Buchkritik

Ferdinand von Schirach – Regen. Eine Liebeserklärung

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AUTOR/IN
Holger Heimann

Ferdinand von Schirach erzählt von einem Mann in einer tiefen Lebenskrise. Dabei werden einmal mehr die Lebensthemen dieses Autors verhandelt: Schuld, Vergebung, Reue, Strafe. Überzeugend ist das jedoch nicht immer.

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„Verbrechen“, „Schuld“ und „Strafe“ – so heißen die Storybände, mit denen Ferdinand von Schirach berühmt wurde. Den Justizgeschichten folgten autobiografische Erzählungen, die deutlich machten, dass Schirachs Schreiben nicht vornehmlich von der Erfahrung als Strafverteidiger bestimmt wird. Enttäuschung, Verlorenheit, Reue – das sind die ureigenen Lebensthemen dieses Autors. Mit seinem neuen Buch, einer Erzählung, setzt Schirach seine Beschäftigung mit existenziellen Fragen fort. Ein Mann kommt vom Regen durchnässt in eine Bar und hebt an zu einem Monolog über Schuld und Vergebung. 

Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Freunden und selbst unseren Feinden. Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen, das kann nur der Gläubiger tun. Ihre eigene Schuld verjährt nicht. Damit müssen Sie leben. Oder eben auch nicht.

Kommt ein Mann in eine Bar…

Zu wem der Redner spricht, bleibt offen. Möglicherweise ist es ein einzelner Gast. Wahrscheinlicher aber scheint es, dass die Bar als größere Bühne dient für sein lautes Nachdenken. Ausgelöst wird der Monolog dadurch, dass der namenlos bleibende Mann als Schöffe einem Gerichtsverfahren beiwohnt. Der dort geständige Angeklagte hat seine Frau aus Eifersucht umgebracht. Der Fall an sich beschäftigt den Erzähler weniger. Die Konfrontation mit dem Tötungsdelikt setzt vielmehr eigene, peinigende und lange zurückgehaltene Erinnerungen frei.

Seit 17 Jahren bin ich ein durch und durch lächerlicher Schriftsteller, der nicht mehr schreibt. Ich gehe trotzdem jeden Morgen rüber ins Schreibzimmer. Die Menschen wollen ja immer etwas sein, was sie nicht sind. Ich sitze dann am Schreibtisch und trinke Kaffee und rauche und schreibe nichts. Als das bei Hemingway so war, ging er nicht mehr in eine Bar. Er schoss sich den Kopf weg. Das kann ich verstehen, weil der Kopf ja sowieso schon weg ist.

Der Kopf ist so gesehen auch bei dem lächerlichen Schriftsteller weg, der seit 17 Jahren nicht mehr schreibt. Seit dem Tag, als das erste und einzige Buch von ihm erschien, allerdings mit einem vom Drucker entstellten Titel. „Statt Gedichte“ sollte der Lyrikband heißen. Der Drucker aber, der dachte, dass es sich um einen Fehler handeln müsse, machte aus den zwei Worten das Kompositum „Stadtgedichte“. Der ehrgeizige Dichter ist noch am Abend wütend. Die Frau, die er liebt und die ihn liebt, will ihm zur Beruhigung ein Glas Wasser bringen, fällt um und ist tot. Ein Aneurysma im Gehirn. Der verhinderte Schriftsteller scheint sich seither die Schuld am Tod der Geliebten zu geben. Kein Gericht wird ihn verurteilen. Er selbst aber kann sich nicht freisprechen. Es ist eine Konstellation, die Schirach-Lesern vertraut sein dürfte.

Es gibt Schläge, von denen man sich nicht erholt. Man geht zu Boden und steht nicht mehr auf und kann sein Leben nicht mehr zusammensetzen. Wir alle sind befangen, weil wir in uns gefangen sind – und davon gibt es keine Erlösung, durch nichts und durch niemanden.

Gefangen in Trauer und Depression

Ferdinand von Schirach zeigt einen Menschen, der sich beinah nichts mehr erhofft. Er ist gefangen in Trauer und Depression. Leider führt seine ausgeprägte Sinnkrise zu einem prätentiösen Lamento über das moderne Leben und den stillosen Durchschnittsmenschen, das schwer erträglich ist. Die Zivilisationskritik, die hier mit einem fast hysterisch übersteigerten Unterton vorgetragen wird, ist klischeehaft und häufig dicht an Allgemeinplätzen.

Der Sportler, das ist der moderne Mensch. Sie erkennen den modernen Menschen daran, dass er einen Rucksack trägt. Mitten auf dem Kurfürstendamm trägt er seinen Rucksack, so, als wolle er zum Bergsteigen gehen. Dabei ist Berlin vollkommen flach, Bergsteigen in Berlin ist unmöglich. Den modernen Menschen stört das nicht. Im Gegenteil, er hat seinen Rucksack immer dabei. Der sei einfach praktisch und funktionell, sagt er. Ja, praktisch und funktionell sind auch das Selbstbedienungsrestaurant und das Frühstücksbüfett, und dass Sie sich den Botticelli nur noch auf dem Laptop ansehen. Das Praktische und das Funktionelle und das Natürliche führen direkt in die Hölle.

Es geht um alles ein bisschen

„Die Hölle, das sind die anderen“, befand Sartre. Er wird hier nicht herbeizitiert. Dafür aber Hemingway, Proust, Capote, Goethe. Denn es geht in dieser kurzen Erzählung, die der Verlag auf fünfzig Seiten gestreckt hat, auch ein wenig ums Schreiben. Wie es überhaupt um alles ein bisschen geht. Ein Buch wurde daraus erst, weil auf die Story ein etwa gleichlanges Interview folgt, das der Autor der Süddeutschen Zeitung gegeben hat. In dem sehr persönlichen Gespräch klingen manche der Themen, die Schirach in „Regen“ streift, noch einmal an, teilweise finden sich fast wortgleiche Sätze. Der Verlag preist die Publikation als „eine ebenso mutige wie sehr persönliche Erzählung, ein literarisches Spiel an der Grenze zwischen Bühnenfigur und Autor“. Das mag sein. Dennoch vermag dieses Buch so gar nicht zu überzeugen.

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Melancholie durchzieht die kurzen Prosatexte: In „Nachmittage“ setzt der Erfolgsautor Ferdinand von Schirach seine autobiografischen Erkundungen aus „Kaffee und Zigaretten“ fort. Er schreibt über das Reisen und eine verlorene Liebe, über Begegnungen und Kunsterlebnisse in Paris, New York, Pamplona und anderen erlesenen Settings.

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