizitäre und vor allem passive Objekte von Sozialisation entwerfe und Kindheit damit auf eine reine Entwicklungs- und Vorbereitungsphase reduziereFootnote 5.

Die immer größer und unübersichtlicher werdende Forschungslandschaft zu vielfältigen Themen und Prozessen der Kindheit verdeutlicht den kometenhaften Aufstieg und den Ertrag der damals postulierten Perspektive – nicht nur in der Kindheitssoziologie, sondern auch darüber hinaus, im interdisziplinären und internationalen Feld der Childhood Studies. Diese Entwicklung spiegelt sich in der empirischen Erschließung vieler neuer Forschungsfelder und vielfältiger gesellschaftlicher Bereiche wider, beispielsweise in der Erforschung von Kindheiten in unterschiedlichen Kontexten des Globalen Südens (für einen Überblick Bühler-Niederberger 2020), des kindlichen Wohlbefindens (Fegter und Fattore i. d. B.)Footnote 6, insgesamt in der Sozialberichterstattung über Kinder (Betz und Eßer 2016) oder auch in der Erforschung ungleicher Bildungschancen (bspw. Bühler-Niederberger et al. 2019). Auch in der Forschung zu Interaktionen in Familie, Schule und Peers sowie weiteren Sozialisationsinstanzen werden Kinder mit dem Aufkommen der ‚neuen Kindheitssoziologie‘ stärker als Akteure konzipiert – sie erscheinen nun nicht mehr einseitig als Besitzende und Produkt akkumulierten Kapitals der Erwachsenen, sondern als aktive Instanzen, die solche Inputs unterschiedlich aneignen und einsetzen können (ex. Alldred et al. 2002; Alt et al. 2005). Ein Großteil dieser Forschung hat aber auch die engen Grenzen der Handlungsmöglichkeiten von Kindern sichtbar werden lassen. Damit ist ein konzeptuelles Problem von Agency als kindheitssoziologisches Konzept angesprochen.

Das Konzept sei kaum theoretisch nuanciert und eher durch die ständige Bekennung der Forschenden zu ihm gekennzeichnet als durch seinen analytischen Gehalt – so lautet die zum Teil harsch ausfallende Kritik: Es sei ein „Mantra“ (Tisdall und Punch 2012, S. 251) oder „Dogma“ der Kindheitsforschung (Esser et al. 2016, S. 2); andere bezeichnen es gar als nahezu nutzlos (Lancy 2012) oder konzeptuelle Falle (Spyrou 2018). Moran-Ellis (2021) spricht in diesem Zusammenhang auf der Grundlage einer Literaturrecherche zu zwei einschlägigen englischsprachigen Journals der Kindheitssoziologie (Childhood und Children and Society) von einem „blackboxing“ (ebd., S. 12) von Agency. Beim Durchsuchen dieser Publikationsorgane für den Zeitraum von 2000 bis 2018 tauchte der Begriff zwar in mehreren hundert Artikeln auf, vorrangig aber nicht als Stichwort, im Abstract oder gar im Titel; viel häufiger wurde er quasi-selbstverständlich von den publizierten Studien aufgegriffen, ohne konkretisierende, hinterfragende Annahmen darüber, was denn nun Agency in welchem Kontext bedeute, erleichtere oder erschwere.

Eine ähnliche theoretische Vagheit konstatieren Moran-Ellis und Tisdall (2019) auch für den Begriff der sozialen Kompetenz von Kindern, der in den Childhood Studies vor allem im Kontext der Debatten um Partizipation Anwendung findet und zum Teil auch synonym mit sozialer Akteurschaft gesetzt wirdFootnote 7. Diese Unschärfe – oder besser: unscharfe Verwendung – des Agency-Konzepts ist auf theoretischer und methodologischer Ebene mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten verbunden. Bühler-Niederberger (2020) etwa kritisiert, dass das Konzept schon seit seiner Einführung theoretische Mängel aufwies, da es nicht sozialtheoretisch verortet wurde. Das heißt, eine „explizite und einheitliche Vorstellung von Handeln“ (ebd., S. 196 ff.) fehle bis heute, obwohl theoretische Überlegungen zu einem wie in der Einleitung dieses Beitrags beschriebenen an Giddens‘ orientierten Handlungskonzept bereits Teil der Pionierarbeiten von Jammes und Prout (1990) waren. Handeln sei hier nicht nur in Bezug auf ein „making“ (Bühler-Niederberger 2020, S. 197.), also ein Hervorbringen und Reproduzieren von Strukturen, sondern auch auf ein „breaking“ (ebd.), also eine gewisse Durchsetzungskraft gegen Strukturen der Kindheit zu verstehen, an dem sowohl Kinder als auch Erwachsene beteiligt seien. Diese noch sehr allgemeinen Vorstellungen über kindliche Handlungsfähigkeit und Handlungsmächtigkeit seien von den Kindheitsforscher:innen zunächst kaum aufgegriffen worden. Im Gegenteil – das ist eine weitere zentrale Kritik an der kindheitssoziologischen Forschung – sei die Bedeutung von gesellschaftlichen Strukturen für die Akteurschaft der Kinder kaum ausgearbeitet worden, da es ja darum ging mehr oder weniger bedingungslos zu betonen, dass (neben Erwachsenen) auch Kinder über soziale Handlungsfähigkeit verfügen (Bollig 2021). Zugespitzt könnte man formulieren, dass die Handlungswirksamkeit von Kindern damit jenseits der gesellschaftlichen Zusammenhänge von Kindheit betrachtet wurde, in die sie eingebunden ist (Bühler-Niederberger 2020; Moran-Ellis 2021; Betz und Eßer 2016). Aus soziologischer Perspektive muss damit auch moniert werden, dass die Kindheitsforschung mit der schwachen sozialtheoretischen Verankerung des Konzepts kaum an den Mainstream soziologischer Fragestellungen anknüpfen konnte. Die Aussöhnung mit der Sozialisationsperspektive – und damit der Anschluss an eine der zentralen Fragen der Soziologie – steht z. B. nach wie vor aus (hierzu Moran-Ellis 2010).

Die mangelnde Berücksichtigung lokaler und intergenerationaler Strukturen birgt weitere Fallstricke für die Anwendung von Agency als Handlungskonzept in der Kindheitsforschung. Die globale Verbreitung des Konzepts erfolgte auf Grundlage universeller Vorstellungen kindlicher Handlungsmacht, die auf Autonomie und Selbstbestimmung von Kindern rekurrieren – und sind damit auch als Ausdruck ‚westlich‘-zentrierter Vorstellungen,guter Kindheit‘ zu lesen. Will man sie unverändert auf Kontexte nicht-‚westlicher‘ Kindheit übertragen, ist das nicht nur forschungspragmatisch ein Problem, sondern auch in Bezug auf eine zu euphemistische Bewertung einer potenziell strukturbrechenden Akteurschaft, zum Beispiel als individuelle Resilienz gegen benachteiligende Strukturen, kritisch zu bewerten (Abebe 2019, S. 12). Stattdessen gälte es, die kontextspezifisch divergierenden avisierten und unvorhergesehenen, mittelbaren und unmittelbaren Effekte kindlichen Handelns ebenso in den Blick zu nehmen (ebd.). Des Weiteren wird eine komplexere, offenere Perspektive auf Agency eingefordert, um das soziale Handeln der Kinder in solchen Bereichen zugänglich zu machen, in denen sie für Erwachsene nicht aktiv erscheinen. Maksudyan (2022) bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die politische Akteurschaft von Kindern als ‚docile‘ agency:

„The agency aspect goes beyond the liberal definition, which presumes a capacity to bring progressive change. […] I stress that the possibility of resistance is located within the structure of power itself, […] and that agency mostly constitutes the capacity to endure and suffer“ (ebd., S. 5).

Eine solch offene Perspektive auf kindliche Agency, die dennoch struktursensitiv bleibt, ist vor allem auch eine methodologische Forderung, die bisher noch nicht befriedigend umgesetzt werden konnte, wie etwa die Debatten um ‚participatory research‘ zeigen (ex. Gallacher und Gallagher 2008, S. 503).

Es gibt weitere Versuche, das Akteurskonzept theoretisch zu schärfen. Zum Beispiel wurde Agency in seine vielfältigen Dimensionen im Hinblick auf das making und breaking von Strukturen – also seine strukturierten, strukturreproduzierenden und -modifizierenden Anteile – ausdifferenziert. Auf Basis empirischer Beobachtungen – gerade auch in Ländern des Globalen Südens, die eine Berücksichtigung weiterer Formen von Agency notwendig machten – unterscheiden die Forschenden beispielsweise den Handlungsradius, den die Kinder in variierenden strukturellen Settings und Konstellationen erreichen können: Klocker (2007) z. B. differenziert zwischen ‚thick‘ und ‚thin‘ agency. Thick agency meint einen Handlungsspielraum, der über die Umsetzung gegenwärtiger Wünsche hinaus reicht und womit also auch biographische Wünsche umgesetzt werden können (z. B. was die Wahl der Schule oder der Partner:innen betrifft), während thin agency sich nur auf begrenzte Möglichkeiten bezieht, individuelle Ansprüche im Alltag geltend zu machen. In ähnlicher Weise unterscheidet Mayall (2002) zwischen ‚actor‘, der persönliche Wünsche umsetzen kann, und ‚agent‘, dem dies noch stärker in Bezug auf andere und entgegen kontextueller Bedingungen gelingt. Moran-Ellis (2021) sieht es als notwendig an, die Analyse kindlicher Akteurschaft stets um deren „scope and scale“ (ebd., S. 14) zu ergänzen. Das bedeutet, dass strukturelle, institutionelle und relational ausgehandelte Spielräume, Zugänge zu Ressourcen, Limitierungen, aber auch die Reichweite, die Kinder mit ihrem Handeln im jeweiligen Kontext erreichen können, in Rechnung zu stellen sind. Bühler-Niederberger (2020, S. 230) und auch Betz und Eßer (2016, S. 310) plädieren für eine Verknüpfung mit dem Konzept der ‚generationalen Ordnung‘ (Alanen 2005). Die mit diesem weiteren zentralen Begriff der Kindheitsforschung angesprochene permanente gesellschaftliche Definition von komplementären Positionen, Ressourcen, Rechten und Pflichten für Kinder einerseits und Erwachsene andererseits lassen die Bedeutung des Handelns der Kinder innerhalb dieser Verhältnisse greifbar werden. Mit Begriffen wie „kompetenter Gefügigkeit“ (Bühler-Niederberger 2020, S. 216) oder auch „Komplizenschaft“ (ebd.) wird die Akteurschaft der Kinder als (Selbst-)Positionierung, Sich-Arrangieren aber auch als stets geforderte Mitarbeit an solchen generationalen Ordnungen adressiert, die wiederum eng mit gesellschaftlichen Schichtordnungen verbunden sind (ebd., S. 247). Selbstpositionierungen nehmen Kinder auch innerhalb gesellschaftlicher Chancenstrukturen vor, beispielsweise indem sie biographische Pläne unter Bezugnahme auf ihre soziale Herkunft ausarbeiten (Jünger 2008; Türkyilmaz 2018); auch das lässt erkennen, dass Kinder ein Bewusstsein für soziale Hierarchien in Anschlag bringen, wenn sie Handlungen entwerfen und diese umzusetzen versuchen.

Neben diesen empirischen Ausdifferenzierungen und theoretischen Rekonzeptualisierungen von Agency werden Potenziale für die Kindheitsforschung auch in der Annäherung an neuere Sozialtheorien gesucht, etwa an die Praxistheorien (Esser et al. 2016; Bollig 2021). Diese versprechen ein Überwinden binärer Vorstellungen von sozialem Handeln und (übermächtigen) sozialen Strukturen, indem soziale Akteurschaft als menschliche und nicht-menschliche, relationale, komplexe und situativ erzeugte Hervorbringungsleistung in den Blick rückt. Der Wert solcher Zugänge erschließt sich also vor allem in der deutlicheren Relationierung und klareren De-Essentialisierung von Agency; gleichzeitig rücken soziale (Benachteiligungs-)Strukturen von Kindheit erneut in den Hintergrund (kritisch dazu Bühler-Niederberger 2020, S. 199 f.). Auf der anderen Seite stehen Ansätze, die die Relevanz eben dieser betonen: In Orientierung am Critical Realism wird die analytische Unterscheidung zwischen ‚bedingenden, aber nicht bestimmenden‘ Strukturen und Akteurschaft eingefordert, die hier eine Art (praktisches) Bewusstsein respektive Wissen umschließt (Larkins 2019).

Die Schlaglichter, die in diesem Kapitel auf einige der neueren Entwicklungslinien der Kindheitsforschung geworfen wurden, zeigen: Die Annahme, dass Kinder Handlungen entwerfen, mit Bedeutung versehen und auf dieser Basis relevante Handlungsbeiträge zur Gestaltung sozialer Welt leisten, die wiederum zentrale Einsichten in Bedingungen und Prozesse von Kindheit, aber auch in andere Bereiche von Gesellschaft ermöglichen können (James und Prout 1990), scheint nach wie vor konsensual im Feld der Kindheitsforschung. Die Vorstellungen darüber, wie und unter welchen Bedingungen sie dies tun, was sie dabei unterstützt, vor allem aber auch was sie dabei in welcher Weise limitiert, und wie Forschende diese unterschiedlichen Anteile des Handelns der Kinder bestmöglich einfangen können, sind jedoch keineswegs unumstritten.

4 Agency in der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung

In erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen sind die konzeptionellen Vergewisserungen hinsichtlich der Handlungsfähigkeit von Kindern überaus relevant. Insbesondere die Themen der Selbsttätigkeit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung von Kindern oder auch ihre Betrachtung bzw. Einordnung als subjektive Akteure lassen sich in den historischen Forschungsergebnissen zu Bildungs- und Erziehungsprogrammen und den Wirkungen der frühen und kontinuierlichen Einbindung von Kindern in Bildungsinstitutionen bereits im 17. Jahrhundert nachweisen (Luhmann 2002, S. 86; Bernfeld 1973, S. 16). „Kindheit ist regelhaft durch Institutionen bestimmt, sie ist institutionelle, soziale Kindheit“ (Winkler 2019, S. 59). Die Nützlichkeit von kindlicher Handlungsfähigkeit bei der Förderung von Erziehungs- und Bildungsprozessen, ihrer Rechte und Interessen sowie die Art und Weise der Herausbildung von kindlicher Handlungsfähigkeit, Handlungsmacht und Handlungsvermögen sind Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung. Während in kindheitssoziologischen Diskursen durch das Agency-Konzept neue Wege des forschungsbezogenen Verstehens und Theoretisierens von Kindheit ermöglicht wurden, werden in erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen stärker Subjektivierungspraktiken und -formen sowie die gelebten Erfahrungen von Kindern in den weitgehenden institutionalisierten Kontexten, wie bspw. der Kinder- und Jugendhilfe oder Kindertagesbetreuung, in den Blick genommen (Baader 2018, S. 29). Der besondere Zeit- und Raumbezug ist in den pädagogischen Settings überaus relevant, um das Zusammenspiel von gesellschaftlichen und generationalen Ordnungselementen im Hinblick auf die Konstituierung von verschiedenen Formen von sozialer Handlungskompetenz erfassen zu können. Wenn es jedoch um die Thematisierungen von Schutz, Verletzlichkeit oder der Auslotung von Möglichkeiten der kindlichen Beteiligung in pädagogischen Settings geht, wird die Macht, die Erwachsene auf das Handlungsvermögen von Kindern ausüben, nicht hinreichend berücksichtigt (Bluebond-Langner und Korbin 2007; Tisdall 2017). Der Begriff „ambiguous agency“ von Bordonaro und Payne (2012) umschreibt die vielen Situationen und Kontexte, in denen Kindern Handlungsfähigkeit abgesprochen wird, wenn diese als Bedrohung oder Risiko für die soziale und moralische Ordnung angesehen wird oder kindliches Handlungsvermögen anhand eines normativen Standpunkts bewertet wird, der bestimmt, was für Kinder „richtig“ oder „falsch“ ist (Hanson 2016, S. 471). Und auch wenn das Handeln von Kindern gegen normative Vorstellungen oder gegen die formale pädagogische Ordnung verstößt, werden Kinder nicht als kompetent angesehen, sondern eher als unangepasst, unvorsichtig und schutzbedürftig. Ein Beispiel für diese doch eher von Erwachsenen hergestellte Performanz sozialer Ordnungen in pädagogisch ausgeformten Settings sind die Hilfekontexte in der Sozialen Arbeit. Kinder und Familien können vom Staat verpflichtet werden, Beziehungen zu Sozialarbeiter:innen einzugehen oder in institutionellen Settings zu leben. Gleichzeitig entwickeln Kinder gerade in solchen Situationen taktische Handlungsfähigkeit, die mit den Begriffen ‚taktisches Bewusstsein‘ und ‚taktische Handlungen‘ umschrieben werden können und sichtbar werden lassen, dass sich Kinder in auferlegten Strukturen und Grenzen zurechtfinden und Gelegenheiten ergreifen, um Grenzen zu verhandeln und institutionelle Kontrolle zu vermeiden (Morrison et al. 2019, S. 110).

Die Tendenz von Fachkräften, das kindliche Einfügen, die Anpassung an und Übereinstimmung mit den Ansichten von Erwachsenen oder den Konsens zwischen Kindern und Erwachsenen als Indikator für sozial kompetentes Handeln von Kindern anzusehen, zeigt, wie stark intergenerationale Machtverhältnisse wirken. Nur eine detaillierte und spezifische Infragestellung der Annahmen, die den ausgrenzenden Mechanismen der institutionellen Settings und der formalen pädagogischen Ordnungen zugrunde liegen, kann es ermöglichen, Fragen der sozialen Ordnung, der Machtverhältnisse, der sozialen Strukturen und der materiellen Bedingungen sichtbar zu machen, was für die Verbesserung des kindlichen Handlungsvermögens von großer Bedeutung wäre. Dies zeigen die Ergebnisse von Amadasi und Baraldi (2022, S. 574) über die Rückgewinnung der Eigenverantwortung von Kindern während der Corona-Pandemie im öffentlichen Raum der Schule. Und nicht zuletzt warnen Tisdall und Punch (2012) davor, dass Handlungsfähigkeit von Kindern „als selbstverständlich vorausgesetzt, unbewiesen oder als von Natur aus positiv angenommen wird“ (ebd., S. 256). Sie schlagen vor, dass Kinder die Möglichkeit haben sollten, sich auch gegen aktives Handeln entscheiden zu können sowie subversiv und widerständig zu handeln.

Diese Beispiele offenbaren die ambivalenten Dimensionen des Agency-Konzepts und erinnern an die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um Kinderrechte, Partizipation und Kinderschutz (z. B. Collins 2017; Marshall 1997). Von Interesse ist nach wie vor, wie kindliche Handlungsfähigkeit, Handlungsmacht und Handlungsvermögen in der Forschung aufgenommen und eingeordnet werden, bspw. ob kindliche Akteurschaft als etwas angesehen wird, das unterdrückt oder überwunden werden muss, oder ob kindliche Handlungskompetenz respektiert und gefördert wird. Denn Handlungsfähigkeit ist nicht einfach nur ein Verhalten oder das Vertreten von Ansichten, Handlungsfähigkeit hat einen Zweck – sie bewirkt Veränderung.

5 Ausblick

Bei der Weiterentwicklung einer kohärenten Agenda für die Kindheitsforschung können durch die hier vorgestellten Forschungsergebnisse und theoretischen Reflexionen zum Agency-Konzept einige wichtige Potenziale benannt werden. Ein zentrales Anliegen des Verständnisses von Handlungsfähigkeit in der Kindheit ist die Reflexion der dichotomen Kontrastierungen (Handeln/Struktur, Natur/Kultur, Sein/Werden, global/lokal, Kindheit/Kindheiten), die das Feld der Kindheitsforschung lange Zeit durchdrungen haben und je nach disziplinärer Ausrichtung unterschiedliche Wirksamkeit entfalten konnten (Prout 2011). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass historische Betrachtungen der pädagogischen Konstitutionen von kindlicher ‚Selbsttätigkeit‘ und ‚Selbstaktivität‘ oder auch der ,Selbstregulation‘ oftmals unberücksichtigt blieben (Baader 2018, S. 34). Zwar sind die Diskussionen um Mitsprache, Partizipation und Selbstartikulation mittlerweile in der Kindheitsforschung sehr prominent, jedoch werden die Strukturen und spezifischen Umstände und Kontexte, in denen Kinder handeln und/oder Einfluss ausüben oder ausüben könnten, oftmals noch nicht in ausreichender Weise erfasst. Unser Systematisierungsversuch aktueller Zugänge, die die Relevanz des kindlichen Handelns in unterschiedlichen strukturellen Kontexten empirisch erschließen, illustriert, dass Kinder verschiedene Formen von Akteurschaft zeigen, die aber stets Bezüge zu ihrer Position in generationalen und gesellschaftlichen Ordnungsgefügen aufweisen und entsprechend konsequent mit diesen Strukturen in Bezug zu setzen sind (kritisch dazu Bühler-Niederberger 2020, S. 254 ff.; vgl. auch Diederichs und Buck i. d. B.). Fragen nach Kindheit in ihren sozialen Zusammenhängen, den damit verbundenen (Macht-)Interessen, Benachteiligungs- und Begünstigungsprozessen bleiben so relevant – gerade um Kinder als soziale Akteure ernst zu nehmen.

Der Überblick über die Rezeption des Agency-Konzepts hat Parallelen zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einigen weiteren zentralen Begriffen der Kindheitsforschung aufgezeigt: Die Begriffe „competence“ (Moran-Ellis und Tisdall 2019), „child well-being“ (Betz 2018) und „ontology“ (Alanen 2017) werden in der Forschungspraxis ebenfalls häufig ohne theoretische Konturierung verwendet. Im Kontext historisch, global und lokal variierender Kindheitsvorstellungen und -bedingungen birgt das forschungspraktische Problematiken. Die Diskurse zu ‚westlichen‘ Sichtweisen auf Agency verdeutlichen die verschiedenen Überzeugungen und Traditionen, mit der hegemoniale Ideologien, die es eigentlich aufzudecken und zu reflektieren gälte, reproduziert werden. Wenn jedoch – und dies hoffen wir durch diese Überlegungen anzuregen – unterschiedliche disziplinäre Diskurslinien zusammengedacht werden, ist es nicht nur möglich historisch-systematisch begriffliche Präzisierungen, empirische Ausdifferenzierung von Forschungszugängen, sondern auch Anknüpfungspunkte für die Verbindung zentraler theoretischer Überlegungen hinsichtlich der Vielfalt und Heterogenität der Ansätze und Praxen kindlicher Akteurschaft zu ermöglichen. Solche theoretischen Syntheseleistungen könnten beispielsweise zwischen den auf unmittelbare Handlungen und Interaktionen ausgerichteten Konzeptualisierungen sozialer Akteurschaft und den stärker an längerfristigen Prozessen und strukturellen Bezügen des Handelns orientierten Zugängen erreicht werden, wie sie von einigen Kindheitsforscher:innen bereits empirisch erprobt werden (ex. Larkins 2019).