Enrico Berlinguer: Der schüchterne Rebell
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Enrico Berlinguer: Der schüchterne Rebell

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Enrico Berlinguer im Jahr 1981.
Enrico Berlinguer im Jahr 1981. © Imago

Freiheit und Sozialismus: zum 100. Geburtstag des großen Eurokommunisten Enrico Berlinguer. Von Malte Osterloh.

Es ist ein kleiner Mann, der da am Pult steht. Schlank, fast hager, schmale Schultern, ein längliches Gesicht, aus dem ein melancholischer Zug nie zu weichen scheint. Aber er spricht mit fester, starker Stimme. Er spricht davon, dass seine Partei für eine sozialistische Gesellschaft kämpfe, in der die demokratischen Errungenschaften bewahrt würden und in der die Freiheit, sei es die des Individuums oder des Kollektivs, sei es die Freiheit der Kunst, der Kultur, der Religion oder der Wissenschaft garantiert werde. Seine Partei, die Kommunistische Partei Italiens, strebe eine sozialistische Gesellschaft an mit Hilfe verschiedener politischer Organisationen und Parteien, denn die Arbeiterklasse werde ihre historische Bedeutung nur in einem pluralistischen und demokratischen System finden.

Im Februar 1976 waren das ungewohnte Töne im Kreml und für den Kreml. Aber Enrico Berlinguer, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), der hier auf dem 25. Kongress der KPdSU in Moskau sprach, war in der Rolle des Rebellen kein Unbekannter. Bereits 1969 hatte er, damals noch nicht Generalsekretär, Moskau die Gefolgschaft verweigert, da auf der kommunistischen Weltkonferenz alle Länder eine gemeinsame zustimmende Erklärung zum Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei abgeben sollten. Auch das sorgte für große Aufmerksamkeit.

Es ist aber die Rede von 1976, die Berlinguer endgültig berühmt macht. Das „Time Magazine“ nennt ihn im Juni desselben Jahres „the most talked-about politician in Italy at the moment, and perhaps in all of Europe“. Und Berlinguer versteht es, in den Schlagzeilen zu bleiben. Im selben Monat gibt er dem „Corriere della Sera“ ein Interview, in dem er sagt, dass er sich in der Nato sicherer fühle als im Warschauer Pakt. Bedenkt man, wie viele Personen auf der Linken heute noch in der Nato den Gottseibeiuns sehen, wird deutlich, welche Wirkung die Aussage des Generalsekretärs der damals größten kommunistischen Partei Europas haben musste.

Vielleicht war es Berlinguers Herkunft, die es ihm, dem „visionären Moralisten“, wie Hans Woller ihn in seiner Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert nennt, leichter machte, der kommunistischen Nomenklatura entgegenzutreten. Geboren vor genau 100 Jahren, am 25. Mai 1922, in Sassari auf Sardinien, wuchs Berlinguer in einer aufgeklärten, gebildeten Aristokratenfamilie auf. Bereits Großvater und Vater waren politisch engagiert, Berlinguer tritt noch im Faschismus der Kommunistischen Partei von Sassari bei und wird bald deren Sekretär. 1944 nimmt er an den Brotaufständen in seiner Heimat teil, wird verhaftet und verbringt 100 Tage im Gefängnis. Kurz nach dem Krieg geht Berlinguer nach Rom, wo er von Palmiro Togliatti protegiert wird, der von 1947 bis zu seinem Tod 1964 Generalsekretär der PCI ist.

Berlinguer gefiel vor allem die Parteiarbeit im Hintergrund, er war ein zurückhaltender Mensch, die große Bühne suchte er nicht. 1968 wurde er geradezu widerwillig Parlamentsabgeordneter: Das Mandat war die Voraussetzung, um an die Spitze der PCI, zunächst als stellvertretender Generalsekretär, zu gelangen.

Die Schüchternheit, die ihm immer wieder attestiert wurde, war nicht aufgesetzt, sie machte gerade die Wirkung seiner öffentlichen Auftritte aus. Berlinguer gehörte zu den Menschen, deren Charisma sich auch aus der Distanz zu den Menschen nährt. Die besten Voraussetzungen für enge politische Verbindungen, die immer auch von persönlichen Beziehungen abhängen, sind das nicht. „Er ist ein guter Kamerad, aber nicht sehr kameradschaftlich“, so sagte mal ein führender Parteigenosse über ihn.

Berlinguers Reserviertheit sollte jedoch nicht über seine Entschlossenheit und seinen Mut hinwegtäuschen. Unter Berlinguer vollzog die CPI einen der bedeutendsten politischen Richtungswechsel. Sie wird koalitionswillig, sie bekennt sich zu Demokratie und Pluralismus, wie es Berlinguer in Moskau getan hatte. Der „historische Kompromiss“, den Berlinguer mit den Christdemokraten (DC) unter Aldo Moro schmieden will, begründet jener allerdings auch machtpolitisch: Selbst wenn die Kommunisten 51 Prozent der Bevölkerung hinter sich hätten, könnten sie ihre Vorstellungen nicht gegen eine Minderheit von gewaltigen 49 Prozent durchsetzen. Für die Veränderungen, die die PCI anstrebe und die revolutionär bleiben würden, brauche es ein politisches Bündnis, das in die Mitte der Gesellschaft hineinreiche und gerade auch die Katholiken einschließe.

Nach den Wahlen 1976, bei denen die PCI mit 34,4 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft hinter den Christdemokraten wurde, tolerierten die Kommunisten zunächst die christdemokratische Minderheitsregierung, um später, so die Abmachung zwischen den beiden Parteien, gemeinsam eine Regierung zu bilden. Mit der Entführung und Ermordung Aldo Moros 1978 durch die Roten Brigaden verlor Berlinguer seinen wichtigsten Partner in der DC. Nachdem die angekündigten Reformen ausblieben, kündigte Berlinguer das Bündnis auf.

Berlinguer glaubte bis zuletzt, dass der „historische Kompromiss“ an der Ermordung Moros gescheitert sei und dass die Roten Brigaden eben das bezweckt hätten, um eine Verbürgerlichung der PCI zu verhindern. Inzwischen weiß man, dass die Christdemokraten niemals vorhatten, die Kommunisten an der Regierung zu beteiligen.

In der Folge verlor die PCI viele Mitglieder und vor allem Wähler. Berlinguer blieb ein beliebter Politiker. Zu seiner Beerdigung 1984 in Rom kamen mehr als eine Million Menschen, unter ihnen ein für sowjetische Verhältnisse junger Politiker, zu dem Berlinguer schon früh ein gutes Verhältnis hatte: Michail Gorbatschow.

Berlinguer ist ein Säulenheiliger der italienischen Linken geworden. Als sich vor kurzem Matteo Salvini auf ihn berief, war die Aufregung enorm. Dass man sich in Italien – und nicht nur da -auch abseits seines runden Geburtstages des Mannes erinnert, der für Freiheit, Pluralismus und Demokratie in seiner kommunistischen Partei und gegenüber Moskau eintrat, wäre zu wünschen. Denn Enrico Berlinguer war ein großer Mann.

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