Vierzig Jahre lang inszenierte Ostdeutschland die DDR als „antifaschistischen“ Staat, der die Lehren aus dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus gezogen habe. Selbst im Westen war dieser Eindruck weitverbreitet: Das sozialistische Deutschland habe bei allen seinen „Fehlern“ immerhin die NS-Vergangenheit besser aufgearbeitet als die demokratische Bundesrepublik.
Chronik der DDR
Das Land, das ohne demokratische Legitimation gegründet wurde, der zweite deutsche Staat. Sehen Sie hier die Schlaglichter der DDR-Geschichte - bis zu ihrem Ende; der Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland.
Quelle: WELT
Doch diese Annahme ist gleich doppelt falsch. Denn einerseits hat die DDR die NS-Verbrechen keineswegs intensiver aufgearbeitet, sondern wesentlich schlechter. Andererseits überdeckte die offizielle Staatsideologie des „Antifaschismus“ all die rechtsextremen und antisemitischen Traditionen, die es in der DDR eben auch gab. Beispielhaft nachvollziehen kann man das an der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit, an der Politik der SED-Führung und ihrem Apparat.
Der sicher empörendste antisemitische Übergriff durch deutsche Behörden nach 1945 fand 1971 im brandenburgischen Jamlitz statt. Dort war ein Massengrab mit den Leichen von 577 vorwiegend jüdischen KZ-Gefangenen entdeckt worden, die bei der Zwangsarbeit gestorben oder ermordet worden waren.
Die sterblichen Überreste wurden exhumiert, eingeäschert und neu beigesetzt. Aber mehr als ein Kilogramm Zahngold der Toten sammelte die Stasi ein; es verschwand später spurlos. Die selbst ernannten „Antifaschisten“ hatten sich also an den toten jüdischen Opfern bereichert – wie zuvor die SS.
Die DDR und ihre Staatssicherheit
Dieses erst lange nach der Wiedervereinigung aus Stasi-Akten bekannt gewordene Vergehen fügt sich bruchlos in die antisemitische und antiisraelische Politik der SED-Diktatur. Offiziell lehnte das Regime von Ulbricht und Honecker unter dem Schlagwort „Antizionismus“ die Existenz Israels ab.
Da der jüdische Staat der wichtigste Verbündete der USA im Nahen Osten war, unterstützte der Ostblock die arabischen Staaten, die 1956 und 1973 zweimal in Kriegen Israel angriffen und 1967 lediglich durch einen Präventivschlag an einem Angriff gehindert wurden.
Nach dem Attentat palästinensischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 beklagten die zentral gelenkten DDR-Zeitungen zwar das „furchtbare Blutbad“. Verantwortlich gemacht wurden dafür aber nicht die Täter, sondern die westdeutschen Behörden.
Wer den Kommentar im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ las, musste sogar den Eindruck gewinnen, dass eigentlich das Herkunftsland der Opfer schuldig sei: „Es ist bekannt, dass die DDR gegen die Aggression Israels an der Seite der arabischen Staaten steht“, hieß es da. Doch der Antisemitismus der SED hatte auch alltägliche Formen – etwa die antijüdischen Affekte im Parteiapparat, die Verfolgung der jüdischen Gemeinden und die Unterstützung palästinensischer Terroristen.
Tatsächlich waren stillschweigend auch ehemalige Nationalsozialisten in die DDR-Gesellschaft integriert worden, und der Umgang mit der NS-Vergangenheit folgte allein politisch-propagandistischen Erwägungen. Schon Anfang der 1950er-Jahre führte die SED, zeitgleich mit der KPdSU, den ungarischen und den tschechoslowakischen Kommunisten, „Parteisäuberungen“ mit antijüdischer Tendenz durch.
So wurde das nicht jüdische Politbüromitglied Paul Merker, der sich für das Existenzrecht Israels eingesetzt und Entschädigungszahlungen gefordert hatte, zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Vorwurf: Er habe „zionistische Positionen“ vertreten.
Zeitgleich verloren 200 bis 300 SED-Funktionäre ihre Funktionen, darunter auffällig viele jüdischer Herkunft wie Leo Bauer, Bruno Goldhammer oder Hans Schrecker. Viele verbrachten lange Jahre in Haft. Die meisten Angeklagten im antisemitischen Schauprozess gegen Rudolf Slansky Ende 1952 in Prag wurden hingerichtet.
Ebenfalls zur gleichen Zeit übte die Stasi massiven Druck auf die damals acht jüdischen Gemeinden in der DDR aus. Anfang 1953 flüchteten mehr als 500 jüdische DDR-Bürger nach West-Berlin. Unter ihnen waren Julius Meyer, KZ-Überlebender und Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, sowie die Vorsitzenden der Gemeinden in Erfurt, Dresden, Leipzig und Halle, meist mit ihren kompletten Familien.
Das „Neue Deutschland“ fabulierte daraufhin von „Agentenbanden“, die „zu einem großen Teil aus Juden bestehen“, und überschrieb am 10. Februar 1953 einen antisemitischen Artikel mit den Worten: „Den Zionismus entschieden bekämpfen!“ Bis 1961 sank die Zahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden in der DDR auf knapp tausend Menschen, bis 1989 sogar auf nur noch 400.
Die SED unterstützte auch militante Antisemiten. Terroristen aus Nahost erfuhren seit Sommer 1967 breite Unterstützung – in der DDR fanden sie sichere Rückzugsräume für Kranke und Verletzte, und sie konnten mit Waffenlieferungen von dort rechnen. So lieferte das SED-Regime 1973 an die Terrororganisation PLO 2000 Maschinenpistolen, 500 Sprengsätze und zehn Scharfschützengewehre.
Schon 1970 hatten zwei Gruppen westdeutscher linksextremer Terroristen der gerade entstandenen Rote Armee Fraktion über Ost-Berlins Flughafen Schönefeld ungehindert in den Nahen Osten fliegen dürfen, um in Terrorcamps der Palästinenser ausgebildet zu werden. Ähnliches wiederholte sich in den 70er-Jahren mehrfach. Das war zumindest eine indirekte Unterstützung antisemitischer Aggression.
Der Palästinenser Abu Daoud, Drahtzieher des Münchner Attentats von 1972, bekam umfangreiche Hilfe in der DDR – er konnte jahrelang immer wieder in Ost-Berlin abtauchen. Wadi Haddad, ein anderer führender palästinensischer Terrorist und Organisator der Entführung der Lufthansa-Boeing „Landshut“ nach Mogadischu, wurde in Ost-Berliner Kliniken behandelt und starb 1978 dort.
Die gesamte Staatsideologie des „Antifaschismus“ war eine äußerst zweifelhafte Sache. In der Sowjetischen Besatzungszone und ab 1949 in der DDR wurde die NS-Vergangenheit noch weitaus schlechter aufgearbeitet als im Westen Deutschlands. Das wurde auch daran deutlich, wie dort die sogenannte Entnazifizierung durchgeführt wurde.
Allein in der amerikanischen Besatzungszone wurden zwischen 1946 und 1950 insgesamt rund 950.000 Menschen vor Spruchkammern gebracht, von denen 106.422 als minderbelastet, 22.122 als belastet und immerhin 1654 als Hauptschuldige eingestuft wurden.
In der sowjetischen Zone gingen die deutschen Kommunisten einen anderen Weg. Bereits Anfang 1946 hatte die „Partei der Arbeiterklasse“ (damals noch unter dem Namen KPD) begonnen, NSDAP-Mitläufer zu umwerben. „Wir wollen diesen Kräften, die einfache PGs waren beziehungsweise nominelle Nazis, wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, innerhalb unserer Kampffront zu arbeiten und sich zu bewähren“, verkündete Parteichef Wilhelm Pieck am 11. Januar 1946.
Vier Monate später schrieb er, inzwischen einer der beiden Chefs der nach der Zwangsvereinigung mit der SPD entstandenen SED, im Parteiorgan „Neues Deutschland“ über den „Sinn der Entnazifizierung“. Zwar bekannte er sich zu einer „gründlichen Säuberung Deutschlands vom Nazigeist“.
Zugleich aber stellte Pieck fest, „wesentlich anders“ sei es bei „den Millionenmassen, die auf den Nazischwindel hineinfielen und Mitglieder der Nazipartei wurden“. Mehrheitlich handele es sich um „Angehörige des werktätigen Volkes“. Sie seien „im guten Glauben an die Versprechungen der Hitlerbande gefolgt“. Die Entnazifizierung mit ihren „Strafmaßnahmen, Entlassung aus der Arbeit, Beschlagnahme des Eigentums oder Verächtlichmachung“ sei baldmöglichst zu beenden. So kam es denn: Schon 1948 beendete die SED offiziell die „Säuberung“ – da liefen die Spruchkammerverfahren in den westlichen Besatzungszonen gerade auf dem Höhepunkt.
Spruchkammern hatte es in der Sowjetzone nicht gegeben. In den sowjetischen Internierungslagern auf dem Gebiet der späteren DDR saßen 1945 bis 1950 mehr als 120.000 Menschen. Doch nur ganz am Anfang dienten diese bis zu zehn Haftstätten vor allem dazu, NSDAP-Funktionäre wegzusperren. Sehr bald füllten sie sich vor allem mit Gegnern der kommunistischen Machtübernahme in Ostdeutschland.
97.000 ehemalige NSDAP-Angehörige in der SED
Im September 1952 verabschiedete die DDR-Volkskammer ein Gesetz, das die „festgelegten Einschränkungen der Rechte für ehemalige Mitglieder der NSDAP“ in der DDR pauschal aufhob. So viel Entgegenkommen hatte Folgen: 1953 zählte die SED rund 97.000 ehemalige NSDAP-Angehörige in ihren Reihen, bei insgesamt einer Million Mitglieder also knapp zehn Prozent.
Damit lag der Anteil nur wenig unter dem Organisationsgrad, den die Partei Hitlers kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in der deutschen Gesamtbevölkerung erreicht hatte. Rechnete man die früheren Mitglieder von NSDAP-Gliederungen wie SA oder HJ hinzu, hatte rund jedes dritte SED-Mitglied der 50er-Jahre zumindest nominell zur Hitler-Bewegung gehört.
Ungefähr so hoch war der Anteil auch bei den hauptamtlichen Mitarbeitern: Zum Stichtag 1. Mai 1954 hatten 209 von insgesamt 591 Angestellten beim Zentralkomitee in Ost-Berlin formal eine nationalsozialistische Vergangenheit; in den Bezirks- und Kreisleitungen war das Niveau belasteter Kader ähnlich. Da die Funktionäre der DDR-Staatspartei bis ins hohe Alter in Amt und Würden blieben, wenn sie nicht gegen die Erwartungen des Politbüros verstießen, nahm der Anteil der NS-belasteten Personen anders als in der Bundesrepublik mit der Zeit zu.
In den 1980er-Jahren zählte das Zentralkomitee der SED mehr ehemalige NSDAP-Mitglieder als frühere Sozialdemokraten. Unmittelbar vor der Auflösung 1989 gehörten diesem obersten Parteigremium neben dem Politbüro 14 ehemalige NSDAP-Mitglieder an – fast jeder elfte. Im Staatsrat, dem kollektiven Staatsoberhaupt der DDR, saß noch bis zum 17. November 1989 mit Heinrich Homann ein Mann, der 1933 der NSDAP beigetreten war.
Diese hohe Präsenz früherer Nationalsozialisten im SED-Apparat war keine Ausnahme, sie fand sich auch auf Landesebene: Zwischen 1946 und 1989 hatten in den Bezirken des Landes Thüringen von den 263 SED-Spitzenfunktionären, die vor 1928 geboren worden waren, 36 der NSDAP angehört: 13,6 Prozent.
Noch krasser war der Umgang mit NS-Verbrechern. So schützte die Stasi wissentlich Täter des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz wie Paul Riedel, August Bielesch oder Oskar Siebeneicher vor Strafverfolgung.
Erst als das SED-Politbüro aus Propagandagründen ein Auschwitz-Verfahren in der DDR forderte, wurde der seit Jahren observierte ehemalige KZ-Arzt Horst Fischer angeklagt und in einem kurzen, von der Stasi gelenkten Prozess 1966 zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Die Stasi schützte auch 84 frühere Aufseherinnen des Frauen-KZs Ravensbrück in Brandenburg, die in Ostdeutschland lebten. Angeblich konnte nicht zu einer einzigen von ihnen genügend Material für eine Anklage ermittelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass die SED-Führung kein Interesse an Öffentlichkeit hatte.
Dasselbe Motiv bewahrte auch mehrere Euthanasie-Täter vor Strafe. Obwohl die Stasi in den 60er-Jahren 159 Todesfälle auf der Frauenstation des thüringischen Krankenhauses Stadtroda zwischen 1940 und 1942 detailliert dokumentiert hatte, darunter mindestens 15 Fälle von aktivem Krankenmord, kam es nicht zu Anklagen gegen die Verantwortlichen.
Der Grund fand sich in Stasi-Akten: „Da Beschuldigte aus der DDR in höheren Positionen des Gesundheitswesens stehen, könnte bei Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden“, schrieb ein Stasi-Oberleutnant namens Richter am 22. April 1966. Der Vorgang wanderte in eine Sperrablage im Archiv des SED-Geheimdienstes.
Zu den mutmaßlichen Euthanasie-Mördern gehörte Rosemarie Albrecht, seit 1957 Medizinprofessorin in Jena und „verdiente Ärztin des Volkes“ der DDR. Doch 1940 bis 1942 war sie Stationsärztin in der Klinik Stadtroda gewesen und damit verantwortlich für mindestens fünf Euthanasie-Morde. Rosemarie Albrecht entging der Anklage. Sie ist einer von vielen Fällen, die entlarven, wie ernst es der SED mit dem Anspruch des „Antifaschismus“ tatsächlich war.
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Dieser Artikel wurde erstmals am 27. Februar 2019 veröffentlicht.