Flucht mag als nicht ehrenvoll gelten, doch manchmal ist sie einfach nur vernünftig. Gegen 12.53 Uhr am 25. Juli 1934 kam ein Kommando aus 144 Männern der Wiener SS-Standarte 89 vor dem Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz an, geführt wurde es vom ehemaligen Unteroffizier des österreichischen Bundesheeres Franz Holzweber. Die in Heeres- und Polizei-Uniformen gekleideten Putschisten besetzten die Wache und den Hof.
Dann hasteten etwa zehn von ihnen, geführt von dem unehrenhaft entlassenen Stabswachtmeister Otto Planetta, hinauf in den ersten Stock zu den Arbeitsräumen von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß. Etwa um 13 Uhr erzwangen sie sich Zutritt zum Büro des Regierungschefs. Dollfuß tat das einzig Vernünftige: Er versuchte zu entkommen, über einen angrenzenden Sitzungssaal und eine versteckte Wendeltreppe. Die Putschisten aber holten ihn ein.
Beim folgenden Handgemenge löste sich ein Schuss aus Planettas Pistole und traf Dollfuß aus nicht mehr als 15 Zentimetern links in den Nacken. Die Kugel lähmte den Kanzler sofort und verletzte ihn tödlich, doch er starb erst knapp drei Stunden später, um 15.45 Uhr. Ärztliche Hilfe oder geistlichen Beistand gewährten ihm die Putschisten nicht.
Mit diesem Mord endete der Versuch, Deutsch-Österreich als selbstbewussten Staat zu etablieren, unabhängig vom großen Nachbar. Wie kein anderer hatte Engelbert Dollfuß dafür gestanden, schon bevor in Berlin Adolf Hitler an die Macht kam und erst recht danach. Und dabei war der Mann alles andere als ein Demokrat.
Nach dem Scheitern einer geplanten Zollunion mit dem Deutschen Reich 1931 fanden die katholisch-konservativen Christlichsozialen, die neben der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) größte Partei Österreichs, Gefallen an der Unabhängigkeit. Zugleich verschärfte sich die Konfrontation zwischen Sozialdemokraten – die Kommunisten spielten in Österreich keine Rolle – und den anderen Parteien.
Immer schneller wechselten sich die Regierungen im Wiener Bundeskanzleramt am Ballhausplatz nun ab. Dann beauftragte Bundespräsident Wilhelm Miklas im Frühjahr 1932 den erst 39-jährigen Bauern-Funktionär Dollfuß mit der Regierungsbildung. Der mit 1,53 Metern körperlich kleine Mann verfügte über einen gewaltigen Machtinstinkt und Sendungsbewusstsein – er wollte ein unabhängiges, autoritär regiertes Österreich schaffen, dominiert von katholisch-konservativen Kräften.
Dollfuß machte sich geschickt an die Durchsetzung seiner Ziele. Anfang März 1933 nutzte er einen Geschäftsordnungsstreit, um die Rechte der Volksvertretung zu suspendieren, zwei Monate später ließ er den erneuten Zusammentritt der Parlamentarier mit Gewalt verhindern. Fortan herrschte er als Diktator.
Da gleichzeitig in Deutschland die Regierung Hitler ihre Macht ausbaute, fiel es Dollfuß nicht schwer, seine katholisch-konservative Anhängerschaft für seinen Weg eines autoritären Regimes zu gewinnen. Die österreichischen Nationalsozialisten waren schon seit 1930 immer wieder mit kleineren Terroranschlägen negativ aufgefallen; sie galten zu Recht als Gefährdung von Ruhe und Ordnung.
Dollfuß lehnte sich jetzt an den zu dieser Zeit ebenfalls noch Hitler-skeptischen italienischen Machthaber Benito Mussolini an. Mit ihm einigte er sich auf die Abschaffung der demokratischen Institutionen Österreichs und den Aufbau einer neuen, „ständischen“ Verfassung – faktisch einer Diktatur der Christlichsozialen; politische Gegner wurden inhaftiert.
Das Dollfuß-Regime wurde damals oft als „Austro-“ oder „Klerikalfaschismus“ bezeichnet – doch diese Bezeichnungen trafen die Realität dieser autoritären Regierung nicht wirklich. Denn Ideologie war für Dollfuß mehr Beiwerk als Kern seiner Herrschaft.
Die dennoch gnadenlos ihre Gegner bekämpfte. Am 12. Februar 1934 dann die Eskalation: Radikale Teile der SDAP wehrten sich, teilweise mit Maschinengewehren, gegen den Versuch der Polizei, sie zu entwaffnen. Sie besetzten die größte Sozialwohnungsanlage der Welt, den Karl-Marx-Hof, und lieferten sich mit Ordnungskräften Feuergefechte. Der Aufstand griff auf Industriestädte wie St. Pölten oder Steyr über. Insgesamt gab es mehr als 350 Tote, fast die Hälfte davon Unbeteiligte. Neun Anführer des Aufstandes wurden in Schnellgerichtsverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Mit Wissen und Billigung Hitlers bereiteten die illegalen österreichischen Nationalsozialisten ihren Putsch vor, den sie am 25. Juli 1934 umsetzten. Der Mord am Bundeskanzler jedoch desavouierte ihr Vorhaben, denn Mussolini unterstützte ein letztes Mal Österreich gegen das Dritte Reich. Planetta und Holzweber, die Haupttäter, wurden ebenso wie elf Mittäter am Würgegalgen hingerichtet. Knapp vier Jahre später marschierten die Deutschen in Österreich ein – der „Anschluss“.
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