Eine „Sensation“? Eine Überraschung ganz sicherlich. Tatsächlich hat man gut hundert Jahre lang vom „Steptanz“-Bild des Malers Ernst Ludwig Kirchner nichts mehr gewusst. Alle Spuren schienen gelöscht, alle Anschauung verblasst. Geblieben war nur noch die Erinnerung, dass das Gemälde 1911 entstand und in der legendären „Brücke“-Ausstellung der Berliner Galerie Fritz Gurlitt 1912 zu sehen war.
Donald E. Gordon, der Autor des Werkkatalogs aus dem Jahr 1968, steht vor unlösbaren Rätseln. Er hat nur eine Schwarz-Weiß-Abbildung, keine Größenangaben und resümiert mit wissenschaftlicher Bescheidung „Verbleib unbekannt“. Wenn ein akkurates Œuvre-Verzeichnis so lapidar die Fehlanzeige eingestehen muss, dann ist das wie in der Kriminalistik bei „Aktenzeichen XY … ungelöst“.
Kirchner-Bild kommt aus Familienbesitz
Nur dass im Fall von Kirchners tanzendem Paar niemand die Hotline benutzt hat. Obschon sich der Stammbaum der Bild-Besitzer lückenlos zurückverfolgen lässt, quer durch das Jahrhundert, und keinerlei Dunkelstellen aufweist. Das alles wird erst jetzt bekannt, seitdem der Tanz nun aus „Familienbesitz“ beim Münchener Auktionshaus Ketterer zur Versteigerung am 7./8. Juni 2024 eingereicht worden ist.
Und nun steht man vor dem steppenden Paar, und hinter ihm warten die anderen auf ihren Auftritt. Man meint, die Absätze der Schuhe klappen zu hören, und ahnt, dass Kirchner ganz vorn sitzen muss, der gierige Zuschauer im Variété, der nicht anders kann und will und immer wieder seiner Leidenschaft frönt und die virtuosen Körper feiert und in zeichnerischer und malerischer Geschwindschrift die erotischen Spektakel im rötlichen Bühnenlicht festhält.
1911, da war die Gemeinschaft der vier jungen Künstler, die sich in Dresden zur Künstlergruppe „Die Brücke“ zusammengeschlossen hatten, fast schon verbraucht. Jeder ging längst seine eigenen Wege. Noch gab es die Mal-Sessions im Nudistenparadies an den Moritzburger Seen. Aber vor allem Kirchner hatte jetzt Augen mehr und mehr für die Großstadt und plante eine Karriere in Berlin. Auch davon erzählt der lange verborgen gebliebene „Steptanz“.
Erworben hat ihn – wohl in den späten 1920er-Jahren – der Emaillewarenfabrikant Max Glaeser, der sich für seine respektable Sammlung von Gegenwartskunst eine Villa in Kaiserslautern hat bauen lassen. Bei den Glaesers blieb das Bild bis 1944.
Dann scheint es der Münchener Galerist Günther Franke an eine Privatsammlung in Baden-Württemberg vermittelt zu haben, die sich jetzt von ihm trennt. Bei einer Schätzung von zwei bis drei Millionen Euro wird wohl kein Museum mithalten können.