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Zweiter Weltkrieg Protokolle

Archivfund zeigt, wie Hitler Personalpolitik machte

In Moskau ist das Protokoll eines Gesprächs von Adolf Hitler und seinem höchsten Soldaten Wilhelm Keitel entdeckt worden. Das unscheinbare Bündel Papier hat es in sich. Hitler beschimpft seinen Stab.
Leitender Redakteur Geschichte
Öfter als Wilhelm Keitel traf im Krieg wohl nur NS-Reichsleiter Martin Bormann (l.) mit Hitler zusammen Öfter als Wilhelm Keitel traf im Krieg wohl nur NS-Reichsleiter Martin Bormann (l.) mit Hitler zusammen
Öfter als Wilhelm Keitel traf im Krieg wohl nur NS-Reichsleiter Martin Bormann (l.) mit Hitler zusammen
Quelle: picture-alliance / dpa

In einer Diktatur ist die Nähe zum Diktator alles – Ehrlichkeit aber gilt nichts. Wer es wagt, dem Machthaber zu widersprechen, und sei es betont sachlich und moderat, wird bestenfalls beschimpft, meistens abgesetzt und, wenn er Pech hat, umgebracht. Dauerhaft Erfolg haben in einem solchen Umfeld nur ausgesprochen opportunistische Gemüter.

Ein jetzt erstmals veröffentlichtes Wortprotokoll aus dem September 1942 zeigt, weshalb sich Hitlers höchster Soldat, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel, bis Ende April 1945 auf seinem Posten halten konnte: Seine kriecherische Unterwürfigkeit war kaum mehr zu steigern. Nicht umsonst nannten Generalskollegen hinter seinem Rücken ihn „Lakei-tel“.

Das Protokoll stammt aus einem bislang erst ansatzweise erschlossenen Bestand in Podolsk bei Moskau. Im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums (CAMO) liegen bis heute circa 28.000 Wehrmachtsakten mit rund zwei bis 2,5 Millionen Blatt. Soldaten der Roten Armee beschlagnahmten diese Unterlagen vermutlich auf dem Vormarsch, vor allem aber nach der Niederlage des Dritten Reiches in Deutschland.

Andreas Wirsching u.a. (Hrsg): „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ (de Gruyter Oldenbourg Verlag München. 168 S., 16 Euro)
Andreas Wirsching u.a. (Hrsg): „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ (de Gruyter Oldenbourg Verlag München. 168 S., 16 Euro)
Quelle: IfZ München

Die Existenz des Bestandes ist seit einigen Jahren bekannt, doch genutzt werden konnten davon bisher erst wenige Bände. Gegenwärtig digitalisieren das CAMO, die Russische Historische Gesellschaft und das Deutsche Historische Institut (DHI) in Moskau diesen wohl letzten der Weltkriegsforschung bislang unzugänglichen Bestand schrittweise und stellen ihn online. Das Projekt soll bis 2018 abgeschlossen sein.

Schon jetzt veröffentlichen der Weltkriegsspezialist Johannes Hürter und Matthias Uhl vom DHI Moskau in der neuesten Nummer der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ ein besonderes Dokument in kommentierter Form. Es handelte sich um die Akte 137 des Bestandes 12450, in dem sich Beuteakten des Oberkommandos der Wehrmacht finden. Außer einem russischen Deckblatt besteht dieser Band nur aus 58 Blatt Durchschlagpapier, einseitig beschrieben und mit wenigen handschriftlichen Korrekturen versehen.

Das unscheinbare Bündel Papier hat es aber in sich. Denn es handelt sich um das wörtliche Protokoll der ersten Besprechung zwischen Hitler und Keitel nach dem großen „Klimasturz von Winniza“. So nennt der Militärhistoriker Bernd Wegner den harten Streit, der in der deutschen Führung am 7. und 8. September 1942 ausbrach. Der „Führer“ fühlte sich von seinen wichtigsten Generälen hintergangen, wütete gegen sie und setzte zum Beispiel den Generalstabschef des Heeres Franz Halder umgehend ab.

Eine weitere Reaktion war, dass umgehend Mitarbeiter des seit 1933 chronisch unterbeschäftigten Stenografischen Dienstes des Reichstages ins Führerhauptquartier befohlen wurden, das sich zu dieser Zeit gerade im ukrainischen Winniza in der Bunkeranlage „Werwolf“ befand. Sie mussten fortan jede Lagebesprechung Hitlers Wort für Wort festhalten. Auf diese Weise wollte der Diktator, der längst kein Vertrauen zu den meisten seiner Generäle mehr hatte, jedes Umgehen seiner Anweisungen unmöglich machen.

Den hämischen Spitznamen „Lakei-tel“ hatte sich Wilhelm Keitel durch seine hündische Unterwürfigkeit verdient
Den hämischen Spitznamen „Lakei-tel“ hatte sich Wilhelm Keitel durch seine hündische Unterwürfigkeit verdient
Quelle: picture-alliance / obs

Doch das Problem war nicht die mangelnde Klarheit seiner Befehle. Vielmehr ging es um die Realitätsverweigerung, die Hitler immer öfter erfasste, und um die Widersprüchlichkeit seiner Weisungen. Insgesamt entstanden bis in den April 1945 so etwa 103.000 Blatt Wortprotokolle. Die allermeisten sind in den Wirren des Kriegsendes verloren gegangen; nur etwa 50 Besprechungen konnte gerettet werden und erschienen 1962 in einer mustergültigen Edition des Instituts für Zeitgeschichte, besorgt von Helmut Heiber.

Offenbar wurden aber nicht nur die offiziellen Lagebesprechungen, zweimal am Tag mehrere Stunden, stenografiert, sondern auch andere wichtige Gespräche. Zum Beispiel das erste ausführliche Vier-Augen-Gespräch zwischen Keitel und Hitler seit dem „Klimasturz“, geführt in Winniza am 18. September 1942 von 15.30 bis 16.55 Uhr.

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Die Initiative dazu ging von Keitel aus. Das Gespräch war streng vertraulich – es war nicht einmal im Dienstkalender des OKW-Chefs eingetragen. Bis jetzt wusste man daher nichts von dieser Besprechung; Keitel, der im Oktober 1946 in Nürnberg für seine Rolle im Zweiten Weltkrieg gehenkt worden war, hatte es nie erwähnt. Das Protokoll zeigt jetzt: Er hatte seine Gründe dafür. So unterwürfig wie hier präsentierte sich selbst „Lakei-Tel“ sonst nicht.

Der Generalfeldmarschall eröffnete das Gespräch: „Mein Führer! Ich möchte gern über Personalfragen sprechen, die alle im Zusammenhang stehen mit den Ereignissen der letzten Wochen.“ Dann fiel er seinem engsten Mitarbeiter, dem abwesenden Generaloberst Alfred Jodl, in den Rücken. Der Chef des Wehrmachtsführungsstabes habe sich immer mehr in den Vordergrund gedrängt.

Der Diktator und sein höchster Soldat: Wilhelm Keitel mit Hitler 1938
Der Diktator und sein höchster Soldat: Wilhelm Keitel mit Hitler 1938
Quelle: picture-alliance / akg-images

Wortreich legte Keitel Hitler die Versetzung Jodls aus dem Führerhauptquartier nahe. Der Grund sei dessen mangelnde Loyalität: „Es ist die heiligste Pflicht eines jeden, der Ihr Vertrauen gehabt hat und der bei Ihnen gearbeitet hat, dafür zu sorgen, dass Belastungen dieser Art von Ihnen in jeder Form ferngehalten werden.“

Hitler griff diese Vorlage des kriecherischen Keitel dankbar auf. „Ich muss von den Herren, die mit mir arbeiten, eine hundertprozentige Loyalität voraussetzen“, sagte er: „Wenn diese Loyalität einmal fehlt, dann ist eine Zusammenarbeit nicht denkbar.“ Offenbar verfing Keitels Taktik des Einschmeichelns, denn der Diktator legte jetzt los und beschimpfte andere Generäle.

„Halder kann ja nicht unterscheiden, ob ein Angriff mit 200, mit 100 Mann, mit 6 Bataillonen oder 2 Divisionen gemacht wird“, wütete er zum Beispiel über den bereits abgesetzten Generalstabschef. Über Wilhelm List, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A im Süden der Ostfront, bemerkte er, der habe „schlapp geführt“. Auch Fedor von Bock, Chef der Heeresgruppe B, habe „gänzlich versagt“. Neben Jodl forderte er weitere Absetzungen: „Noch ein Herr muss weg, General Ruoff!“

Gnade vor Hitlers Wut fanden dem Protokoll zufolge nur wenige Generäle. Walter Model zum Beispiel: „Er ist der einzige Mann, der bejahend ist. In der kritischsten Lage ist er immer noch positiv und sieht Möglichkeiten.“ Und Friedrich Paulus, den Befehlshaber der 6. Armee, die gerade um Stalingrad kämpfte. In ihm sah Hitler den perfekten Nachfolger für Halder: „In meinen Augen kommt nur ein einziger Mann dafür infrage, zu dem ich persönlich Vertrauen habe und der seine Erfahrungen vorn gesammelt hat. Das ist General Paulus.“

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Quelle: STUDIO_HH

So begeistert war Hitler, dass er sich zu einer ausführlichen Begründung seiner Sympathie herabließ: „Paulus war von den Spitzenoffizieren eigentlich der erste, der mir überhaupt in der Wehrmacht aufgefallen ist. Das war, als damals diese Transportübung in der Oberpfalz gewesen ist.“ Doch gleichzeitig stand fest: Erst wenn Stalingrad gefallen sei, könne Paulus von der 6. Armee abberufen werden. Dazu kam es nicht mehr: Ausgerechnet Friedrich Paulus wählte statt des nahegelegten Selbstmordes am 31. Januar 1943 im Kessel die Kapitulation.

Die umfangreichen deutschen Aktenbestände im CAMO in Podolsk sind sicher nur zum kleineren Teil historisch derartig weiterführend wie dieses Protokoll. Doch die eine oder andere Überraschung enthalten sie gewiss noch.

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