Freudestrahlend fiel die Tochter dem Vater in die Arme. Die 17-jährige Ursula wusste, dass sich am 6. Februar 1976 der Traum von Ernst Albrecht erfüllt hatte: Der CDU-Politiker wurde mit einer Stimme über der absoluten Mehrheit in geheimer Wahl zum sechsten Ministerpräsidenten Niedersachsens gewählt – als erster Christdemokrat in dem traditionell eher sozialdemokratischen Bundesland.
Das Ergebnis war ein politisches Erdbeben. Denn die CDU stellte im Landtag in Hannover seit der Wahl 1974 zwar mit 77 Abgeordnete die stärkste Fraktion, doch die Koalition aus SPD und FDP verfügte über 78 Mandate. Der seit 1970 amtierende SPD-Ministerpräsident Alfred Kubel (Jahrgang 1909) wollte, so war es im Koalitionsvertrag festgelegt, sein Amt zur Hälfte der Legislaturperiode in jüngere Hände geben – entweder an den 14 Jahre jüngeren Sozialminister Helmut Greulich oder an den sogar 17 Jahre jüngeren Finanzminister Helmut Kasimier.
Allerdings erlitt Greulich im Mai 1975 einen Herzinfarkt und fiel aus. Kasimier trat am 14. Januar 1976 an – doch drei Abgeordnete seiner Koalition enthielten sich in geheimer Wahl der Stimme, während Ernst Albrecht alle 77 Mitglieder seiner Fraktion für sich gewinnen konnte. Da der Landtag über 155 Abgeordnete verfügte, war das noch keine absolute, für die Wahl zum Regierungschef hinreichende Mehrheit.
Am 15. Januar gab es einen zweiten Wahlgang, in dem Kasimier sogar vier Stimmen fehlten, während Albrecht von 78 Abgeordneten gewählt wurde. Doch anzufangen war damit wenig, denn erst nach seiner Wahl im dritten Anlauf, so sah es die Landesverfassung vor, konnte Albrecht mit relativer (statt absoluter) Mehrheit ein Kabinett bilden.
Die Bundes-SPD reagierte und ersetzte den glücklosen Kandidaten Helmut Kasimier durch ein politisches Schwergewicht aus Niedersachsen, den Bundesbauminister Karl Ravens. Doch die Auswechslung brachte nichts mehr, denn das Vertrauen der Koalitionspartner in Hannover war aufgebraucht – obwohl in Bonn weiter Helmut Schmidt mit Hans-Dietrich Genscher kooperierte.
„Das niedersächsische Bündnis zwischen SPD und FDP war morbide bis ins Mark geworden, verschlissen und verrostet in den Jahren der Macht letztlich erstickt in der Zwangsjacke einer Mehrheit von nur einer einzigen Stimme“, kommentierte das „Hamburger Abendblatt“ und ergänzte: „Ein Alfred Kubel hatte als Ministerpräsident mit Mühe den bröckelnden Bund noch zusammenhalten können. Aber mit seinem Abschied war es um diese Koalition geschehen. Da half nichts mehr.“
Vor dem entscheidenden Wahlgang gab es bei der FDP-Fraktion noch eine Probeabstimmung. Alle elf Abgeordneten stimmten für Ravens. Doch der SPD-Landesvorsitzende Peter von Oertzen, ein Linksaußen der Sozialdemokratie, maß dem keine große Bedeutung mehr zu: „Es hat das letzte Mal ja auch nichts genützt.“
So kam es tatsächlich. Zwar stand eine Maschine der Flugbereitschaft für Ravens bereit, damit er im Falle seiner Wahl schnellstmöglich nach Bonn fliegen und dort vom Bundespräsidenten seine Entlassungsurkunde als Bundesminister in Empfang nehmen könnte. Doch die Besatzung wartete vergebens: Ernst Albrecht machte das Rennen.
Er galt allgemein als gebildet, kompetent, fair und war nach gut fünf Jahren in der Opposition im Landtag zum Regieren entschlossen. Das zeigte er aber nicht: Während des Wahlganges saß er seelenruhig auf seiner Abgeordnetenbank.
Als der Landtagspräsident das Ergebnis bekannt gab (79 Stimmen für Albrecht, 75 für Ravens, eine ungültige Stimme), brach tosender Jubel um Albrecht aus, während links im Plenum Totenstille herrschte. Hüben fielen sich die Christdemokraten in die Arme, drüben verharrten die Sozialdemokraten benommen in fast völliger Reglosigkeit.
Von „Verrat“ war die Rede, wie schon nach den ersten beiden Abstimmungen am 14. und 15. Januar 1976. Und sogar von Bestechung: „Da stecken Millionen dahinter“, unkte ein verärgerter Sozialdemokrat – Belege dafür gab es keine.
Tatsächlich war es wohl einfach so, dass sich die Partner SPD und FDP auseinandergelebt hatten. Mit Ernst Albrecht, 46 Jahre jung, gab es einen überzeugenderen Kandidaten. Der Arztsohn aus Heidelberg war am Rande von Bremen aufgewachsen, aber bald nach erfolgreich abgeschlossenem Studium als Diplom-Volkswirt (die Promotion folgte später) nach Brüssel gegangen. Mit Frau und sieben Kindern, darunter der heutigen EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen, lebte Albrecht dort bis 1971. Dann wechselte die Familie nach Niedersachsen, denn Albrecht hatte bei den Landtagswahlen 1970 ein Mandat in Hannover errungen und schied aus dem EG-Beamtenapparat aus.
Nach seiner Wahl am 6. Februar 1976 bildete Albrecht ein CDU-Minderheitskabinett, dem die FDP ein Jahr später beitrat. Es folgen erfolgreiche Regierungsjahre bis 1990, die ihn zeitweise sogar als Alternative zum wenige Monate älteren CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl erscheinen ließen.
1989 verlor die CDU-FDP-Koalition ihre immer knappe Mehrheit im Landtag, weil sie sich von einem wegen Wahlfälschung verurteilten Abgeordneten trennte (der daraufhin den rechtsextremen Republikanern beitrat). Bei den nächsten regulären Wahlen 1990 genügte eine minimale Verschiebung der Stimmenverhältnisse, um die knappe schwarz-gelbe in eine knappe rot-grüne Mehrheit kippen zu lassen. Der SPD-Kandidat Gerhard Schröder wurde neuer Ministerpräsident.
Ernst Albrecht zog sich aus der Politik zurück. Er erkrankte an Alzheimer und starb Ende 2014 im Alter von 84 Jahren. Bis zuletzt pflegte die Familie seiner Tochter Ursula ihn.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2022 veröffentlicht.