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Philosophie, Sozialwissenschaften

Die Untersuchung von 1992 resümiert und beschließt eine Tradition der politischen Philosophie, in deren Zentrum die normativen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates stehen. Im Gegensatz zu klassischen Vorläufern, wie etwa John Lockes Zweiter Abhandlung über die Regierung, greift Faktizität und Geltung nicht nur auf philosophische und juristische, sondern auch auf soziologische und politikwissenschaftliche Argumente zurück, um die Rationalität von Recht, Staatlichkeit und Demokratie am Ende des 20. Jh.s zu rekonstruieren.

Das Buch verfolgt zwei Ziele. Erstens möchte Habermas zeigen, woraus sich die Legitimität des modernen Rechts in einem ‚nachmetaphysischen‘ Zeitalter speist, in dem nicht mehr auf unkontroverse religiöse oder sittliche Traditionsbestände zurückgegriffen werden kann. Im Gegensatz zur Theorie des kommunikativen Handelns, die noch vorrangig eine Beobachterperspektive auf das Recht als soziale Tatsache eingenommen hatte, werden nun dessen Ansprüche auf Verbindlichkeit auch aus einer internen Perspektive entfaltet. Zweitens, und komplementär dazu, ist die Leistungsfähigkeit der von Habermas entwickelten Diskurstheorie für das Gebiet der Politik, d. h. für das Treffen kollektiv verbindlicher Entscheidungen, zu erproben. Hatte sich die Idee einer diskursiven Problembearbeitung in früheren Arbeiten in der Theorie der Moral (Erläuterungen zur Diskursethik, 1991), aber auch der Wissenschafts- und der Wahrheitstheorie bewährt, so stand die Antwort auf die Frage noch aus, ob das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses auch in der Ausgestaltung und Rechtfertigung von Herrschaft selbst eine Rolle spielen könne. Das Bindeglied zwischen beiden Themen, und damit zwischen Rechtsphilosophie und politischer Theorie, ist eine normative Vorstellung von Demokratie, in deren Mittelpunkt ‚deliberative‘, d. h. auf dem wechselseitigen Geben und Nehmen von Gründen basierende Verfahren der Rechtsetzung stehen.

Die zentrale Idee des Buches ist, dass sich an einer Theorie rechtlich institutionalisierter Deliberation aufzeigen lässt, dass die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von Grundrechten und Volkssouveränität, nicht nur nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern in ihrer Realisierung aufeinander angewiesen sind. Im Gegensatz zu Autoren wie Carl Schmitt oder Isaiah Berlin, die die Ideale des liberalen Rechtsstaats und der demokratischen Selbstgesetzgebung als unversöhnliche Gegenspieler präsentiert hatten, betont Habermas den inneren Zusammenhang des Schutzes von privater und öffentlicher Autonomie.

Auch wenn Habermas dem positiven Recht nicht nur die Bändigung gesellschaftlicher Komplexität zutraut, sondern auch ein hohes Maß an freiheitsbewahrender, herrschaftsbegrenzender Wirkung, so schreckt er vor der weitergehenden These zurück, das Recht als solches stelle eine moralisch gebotene Form der sozialen Koordination bereit. Damit grenzt er sich ab von Autoren der klassischen Staatsphilosophie wie Locke oder Kant, die eine vernunftrechtliche Verpflichtung zu Recht und Staat zu etablieren suchten. Eine durchgängige moralische Rechtfertigung von rechtsförmig ausgeübter Herrschaft ist in Faktizität und Geltung nicht zu finden. Die ‚Form‘ des Rechts, die zwangsweise Regelung von Sphären äußerlicher Willkür, bleibt etwas bloß gesellschaftlich Vorgefundenes. Dies gilt auch für die abstrakte Idee von Freiheits-, selbst von Menschenrechten: Sie gewinnen Verbindlichkeit nur in Gestalt des positiven Rechts und sind diesem, wie das „Nachwort zur 4. Auflage“ von 1994 betont, nicht etwa als unverfügbare moralische Prinzipien vorgeordnet. Allerdings bedeutet das nicht, dass Grund- oder Menschenrechte ‚innerhalb‘ des Rechts zur Disposition stünden. Wenn sich eine Gemeinschaft entschließt, das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt mit Mitteln des positiven Rechts zu regeln, haftet der Idee von nicht hintergehbaren individuellen Rechten nichts Kontingentes mehr an. Dies zeigt sich, wenn man aus der Perspektive demokratischer Selbstgesetzgebung auf die einzelnen Rechtssubjekte schaut. Damit sie als freie und gleiche Personen an der gemeinsamen Regelung ihres Zusammenlebens mitwirken können, müssen sie zunächst einmal als Träger grundrechtlicher Ansprüche voneinander unterschieden und voreinander in Schutz genommen werden. Die „Gleichursprünglichkeit“ privater und öffentlicher Autonomie zeigt sich darin, dass Personen innerhalb eines „Systems der Rechte“ operieren, das sie gleichzeitig autonom ausgestalten können.

In mehreren Schritten ent-idealisiert Habermas nun die abstrakte Idee deliberativer Rechtsetzung. Zunächst wird der Staat als ein Vehikel eingeführt, der demokratischen Gesetzen zur Not gewaltsam Nachachtung verschafft. In komplexen Gesellschaften erfolgt Selbstgesetzgebung nicht direkt, sondern repräsentativ. Zeitnot und Problemdruck führen dazu, dass deliberative Auseinandersetzungen durch Mehrheitsentscheidungen zumindest temporär unterbrochen werden oder dass Verhandlungen unter fairen Verfahrensbedingungen an ihre Stelle treten. Dennoch sind demokratische Institutionen letztlich danach zu beurteilen, ob sie deliberative Politik wenigstens ermöglichen. Habermas' institutionelle Vorstellung ist die einer ‚zweigleisigen‘ Demokratie, die parlamentarisch-repräsentative und öffentlich-informelle Debatten kombiniert. Im Zentrum des politischen Systems steht das Parlament, dem die anderen staatlichen Gewalten strikt untergeordnet sind. Dort soll in rechtsetzenden Diskursen „kommunikative Macht“ erzeugt werden, die dann die Ausübung „administrativer Macht“ in Regierung, Verwaltung und Justiz autorisieren kann. Das zweite ‚Gleis‘ der Demokratie stellen die Foren einer informellen Öffentlichkeit bereit, in denen gesellschaftliche Problemstellungen wahrgenommen, argumentativ bearbeitet und in die Entscheidungsprozesse des politischen Systems weitergereicht werden können. Eine unmittelbare Einflussnahme der öffentlichen Meinung auf parlamentarische Entscheidungen befürwortet Habermas allerdings nur in krisenhaften Situationen; im Normalfall sollen institutionelle ‚Schleusen‘ wie Parteienkonkurrenz und Wahlen zwischen Zivilgesellschaft und Staatsmacht vermitteln.

Während Faktizität und Geltung als eines der letzten großen Werke der politischen Theorie noch die methodische Unterstellung aufrecht erhält, legitimes politisches Entscheiden finde im Wesentlichen innerhalb des demokratischen Staates statt, hat Habermas sich anschließend den Prozessen der Globalisierung zugewandt und seine politische Theorie auf Fragen des Rechts und der Demokratie jenseits des Staates erweitert (Die postnationale Konstellation, 1998; Der gespaltene Westen, 2004). Zwischen den beiden Optionen eines losen globalen Staatenbundes und eines hierarchischen Weltstaates wählt er einen mittleren Weg: den einer zunehmend verbindlicher werdenden ‚weltbürgerlichen Verfassung‘, die sich aus Staaten und kosmopolitischen Bürgern zusammensetzt. Rückblickend wird deutlich, dass in Faktizität und Geltung von einer internen Beziehung zwischen Recht und Demokratie, nicht aber von einer internen Beziehung beider zum Gewalt monopolisierenden Nationalstaat die Rede gewesen war. Dies erlaubt es Habermas' nachfolgenden Schriften, die Ideen von Demokratie, Recht und Verfassung vom Staat abzulösen. Da allerdings jenseits des Staates Prozesse demokratischer Rechtsetzung bisher nur eine ferne Utopie sind, hängt die Legitimität kosmopolitischen Rechts derzeit noch von seiner Leistungsfähigkeit in Fragen des Friedens- und Menschenrechtsschutzes ab. Die Herausforderung liegt daher heute darin, die These einer Komplementarität von Freiheitsrechten und Demokratie in Kategorien des Weltbürgerrechts neu zu formulieren.