Warum diese Arbeit?

Mit der Reihe „Neu gelesen“ wird an Beiträge der Psychoanalyse erinnert, die nicht in Vergessenheit geraten sollen. Die Erinnerung an das Schlüsselwerk Erich Fromms (1900–1980), Die Furcht vor der Freiheit, erinnert zugleich an einen Psychoanalytiker, der innerhalb der Psychoanalyse weitgehend vergessen wurde, während er in der Öffentlichkeit als einer der bekanntesten Psychoanalytiker gilt. So etwa erscheinen derzeit in der Volksrepublik China mehr wissenschaftliche Arbeiten über den Psychoanalytiker Erich Fromm als über Sigmund Freud. Vom englischen Original von Die Furcht vor der Freiheit werden auch 80 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung allein als E‑Book jährlich etwa 5000 Exemplare verkauft.

Dass Erich Fromm so wenig in der eigenen „Zunft“ rezipiert wurde und wird, hat mit der starken Fokussierung der Psychoanalyse auf ihre therapeutische Anwendung zu tun, zu der Fromm kaum etwas publiziert hat, obwohl er 1943 Mitbegründer des New Yorker William Alanson White Institute war und ab 1952 in Mexiko-Stadt in einem universitären psychoanalytischen Ausbildungsinstitut Generationen von PsychoanalytikerInnen ausbildete. Mit der Erinnerung an Die Furcht vor der Freiheit wird also an ein Buch erinnert, das ein Schlüsselwerk der Anwendung der Psychoanalyse auf Gesellschaft und Kultur ist und gleichzeitig auch die aktuelle Politik im Blick hat: Fromm hat in ihm mithilfe seines Konzepts des autoritären Charakters auch eine „Psychologie des Nazismus“ zur Darstellung gebracht, wie man sie zu dieser Zeit bei PsychoanalytikerInnen meist vergebens sucht.

Persönlicher Zugang zur Arbeit

Die Lektüre von Die Furcht vor der Freiheit ist auch für einen alten „Frommianer“ wie mich für Überraschungen gut: Es gibt fast kein Thema, das Fromm in seinen späteren Schriften ausgeführt hat, das nicht in diesem Werk zumindest bereits angedeutet ist. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Sowohl in dem Buch Die Seele des Menschen (Fromm 1964) als auch in seinem großen Alterswerk Anatomie der menschlichen Destruktivität (Fromm 1973) nimmt Fromm die Freud’sche Idee eines Lebens- und Todestriebes auf, kritisiert allerdings Freuds Sicht von deren triebbedingter Gleichursprünglichkeit im Menschen. Unter Einbezug der Forschungsergebnisse unterschiedlichster Wissenschaften versucht Fromm dann in Anatomie der menschlichen Destruktivität aufzuzeigen, dass dem Menschen zwar die Fähigkeit zur defensiven Aggression angeboren ist, dass er jedoch spezifische Formen der Destruktivität (sadistische, nekrophile und narzisstische) entwickelt, die erst entstehen, wenn seine Fähigkeit zu psychischem Wachstum nicht nur behindert, sondern vereitelt wird, sodass die psychisch produktive Dynamik in eine destruktive umschlägt. Bereits 1941 schreibt Fromm: „Je mehr der Lebenstrieb vereitelt wird, umso stärker wird der Zerstörungstrieb; je mehr Leben verwirklicht wird, umso geringer ist die Kraft der Destruktivität. Destruktivität ist das Ergebnis ungelebten Lebens“ (Fromm 1941, S. 324). – Es gibt fast keine Kernidee Fromms, die nicht schon in Die Furcht vor der Freiheit ausgesprochen wäre – und die meist von hoher Relevanz für die therapeutische Arbeit ist.

Zum Autor

Erich Fromm wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren und starb 1980 in Locarno in der Schweiz (zur Biografie: Funk 1983, 1999, 2018; Friedman 2013). Aufgewachsen in einer orthodox lebenden Kleinfamilie studierte er in Heidelberg Soziologie (Promotion 1922 bei Alfred Weber), in München Psychiatrie (bei Emil Kraepelin) und schloss seine psychoanalytische Ausbildung 1930 mit einer Lehranalyse bei Hanns Sachs in Berlin ab. Fromm war ab 1930 hauptberuflich als psychoanalytischer Psychotherapeut tätig. Von 1930 bis 1939 arbeitete er im Institut für Sozialforschung mit und entwickelte dort einen eigenen sozial-psychoanalytischen Ansatz und das Konzept des autoritären Sozialcharakters.

Kurz nach seiner Emigration 1934 nach New York revidierte er seinen eigenen sozial-psychoanalytischen Ansatz (vgl. Funk 2022) mithilfe des von Harry Stack Sullivan entwickelten Bezogenheitsparadigmas („relationale Psychoanalyse“). Ab 1950 lebte Fromm in Mexiko, wo er eine ordentliche Professur an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) in Mexiko-Stadt innehatte; gleichzeitig kam er seinen Lehrverpflichtungen an unterschiedlichen Universitäten der USA und am William Alanson White Institute in New York nach. Von 1973 an verbrachte er seinen Lebensabend in Locarno.

Zum Werk

Das Buch Die Furcht vor der Freiheit dokumentiert eine Psychoanalyse, die ihre Theorien über das Unbewusste und Verdrängte auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Phänomene anwendet. Dies hat die erste und zweite Generation von PsychoanalytikerInnen bekanntermaßen noch sehr viel mehr getan als in der heutigen Zeit, in der die therapeutische Anwendung der Psychoanalyse fast alle Publikationen dominiert. Das Besondere dieses Buches aber ist darin zu sehen, dass Fromm in ihm erstmals die Ergebnisse seiner langen Suche nach einer psychoanalytischen Theorie und Methode, mit denen Unbewusstes und Verdrängtes gesellschaftlicher Gruppierungen erkannt und erforscht werden können, vorlegt. In kondensierter Form spricht Fromm (1941, S. 379–392) davon in einem Anhang zum Buch, der die Überschrift „Charakter und Gesellschaftsprozess“ trägt. Es empfiehlt sich deshalb, zunächst diesen Anhang ins Auge zu fassen.

Das Konzept des Sozialcharakters

Fromms Suche führte zu einer eigenen sozialpsychologischen Methode und Theorie, die hier nur im Ergebnis vorgestellt wird (ausführliche Darstellung: Funk 2022). Wenn es darum geht, das ähnliche Denken, Fühlen und Handeln eines einzelnen Menschen psychoanalytisch zu verstehen, dann lässt sich das konstante und konsistente Verhalten mit dem von Freud entwickelten Verständnis von Charakter erklären. So liegt es nahe, das gleichförmige Verhalten von gesellschaftlichen Gruppierungen oder von Kulturen auch mit einer solchen charakterlichen Strukturbildung zu erklären. Fromm grenzt sie vom „individuellen Charakter“ ab und nennt sie „Gesellschafts-Charakter“ oder „Sozialcharakter“.

Allerdings erkannte Fromm Mitte der 1930er-Jahre, dass es zur Bildung des individuellen Charakters und des Sozialcharakters nicht deshalb kommt, weil einer oder mehrere angeborene Triebe in Gestalt von Charakterstrebungen befriedigt werden müssen. Das Agens für die charakterlichen Strukturbildungen ist vielmehr die durch die Gehirnentwicklung bei der Spezies Mensch (aufgrund der Instinktreduktion) erforderliche, aber auch (aufgrund der neuen neuronalen Fähigkeiten der Reflexivität und des Vorstellungsvermögens) mögliche Ausbildung eigener Formen der Bezogenheit auf die Wirklichkeit, auf andere Menschen und auf sich selbst in Gestalt von Charakterbildungen. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass nicht eine intrinsische Triebdynamik für die Art und Qualität der Charakterstrebungen verantwortlich zu machen ist, sondern dass es auf die Art und Qualität jener Bezogenheitserfahrungen mit der Umwelt ankommt, die Menschen von Anfang ihres Lebens an machen und die auf die körperliche, vor allem aber auf die sensomotorische, kognitive, affektiv-emotionale und imaginative Entwicklung und Wachstumsdynamik Einfluss nehmen. Um es mit Fromms Worten im Anhang zu Die Furcht vor der Freiheit zu sagen:

Das Schlüsselproblem der Psychologie ist das Problem der besonderen Art der Bezogenheit des Einzelnen auf die Welt, und nicht die Befriedigung oder Frustrierung einzelner triebhafter Begierden … Ich vertrete die Auffassung, dass Ideologien und Kultur ganz allgemein im Gesellschafts-Charakter wurzeln, dass der Gesellschafts-Charakter selbst von der Lebensweise der jeweiligen Gesellschaft geprägt wird und dass die dominierenden Charakterzüge ihrerseits zu Produktivkräften werden, welche den Gesellschaftsprozess formen. (Fromm 1941, S. 387–390)

Um zum Beispiel verstehen zu wollen, warum viele Menschen sich „freiwillig“ Autoritäten unterwerfen oder alles Heil von einem Führer erwarten, muss man seinen Blick auf die veränderten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebensbedingungen richten, die zu veränderten Sozialcharakterstrebungen führen. Nur so lässt sich nach Fromms Auffassung psychoanalytisch verstehen, wie es in Deutschland zum Erstarken des Autoritarismus der Nationalsozialisten kommen konnte, oder – um ein Beispiel aus der Gegenwart zu nehmen – warum Donald Trump mit „Make America great again“ gezielt die gruppennarzisstischen Größenfantasien von Amerikanern bedient hat – und von ihnen gewählt wurde.

Das Konzept des Sozialcharakters handelt von jenen rationalen und irrationalen Antriebskräften, die sich aus der gesellschaftlichen Geprägtheit jedes Individuums ergeben und die die vielen Einzelnen einer gesellschaftlichen Gruppierung so denken, fühlen und handeln lassen, wie dies für die Stabilität und den Erhalt der Gruppierung erforderlich ist.

Gesellschaft und Selbst

Für manche mag die Theorie des Sozialcharakters den Eindruck verstärken, als ob der Mensch bei Fromm nur das Produkt oder die reine Widerspiegelung seiner sozialen Umwelt sei. Fromm wurde deshalb ein Soziologismus und Kulturismus unterstellt. Aber auch in dieser Hinsicht denkt Fromm in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit psychoanalytisch. Die Möglichkeiten und Erfordernisse der Umwelt prägen zwar in sehr viel höherem Maße die Entwicklung des Selbst, treffen aber auf eine Gehirnentwicklung mit kognitiven, imaginativen und affektiv-emotionalen Potenzen, die eine eigene Entwicklungsdynamik zeigen, die von Fromm bereits 1941 psychoanalytisch als Entwicklung des Selbst begriffen wurde. Skizziert hat Fromm seine Theorie des Selbst im 2. Kapitel von Die Furcht vor der Freiheit. Dort fragt er nach den psychologischen Voraussetzungen der Freiheitsfähigkeit des Menschen und thematisiert den Zusammenhang von Freiheit und Individuation als einen Prozess, der zwei Aspekte hat:

Der eine besteht darin, dass das Kind körperlich, seelisch und geistig kräftiger wird. In jedem dieser Bereiche nehmen Intensität und Aktivität zu. Gleichzeitig werden die Sphären immer mehr integriert. Es entwickelt sich eine organisierte Struktur, die vom Willen und von der Vernunft des Betreffenden gelenkt wird. Wenn wir dieses organisierte und integrierte Ganze der Persönlichkeit als das Selbst bezeichnen, so können wir auch sagen, dass die eine Seite des Wachstumsprozesses der Individuation das Wachstum der Stärke des Selbst ist. (Fromm 1941, S. 234)

Diesem Wachstum der Individuation und damit auch des Selbst seien durch individuelle Umstände, das heißt wiederholt gemachte persönliche Erfahrungen mit den primären Bezugspersonen, oder durch gesellschaftliche Umstände Grenzen gesetzt. Dabei räumt Fromm den gesellschaftlichen Umständen einen hohen Stellenwert ein. Die wiederholt gemachten gesellschaftlichen Bezogenheitserfahrungen sind für Fromm bereits in der Art, wie die primären Bezugspersonen auf den Säugling und das Kleinkind bezogen sind, repräsentiert und wirksam. Schon früh wies Fromm (1932, S. 42) auf die Bedeutung der Eltern oder der Familie „als psychologische Agentur der Gesellschaft“ hin.

Der andere Aspekt des Individuationsprozesses ist die zunehmende Vereinsamung. Die primären Bindungen bieten Sicherheit und eine ursprüngliche Einheit mit der Welt außerhalb. Je mehr das Kind aus dieser Welt herauswächst, desto mehr merkt es, dass es allein und eine von allen anderen getrennte Größe ist. Diese Lostrennung … erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht und Angst. (Fromm 1941, S. 234)

Mit dieser Theorie des Selbst, die ein existenzielles Verwiesensein auf persönliche und vor allem gesellschaftliche Umwelterfahrungen impliziert und die deshalb Psychoanalyse als Sozial-Psychoanalyse begreift, versucht Fromm in Die Furcht vor der Freiheit, zum einen die Freiheitsfähigkeit des Menschen psychologisch zu begründen, zum anderen das Schicksal der Freiheitsfähigkeit in der abendländischen Geschichte seit dem Ende des Mittelalters nachzuzeichnen und zeitgenössische Phänomene wie den Nazismus psychoanalytisch zu deuten.

Individualisierung, Freiheit und Angst

Fromm sieht in der abendländischen Geschichte mit der Renaissance und der Reformation einen Individualisierungsprozess in Gang kommen, der den Übergang eines Zusammenlebens in „Gemeinschaft“ zu einem in „Gesellschaften“ markiert. Dieser Prozess zeigt sich psychologisch zum einen in einem gesteigerten individuellen Freiheitserleben, zum anderen in der Angst vor dem Getrenntsein und einem bedrohlichen Gefühl von Isolierung. Fromm erklärt dieses Phänomen damit, dass die neue Freiheit die Entwicklung eines Selbst voraussetzt, das den Einzelnen von der kollektiven Gemeinschaft unabhängiger macht. Das Individuum habe aber „noch nicht gelernt, seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten voll zum Ausdruck zu bringen. Die Freiheit hat ihm zwar Unabhängigkeit und Rationalität ermöglicht, aber sie hat ihn isoliert und dabei ängstlich und ohnmächtig gemacht“ (Fromm 1941, S. 218). Dieses Erleben von Freiheit, Ohnmacht und Angst illustriert Fromm ausführlich bei den Reformatoren, und hier insbesondere anhand der calvinischen Theologie.

Dass das Gefühl der sozialen Isolation eine Urangst des Menschen ist, hat für Fromm nicht nur mit dem kollektiven Selbsterleben in einer „vor-individualistischen“ (Fromm 1941, S. 217) Gemeinschaft zu tun, sondern mit der angeborenen Sozialität des Menschen – eine Sicht, die in krassem Widerspruch zum Menschenbild Freuds steht, die aber zwischenzeitlich von der Evolutionsbiologie ebenso bestätigt wurde wie von urgeschichtlichen Funden. „Diese Isolierung kann der Mensch nicht ertragen, und er sieht sich daher vor die Alternative gestellt, entweder der Last seiner Freiheit zu entfliehen und sich aufs Neue in Abhängigkeit und Unterwerfung zu begeben oder voranzuschreiten zur vollen Verwirklichung“ seines Selbst (Fromm 1941, S. 218).

Jeder Mensch muss sich nach Fromm einer sozialen Gruppe zugehörig fühlen, doch die soziale Identität kann kollektiv oder individualisiert erlebt werden. Allerdings ist der Prozess der Individualisierung nicht umkehrbar. Wer deshalb aus Angst vor Isolation der „Last seiner Freiheit“ zu entfliehen sucht, wird in seiner psychischen Entwicklung gehemmt und entwickelt keine produktiven Sozialcharakterstrebungen. Drei Fluchtmechanismen des modernen Menschen skizziert Fromm genauer, den autoritären, den konformistischen und den destruktiven Sozialcharakter. Tatsächlich ist die Darstellung des autoritären Charakters in Die Furcht vor der Freiheit die einzige, die Fromm von seinem bezogenheitstheoretischen Ansatz her entwickelt hat, während der „sadomasochistische Charakter“ (im Beitrag „Sozialpsychologischen Teil“, Fromm 1936) zwar phänotypisch auch den autoritären Charakter skizziert, aber noch ganz im triebtheoretischen Paradigma formuliert ist.

Versucht der autoritäre Charakter der Angst vor Isolation dadurch zu entkommen, dass er sich einer idealisierten Autorität unterwirft und so der Autorität ganz ergeben ist, sucht der konformistische Charakter seine soziale Zugehörigkeit über die Anpassung an das „Man“ der Öffentlichkeit oder des Marktes zu sichern. (In seinem 2. Buch mit dem deutschen Titel Psychoanalyse und Ethik hat Fromm 1947 diesen Sozialcharakter als „Marketing-Orientierung“ beschrieben.) Bei allen „Fluchtmechanismen“, mit denen der Mensch der unerträglichen Angst vor Isolierung zu entkommen trachtet, gerät das Individuum jedoch in Abhängigkeit von Ich-fremden Kräften.

Kommentar

Fromms Buch macht mit einer Psychoanalyse bekannt, die im psychoanalytischen Diskurs und insbesondere in der therapeutischen Ausbildung viel zu wenig Beachtung findet. Gleichzeitig gibt es dort heute eine ermutigende neue Aufmerksamkeit für politische und gesellschaftliche Probleme und eine entsprechende Suche nach psychoanalytischen Theorien und Methoden für deren Analyse. Die in Fromms Buch skizzierten und angewandten Methoden und Theorien, und hier vor allem sein Konzept des Sozialcharakters, sind zumindest wichtige Wegmarken; nach meinem Dafürhalten haben sie aber durchaus Modellcharakter, wie das Verhalten sozialer Gruppierungen in Geschichte und Gegenwart psychoanalytisch erkannt und empirisch erforscht sowie in seiner unbewussten Bedeutung verstanden werden kann. Dies lässt sich an einem anderen Freiheitsverständnis illustrieren, das heute zunehmend von einem Streben nach grenzenloser Selbstbestimmung angetrieben wird. Immer mehr Menschen sollen und wollen sich selbst und ihre Umwelt ohne Rücksicht auf naturale Vorgaben und soziale Maßgaben flexibilisieren und mithilfe digitaler Technik, elektronischer Medien und Simulationstechniken ihre Umwelt und auch sich selbst kreativ neu und anders gestalten. Eine solche Grundstrebung wurde von vielen Forschern in unterschiedlichen Perspektiven und Kennzeichnungen beschrieben: von der „Risikogesellschaft“ bei Beck über das „proteischen Selbst“ bei Lifton bis zur „postheroischen Persönlichkeit“ bei Dornes.

Mithilfe von Fromms sozial-psychoanalytischer Methode habe ich dieses neue Bezogenheitsmuster als „Ich-orientierten Sozialcharakter“ beschrieben (Funk 2005, 2011, 2018, S. 193–217). Diesen gibt es in einer aktiven und passiven Form: Der aktive Ich-Orientierte will selbst Wirklichkeit neu und anders herstellen und setzt deshalb auf Kreativität; der passive will an der neu geschaffenen Wirklichkeit selbstbestimmt Anteil haben; für ihn ist wichtig, was zu ihm passt. Ein dominierender Charakterzug ist das Streben nach „Ent-grenzung“ und „Ent-bindung“, also die Beseitigung von allen Grenzen und Bindungen, die einem selbstbestimmten Leben im Wege stehen. Dies ist mithilfe von Digitalisierung und Virtualisierung in Wissenschaft und Technik, aber auch bei der Wissensaneignung und Kommunikation auf weiten Strecken und auch sehr zum Vorteil des Menschen möglich.

Der psychologisch kritische Punkt betrifft die Anwendung von Simulationstechniken bei der mentalen Neukonstruktion der Persönlichkeit, mit der das eigene Antriebsleben durch Animation von außen „ent-grenzt“, die Bindung an eigene Gefühle (vor allem negativer Art) „ent-bunden“ und durch simulierte oder mitgefühlte Emotionen ersetzt wird. Das Identitätserleben wird je nach Gusto und Anlass neu erfunden und definiert sich nicht mehr aus der Praxis des eigenen Denkens, Fühlens, Urteilens und einer Eigenaktivität. Damit aber werden die Funktionen der gewachsenen Strukturen des Selbst immer weniger praktiziert; sie werden „de-aktiviert“ und verlieren ihre Kraft.

Im Blick auf die Freiheitsfähigkeit geht es dem selbstbestimmten Menschen um eine Freiheit, die keinerlei „Gesetztes“ („nomos“) duldet; es geht ihm also auch nicht um Autonomie – um selbst gesetzte Grenzen anstelle von heteronomen Grenzen, die von anderen gesetzt wurden, sondern um eine grenzenlose und bindungslose Freiheit, um eine im Wortsinne „rücksichts-lose“ Freiheit. Ich-Orientierte wollen verbunden sein, ohne sich auf irgendeine Weise gebunden zu erleben. Ein solches Verständnis von Freiheit unterscheidet sich deutlich von Fromms Theorie des Selbst und der daraus abgeleiteten Psychologie der Freiheit. Für Fromm (1941, S. 234) ist „das Wachstum der Stärke des Selbst“ entscheidend, weil nur die optimale Entwicklung und Praxis der mentalen Eigenkräfte ein angstfreies Selbsterleben und Miteinander ermöglichen. Nur ein Leben aus diesen „Eigenkräften“ („own powers“) des Selbst (Fromm 1947, S. 17 f.) macht den Menschen unabhängig von fremden Kräften, weil sie ihm von niemandem genommen werden können. Allerdings müssen sie praktiziert und geübt werden, um zur Verfügung zu stehen und dürfen nicht „de-aktiviert“ werden. „Use it or lose it“, sagen die Neurobiologen.

Um sich frei erleben zu können, geht der selbstbestimmte Mensch von heute eine zunehmend existenzielle Verbindung mit der Technik ein. Gefühle der Abhängigkeit und der Ohnmacht werden dabei von einer forcierten Selbstbestimmung und Nutzung elektronischer Medien und Simulationstechniken in der Verdrängung gehalten. Wir sind deshalb 80 Jahre nach der Publikation von Die Furcht vor der Freiheit auf weiten Strecken mit einem anderen Freiheitsverständnis konfrontiert. Bei einer sozial-psychoanalytischen Analyse entpuppt dieses sich allerdings als neuer Fluchtweg, der Angst vor der Freiheit und der Angst vor Isolation (die bei einer „rücksichts-losen“ Selbstbestimmung noch stärker ist) durch mediales Verbundensein und Simulation der Persönlichkeit zu entkommen. Oder muss angesichts der fantastischen Möglichkeit digitaler Technik und künstlicher Intelligenz die psychoanalytische Theorie des Selbst neu geschrieben werden?