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Der Stasi-Killer, der sich selbst sprengte

Oberstleutnant Paul Marustzök war bei der Stasi für seine „nicht sehr sauberen“ Methoden bekannt. 1974 starb er, nicht bei einem Unfall, wie Historiker entdeckten, sondern bei einem geheimen Versuch.
Leitender Redakteur Geschichte

Was man im Geheimdienstjargon „nasse Jobs“ nennt, ist lebensgefährlich – für die Zielpersonen immer, aber manchmal auch für die Täter. Paul Marustzök zum Beispiel, Oberstleutnant im Ministerium für Staatssicherheit (MfS), jagte sich am 10. April 1974 selbst in der Luft. Er hatte auf einem Stasi-Übungsgelände mit einer getarnten Bombe hantiert, die offenkundig für Terroranschläge auf Autos in der Bundesrepublik entwickelt worden war.

Auf den bislang unbekannten Fall sind die Historiker Jochen Staadt und Tobias Voigt gestoßen. Die beiden Experten arbeiten für den renommierten Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin und haben bereits zahlreiche wichtige Studien vorgelegt. Darunter sind Forschungen etwa über den Kampf der Stasi gegen die ARD oder den Axel Springer Verlag, in dem auch die „Welt“ erscheint.

Bisher war aus Marustzöks Personalakte lediglich bekannt, dass er bei einem „Unfall“ ums Leben gekommen sei. Die genaueren Umstände hielt der zweite Mann der Stasi, General Bruno Beater, aus guten Gründen selbst intern streng geheim. Dafür wurden sogar die Protokolle der ohnehin vertraulichen Untersuchung nach dem Tod des MfS-Offiziers gefälscht. Entsprechende Stasi-Akten liegen der „Welt“ vor.

Marustzök war das Opfer eines höchst anrüchigen Versuchs geworden: Er hantierte auf dem Übungsgelände des MfS-Wachregiments bei Teupitz südlich von Berlin mit einer Neuentwicklung vermutlich der Stasi-Abteilung „Operativ-technischer Sektor“ (OTS). In dem braunen Aktenkoffer aus Kunstleder mit den Maßen 55 mal 35 mal 16 Zentimetern war eine hochbrisante Sprengladung versteckt, die mit einer Funkfernbedienung ausgelöst werden konnte. Außerdem waren in der Hülle Magnete untergebracht, mit denen der Koffer offenbar unter einem Auto befestigt werden sollte.

Irgendetwas haute nicht hin

Was genau misslang an diesem Mittwoch, blieb dem Untersuchungsbericht zufolge ungeklärt. Einen ersten Test brach Marustzök jedenfalls um 10.45 Uhr mit den Worten ab, dass irgendetwas nicht „hinhaute“. Vielleicht war der Zünder defekt.

Gegen 12.30 Uhr ließ er sich von zwei Stasi-Soldaten wieder zum Sprengplatz fahren und begann, an dem geöffneten Koffer zu hantieren. Möglicherweise hatte er mit dem OTS telefoniert und Hinweise zur Bombe bekommen. Dabei löste Marustzök die scharfe Ladung aus. Eine zufällige Zündung durch ein fremdes Funksignal jedenfalls schlossen die Stasi-Experten aus.

Marustzöks Körper wurde geradezu zerfetzt: Sein Gesicht existierte nicht mehr, sein Rumpf lag 4,70 Meter vom Krater der Explosion entfernt, ein Bein und ein Unterarm waren abgerissen. Der Stahlhelm des Oberstleutnants war ebenso weggeflogen wie die Schulterklappen seines Kampfanzuges. Auch sonst hatte die Bombe gut funktioniert: „Im Umkreis von bis zu 30 Metern vom Sprengloch werden eine Vielzahl unterschiedlich großer Knochen-, Gewebe- und Bekleidungsteile aufgefunden“, heißt es im Bericht der Spurensicherung lapidar.

Kein Geheimdienst der Welt hängt einen solchen Fehlschlag gern an die große Glocke. Aber die Vertuschungsaktion, die umgehend begann, deutet darauf, dass der Unfall die SED in eine besonders peinliche Lage hätte bringen können. Und zwar gleich aus mehreren Gründen.

Kondensatoren aus DDR-Produktion

Erstens hieß es im ursprünglichen, nicht verfälschten Untersuchungsbericht: „Die Rekonstruktion des vorliegenden funktechnischen Gerätes ergab, dass es sich hierbei um einen Sender handelt, der werkstattmäßig vorwiegend aus Bauteilen verschiedener westlicher Firmen hergestellt wurde.“ Das an sich wäre noch nicht ungewöhnlich gewesen, doch die Stasi-Experten fügten einen verräterischen Satz hinzu: „Inwieweit solche Teile in einem einzigen Land, zum Beispiel der Bundesrepublik, handelsüblich sind, ist nicht bekannt.“ Offenbar handelte es sich um einen Prototypen, denn „drei im Gerät verwendete Kondensatoren tragen Firmenzeichen aus der DDR“.

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Die Stasi hatte sich also aus Bauteilen westlicher Herkunft einen Zünder zusammengebastelt – überflüssige Mühe, sofern es sich um ein Gerät für einen „offiziellen“ militärischen Einsatz gehandelt hätte. Offenbar aber hatte man beim OTS nicht genügend passende Bauelemente aus Nato-Staaten gefunden und musste für einfache Standardteile wie Kondensatoren einer bestimmten Kapazität auf DDR-Produkte zurückgreifen.

Jedoch wäre es extrem unglaubwürdig gewesen, dass während des Kalten Krieges westliche Geheimdienste eine solche Mischung von Elementen verwendet hätten. Sie hätten problemlos die Möglichkeit gehabt, Zünder ausschließlich aus Bauteilen eines Landes herzustellen. Und auch für Terroristen gleich welcher politischen Richtung wäre eine solche Konstruktion unwahrscheinlich: Warum hätten sie auf DDR-Kondensatoren zurückgreifen sollen, wo doch im Westen alle nötigen Teile in jeder größeren Stadt zu kaufen waren?

Ein solcher Funksender hätte also bei einem Einsatz im „Operationsgebiet“, so der Stasi-Begriff für westliche Rechtsstaaten, den Ermittlern unmittelbar Hinweise auf die Herkunft der Ladung gegeben. Ebenso übrigens wie der Koffer, der ein „handelsübliches“ Modell aus DDR-Produktion war. Es handelte sich also um den Test eines Prototypen für eine Waffe, die – vermutlich dann in einem der mit Devisen zu bezahlenden und daher raren westlichen Koffer – im Westen eingesetzt werden sollte.

„Wirkungsentfernung 15 Meter total“

Der zweite Grund für die Vertuschung dürfte gewesen sein, dass die Konstruktion der Kofferbombe eindeutig auf geplante Attentate hindeutete. Das belegen die Magnete, mit denen die Waffe unter einem Auto befestigt werden konnte. In Marustzöks zufällig erhalten gebliebenem Notizbuch standen die Worte: „Wirkungsentfernung 15 Meter total“. Nur Terroristen und Geheimdienste hatten Verwendung für eine solche Sprengladung.

Drittens war das Opfer der Explosion bemerkenswert. Denn Paul Marustzök, geboren am 16. Oktober 1921 in Leipzig, war schon seit mehr als zwei Jahrzehnten ein brutaler Handlanger des MfS. 1952 hatte er die Entführung des SED-Gegners Walter Linse in West-Berlin organisiert. Er warb die Kriminellen an, die den Menschenraub durchführte, übernahm auf DDR-Seite der Grenze den Fluchtwagen und lieferte Linse persönlich im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen ab.

Doch die Aktion schlug für Mielke unerwartet hohe Wellen in der westlichen Öffentlichkeit. Um ein Durchsickern von Informationen zu verhindern, wurden die gedungenen Entführer auf einen sechswöchigen Ostseeurlaub nach Heringsdorf geschickt; Marustzök begleitete die Kriminellen mit seiner Frau und den zwei Kindern.

Nach der Auszeit wurde der Stasi-Mann nach Leipzig versetzt. Es folgten mehrere Versetzungen in verschiedene Funktionen, unter anderem nach Dresden. Gleichzeitig aber vermerkte seine Personalkarteikarte, dass Marustzök als „Offizier im besonderen Einsatz“ tätig gewesen sei. Seit 1972 listete man ihn als Mitarbeiter der MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder), was wahrscheinlich reine Tarnung war, denn er lebte in Berlin-Karlshorst.

Leute, die „diese Aufgaben ohne Bedenken erledigen“

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Was der gelernte Maschinenschlosser, der des Deutschen – selbst verfassten Berichten zufolge – schriftlich nur eingeschränkt mächtig war, zwischen 1952 und 1974 genau tat, ist bislang unklar. Auf jeden Fall hatte er eine Schlüsselposition inne. Staadt und Voigt zitieren einen Brief, in dem sich Bruno Beater 1957 massiv für seinen Vertrauten einsetzte, als Marustzök wegen disziplinarischer Verfehlungen vor der Entlassung stand.

Ungewöhnlich deutlich, gleichwohl in schrägem Deutsch formulierte der schon damals als Mielkes Stellvertreter amtierende Geheimdienst-Offizier: „Um den Genossen Marustzök aber zu kämpfen, lohnt sich jedes Experiment.“ Beater begründete, er wünsche sich, „dass wir mehr solche Genossen, wie M. es ist, hätten, die, wenn es im Kampf darum geht, auch nicht sehr saubere und später zurückschlagende Maßnahmen durchzuführen, diese Aufgabe ohne Bedenken erledigen“.

Wenn sogar der absolut skrupellose Mielke-Stellvertreter von „nicht sehr sauberen“ Methoden sprach, konnte es sich eigentlich nur um Mord und Totschlag handeln. Es liegt also nahe zu vermuten, dass Paul Marustzök ein Killer im Dienste der SED war. Ironie der Geschichte, dass er sich selbst in die Luft sprengte.

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