Zwei Jahre Krieg, vier Jahre Stagnation: Die zunehmend unsichere Lage setzt Wirtschaft und Gesellschaft zu. Wenn wir nicht aufpassen, schwinden unsere Selbstbehauptungskräfte immer weiter. Wie kommen wir da wieder raus?
Sätze wie Schwerthiebe: „Ihr wisst, dass ihr große Sünden begangen habt und dass die Großen unter euch diese Sünden begangen haben. Wenn ihr mich fragt, welchen Beweis ich für diese Worte habe, dann sage ich, dass ich die Strafe Gottes bin. Hättet ihr keine großen Sünden begangen, Gott hätte mich nicht als Strafe über euch gebracht.“
1221 soll sie Dschingis Khan den Eroberten seiner Feldzüge entgegengeschleudert haben. Zeitgenössische Darstellungen zeigen einen bärtigen Herrn, der von oben herab Ansagen macht. Er steht auf der Kanzel einer Moschee, leicht vorgebeugt, die rechte Hand drohend gehoben.
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Die Angesprochenen nahmen die defätistische Deutung bereitwillig an, wie der Historiker Timothy May in seiner Geschichte des mongolischen Imperiums darlegt. Hier ritt ein großer Zerstörer mit seinen Truppen heran, die mit ungeheurer Brutalität zu Werke gingen, Staaten und Dynastien vernichteten, Angst und Schrecken verbreiteten. Und die Angegriffenen gaben sich dafür selbst die Schuld.
„Die Mongolen veränderten die Landkarte Eurasiens für immer“, schreibt May. Weiter und weiter stießen sie nach Westen vor, besetzen schließlich Ungarn, schickten Kommandos bis zur Adria vor – bis sie sich kurz darauf völlig überraschend zurückzogen. Die Europäer hatten schlicht Glück.
Der letzte Angriff auf Europa von außen
Gut 800 Jahre später ist die Erinnerung an den „Mongolensturm“ verblichen, aber nicht verschwunden: ein Jahrtausendereignis, für die damals Leidtragenden unerklärlich, wie eine Naturkatastrophe.
Es war, nach meiner Rechnung, das letzte Mal, dass Europa von außen angegriffen wurde. Alle anderen Konflikte auf dem Kontinent kamen aus Europa selbst: aus dem unablässigen Ringen der Staaten und Völker, die auf engem Raum in intensivem Wettbewerb und Austausch standen. Der Dreißigjährige Krieg, Napoleons Feldzüge, Hitler-Deutschlands Vernichtungskriege, auch der Expansionismus des Osmanischen Reiches – letztlich waren dies sämtlich innereuropäische Konflikte.
In diese Kategorie fällt auch der heutige russische Überfall auf die Ukraine. Zugleich geht er aber weit darüber hinaus.
Europa brachte damals keine wirksame gemeinsame Verteidigung zustande
Denn Russland ist auf die Unterstützung Chinas angewiesen. Ohne Pekings Rückhalt und Lieferungen wäre Russland womöglich längst unter der Last des selbst angezettelten Krieges (dessen Beginn sich Samstag zum zweiten Mal jährt) und der westlichen Sanktionen zusammengebrochen. Das heißt: China mischt mit in Europa, wenigstens mittelbar durch seine „unverbrüchliche Freundschaft" zu Russland. Auch deshalb behandelt die Nato Peking seit 2022 explizit als Bedrohung.
Zur Zeit der Mongolen-Feldzüge stießen ihre Reiterverbände auf einen zersplitterten Kontinent. Europa brachte keine wirksame gemeinsame Verteidigung zustande. Dschingis Khan und seine Nachfolger hatten leichtes Spiel. Eine eilig zusammengewürfelte Streitmacht wurde 1241 bei der Schlacht bei Liegnitz in Schlesien vernichtend geschlagen. Einige regionale Herrscher sollen sich sogar vorsorglich ergeben haben, um den Verheerungen zu entgehen.
Sind wir eigentlich dazu verdammt, immer wieder die gleichen Fehler zu machen?
Klar, man darf die Analogie zum mongolischen Expansionismus des 13. Jahrhunderts nicht zu weit treiben. Aber sollten sich die USA tatsächlich aus Europa zurückziehen und ihren Beistand aufkündigen, wie es der mutmaßliche republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump (77) in Aussicht gestellt hat, stünden die Europäer erstmals seit 800 Jahren vor einer äußeren Bedrohung, ohne dass sie sich auf Beistand von außen stützen könnten.
Ob wir diesmal in der Lage sind, ohne Hilfe von außen unser gemeinsames Gewicht auf die Waage zu bringen und unser wirtschaftlich-technisches Potenzial in eine militärische Schlagkraft zu übersetzen, die Aggressoren wirksam abschreckt und eindämmt, ist eine Frage, von deren Antwort unsere Zukunft abhängt. Nicht mehr und nicht weniger. Doch bislang ist die Antwort offen. Instinktiv jedenfalls reagieren wir Europäer auf die Gefahr von außen mit nationalen Reflexen – auch wenn wir eigentlich wissen sollten, dass wir als einzelne europäische Klein- bis Mittelstaaten keine Chance haben gegen die Megamächte des 21. Jahrhunderts. Sind wir eigentlich dazu verdammt, immer wieder die gleichen Fehler zu machen?
Unsicherheiten in erschreckenden Größenordnungen
Wir stecken derzeit in einem Strudel aus Unsicherheit, der die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt erfasst hat und nach unten zieht. Die Stimmung bei Konsumenten und Unternehmen ist mies. (Achten Sie Freitag auf den Ifo-Geschäftsklimaindex und neue Zahlen vom Statistischen Bundesamt). Die Bürger sind unzufrieden – mit der Regierung, der Lage, den Aussichten. Die Wirtschaft stagniert, der allgemeine Unmut ist groß.
In der Summe sind wir mit Unsicherheiten in erschreckenden Größenordnungen konfrontiert. Aktuell zeigt der Indikator (Uncertainty Perception Indicator, UPI), den unser Dortmunder Forschungszentrum DoCMA berechnet, dass die wahrgenommenen Unwägbarkeiten größer sind als 2022. Damals hatte Russland gerade seine Ukraine-Invasion begonnen. Deutschland wurde von einer Gas- und Ölknappheit bedroht, die das Potenzial hatte, Teile der Wirtschaft lahmzulegen. Dass wir derzeit den zweithöchsten UPI-Wert in diesem Jahrtausend messen – nur der Corona-Schock war noch heftiger – liegt daran, dass wir es jetzt mit einer Ballung von Schocks zu tun haben.
Unsere Methode ermöglicht eine Zerlegung der wahrgenommenen Unsicherheit in ihre Quellen. (Details zu Vorgehensweise und Datenbasis finden Sie hier). Dabei zeigt sich, dass Deutschland derzeit mit einer Vielzahl von gravierenden Verwerfungen konfrontiert ist, wie das seit Generationen nicht mehr der Fall war. Es brennt an allen Ecken. Drei Entwicklungen stechen dabei heraus: die erodierende geopolitische Lage, das gesellschaftliche Klima und die Wahrnehmung der Wirtschaft.
Geopolitik: Auf dem Trumpel-Pfad
Dass die internationale Ordnung herausgefordert wird, ist seit langem unübersehbar. Über lange Zeit waren die Auswirkungen jedoch überschaubar. Die entsprechende Zeitreihe zeigt zwei vergleichsweise kleine Maxima im Zuge der Kriege in Afghanistan und im Irak Anfang der 2000er Jahre.
Seit Trumps Wahlsieg im November 2016 hat sich die geopolitische Destabilisierung beschleunigt. Gesäumt ist dieser Weg von Ereignissen, die zuvor schwerlich vorstellbar waren: ein Handelskrieg (ab 2018), die Ukraine-Invasion (ab 2022) – und nun die Aussicht auf eine abermalige Trump-Präsidentschaft. Eine steigende Zahl internationaler Konflikte, vom Nahen Osten bis nach Taiwan, gefährdet ganz direkt die europäische Wirtschaft. Auf der Route zum Suez-Kanal, der wichtigsten asiatisch-europäischen Passage, werden Frachtschiffe von Huthi-Terroristen beschossen. Sollte Taiwan nach einer chinesischen Annexion oder Seeblockade als Chipproduzent ausfallen, hätte die halbe Welt ein Problem.
All dies lässt sich verstehen als allmähliche Erosion der von den USA gestützten Weltordnung, wie sie sich nach dem Ende des Kalten Kriegs 1990 herausgebildet hatte. Aber das ist vorbei. In dem Maße wie Amerika mit der Rolle als Weltpolizist überfordert ist, brechen Konflikte aus. Entsprechend ist der Unsicherheitsfaktor Geopolitik als Teil des UPI zuletzt in die Höhe geschossen.
Deutschland ist keine Oase der Ruhe mehr
In dieser unruhigen Welt war Deutschland lange eine Oase der Ruhe. Die von gesellschaftlichen Konflikten ausgehende Unsicherheit war niedrig. Dies spiegelte sich in stabilen Regierungsmehrheiten und Angela Merkels unaufgeregter Art, den Status quo zu verwalten.
Doch diese Ära ist vorbei. Die Flüchtlingszuwanderung 2015/16 und die Proteste dagegen haben nachhaltige Veränderungen losgetreten. Seit 2017 konnte sich die AfD als politische Kraft von nationaler Bedeutung etablieren, was sie nicht daran gehindert hat, sich weiter zu radikalisieren. Die Corona-Krise – samt wütender Proteste von Impfgegnern, Verschwörungsmystikern, sonstigen Spinnern und Radikalen – hat nachhaltige Spuren hinterlassen; unser Subindikator zur gesellschaftlichen Unsicherheit zeigt ein erhöhtes Niveau, auch in Phasen relativer Ruhe.
Aktuell schnellt der Indikator abermals in die Höhe. Die Folgen des Ukraine-Kriegs mit steigenden Energiepreisen und Inflationsraten, eine als übergriffig empfundene Klimapolitik, unvorbereitete Subventionskürzungen, dazu abermals steigende Asylbewerberzahlen – an diesen Themen entzündet sich eine Wut und gesellschaftliche Polarisierung, wie es sie in Deutschland lange nicht gegeben hat. Eine Rolle spielen dabei ausländische Propaganda und Fake News, die über soziale Netzwerke in westliche Öffentlichkeiten getragen werden – mit dem Ziel, bei uns das gesellschaftliche Klima zu vergiften. Unser deutsch-österreichisches Konsortium zur Bekämpfung von Desinformation, GADMO, hat reichlich Belege dafür gesammelt.
Wirtschaft: unnötige Schmerzen
Wie gesagt, es brennt an allen Ecken – nicht nur in der Außen- und Innenpolitik, auch in der Wirtschaft. Unser Subindikator für die deutsche Konjunktur ist zuletzt auf rekordverdächtige Niveaus gestiegen. Mit durchaus realen Folgen: Unsicherheit behindert Investitionen und teils auch Reformen. Im Zweifel versuchen Unternehmen und Bürger, keine zusätzlichen Risiken einzugehen. Dadurch aber zieht sich der unabwendbare Strukturwandel, in dem wir ohnehin stecken, in die Länge und ist unnötig schmerzlich.
Die Industrie, traditionelle Stärke der deutschen Wirtschaft, schrumpft. Und zwar nicht, wie häufig behauptet, wegen der Ampel-Regierung, der hohen Energiekosten oder sonst was. Seit 2019 bereits geht die Produktion allmählich zurück – vor allem weil China und andere Schwellenländer nicht mehr so viele Maschinen, Autos und Chemikalien nachfragen. Wir müssen uns etwas Neues überlegen. Aber das gelingt nur schleppend. Einsparungen bei Forschung und Entwicklung sowie die schlechten Pisa-Ergebnisse bei den schulischen Leistungen bieten nicht gerade eine ansprechende Kulisse für eine neue Gründerzeit.
Die reale Wirtschaftsleistung ist aktuell auf dem Niveau des letzten Quartals 2019, also vor den Corona-Shutdowns. Vier Jahre Nullwachstum. Wie es aussieht, wird 2024 das fünfte Jahr ohne Plus. Eine Gesellschaft, die an ziemlich stetiges Wachstum gewöhnt ist, produziert nun keine Zuwächse mehr. Stagnation versauert die Stimmung.
Zaumzeug gegen nationale Instinkte
An dieser Stelle wird der Strudel aus Verunsicherung und Pessimismus gefährlich. Wenn eine Krise die nächste schürt, werden wir uns der äußeren Bedrohungen kaum erwehren können. Ohne leistungsfähige Wirtschaft werden Deutschland und Europa insgesamt nicht in der Lage sein, die zusätzlichen militärischen Lasten zu tragen, die auf uns zukommen. Ohne Wachstum laufen wir Gefahr, uns in gesellschaftlichen Konflikten zu entzweien, die letztlich die Demokratie selbst gefährden.
Unsere Widersacher hätten gewonnen. Das könnte ihnen so passen.
Anders als die Europäer des 13. Jahrhunderts, die sich bereitwillig der Erklärung von Mongolenführer Dschingis Khan ergaben, wonach er selbst die Strafe für ihre Sünden war, sind wir heute glücklicherweise ein Stück weiter. Wir verfügen in der Europäischen Union über Institutionen, Wissen und Vernunft, die wir einsetzen können – auch um unsere selbstmörderischen nationalen Instinkte im Zaum zu halten.
Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche
Montag
Brüssel – Vor dem schrecklichen Jahrestag – Die Woche, in der sich der Überfall auf die Ukraine zum zweiten Mal jährt (am Samstag), beginnt mit einem Treffen der EU-Außenminister. Die russische Aggression hält Europa in Atem.
Dienstag
Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Fresenius Medical Care, Air Liquide, Carrefour, Barclays, Walmart.
Mittwoch
Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Fresenius, Rio Tinto, Telefonica Deutschland, Glencore, BAE Systems, HSBC, Nvidia
Donnerstag
München – Hands up! – Der Zentralverband des deutschen Handwerks berichtet über die Lage der Branche und ihre Zukunftsaussichten.
Luxemburg – Noch nicht völlig beruhigt – Eurostat legt neue Zahlen zur Inflationsentwicklung in der EU und der Eurozone vor.
Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Mercedes-Benz, Knorr-Bremse, Telefonica, Axa, Danone, Iberdrola, Repsol, Nestle, Zurich Insurance, Anglo-American, Rolls-Royce, Lloyds,
Freitag
München – White Collar Blues – Das Ifo-Institut veröffentlicht das Ergebnis der Geschäftsklimaindex-Umfrage.
Wiesbaden – Strukturen einer Krise – Das Statistische Bundesamt legt Details zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Schlussquartal 2023 vor.
Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Deutsche Telekom, Allianz, BASF, Hensoldt, Standard Chartered.