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„Wer Jude ist, bestimme ich!“

Der gute und der böse Göring: Francis Fulton-Smith als Herrmann (rechts) und Barnaby Metschurat als Albert Göring (links) in der ARD Der gute und der böse Göring: Francis Fulton-Smith als Herrmann (rechts) und Barnaby Metschurat als Albert Göring (links) in der ARD
Der gute und der böse Göring: Francis Fulton-Smith als Herrmann (rechts) und Barnaby Metschurat als Albert Göring (links) in der ARD
Quelle: NDR / Das Erste
Das ARD-Dokumentarspiel „Der gute Göring“ zeigt das komplizierte Verhältnis zwischen Hermann Göring, dem Reichsmarschall, und seinem jüngeren Bruder Albert, der Hitler verachtete und Verfolgten half.

In den US National Archives an der Pennsylvania Avenue in Washington wird ein fünf Seiten umfassendes Schriftstück verwahrt, das zu den interessantesten Dokumenten des deutschen Schicksalsjahres 1945 zählt: eine Liste mit 34 Namen und Erläuterungen. Sie stehen für Schicksale, denen eines gemeinsam ist: Diese Menschen hätten das NS-Regime nicht überlebt, wenn ihnen nicht ein Mann geholfen hätte, dessen Familienname auf das Engste mit den Verbrechen dieses Herrschaftssystems verbunden war: Albert Göring (1895–1966).

Der jüngere Bruder des Reichsmarschalls von Hitlers Gnaden, Hermann Göring, schrieb diese alphabetische Liste im Mai 1945 als Gefangener des Seventh Army Interrogation Center (SAIC) im Augsburger Stadtteil Bärenkeller. Die Überschrift lautet: „Menschen, denen ich bei eigener Gefahr (dreimal Gestapo-Haftbefehle!) Leben oder Existenz rettete“. Darunter waren prominente Namen: der frühere österreichische Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg, Erzherzog Joseph Ferdinand von Österreich-Toskana aus dem Hause Habsburg-Lothringen, die jüdischen Ehepartner des Operettenkönigs Franz Lehar, des Schauspielers Hans Moser, des Kinostars Henny Porten.

Die Liste umfasst, wie wir heute wissen, nur einen kleinen Teil derer, denen Albert Göring in den zwölf Jahren NS-Herrschaft half: Deutsche und Ausländer, Juden und Nichtjuden, Prominente und kleine Leute, Reiche und Arme. Er hat sie beschützt, vor Gefahren gewarnt, aus dem Konzentrationslager geholt und ihnen zur Flucht verholfen. Er organisierte die erforderliche Logistik, sorgte für falsche Pässe und Fluchtgeld. Sein mächtiger Bruder, der Reichsmarschall, hat ihn immer wieder gedeckt. Dabei konnten beide gegensätzlicher nicht sein – in der äußeren Erscheinung, in ihren charakterlichen Eigenschaften, im Lebensstil, in ihren Ansichten.

„Er ist kein schlechter Kerl“

Mutig und zäh hat Albert Göring gegen das Herrschaftssystem gearbeitet, zu dessen führenden Machthabern sein Bruder gehörte. Und doch blieben sie einander nahe. In seiner Nürnberger Gefängniszelle beschrieb Hermann Göring dem US-Psychiater Leon Goldensohn die Unterschiede zwischen den beiden Brüdern so: „Er war stets das genaue Gegenteil von mir. Er interessierte sich nicht für Politik oder das Militär, ich schon. Er war still, zurückgezogen; ich liebe Menschenansammlungen und die Geselligkeit. Er war schwermütig und pessimistisch, ich bin ein Optimist. Aber er ist kein schlechter Kerl, dieser Albert.“

Albert Göring und seine Frau Mila Klazarova im Jahr 1942
Albert Göring und seine Frau Mila Klazarova im Jahr 1942
Quelle: ullstein bild

Das diffizile Verhältnis zwischen diesen beiden Männern ist das eigentliche Thema des ARD-Films „Der gute Göring“. Er schildert fünf historisch belegte Schlüsselszenen, in denen sich Hermann und Albert Göring begegnen. Bei einem dieser Treffen im Jahr 1935 bittet Hermann auf Wunsch seiner Ehefrau Emmy Göring, einer früheren Schauspielerin, seinen um zwei Jahre jüngeren Bruder, der in der Filmindustrie gut vernetzt ist, um Hilfe für den Filmstar Henny Porten, die mit einem Juden verheiratet ist. Albert Göring tut, worum er gebeten wurde.

Bei dieser Gelegenheit lernt er einen Standpunkt seines Bruders kennen, den er sich zunutze machen wird: „Wer Jude ist, bestimme ich!“ Bei einer Begegnung im Dezember 1944 muss Hermann Göring, der morphiumsüchtige Reichsmarschall, seinen Bruder vor der Gestapo Heinrich Himmlers schützen, die längst eine umfangreiche Akte über Albert Görings „staatsfeindliche“ Aktivitäten angelegt hat und ihn liquidieren will.

„Einer der plattesten Versuche einer Reinwaschung“

Am 13. Mai 1945 sehen sich Hermann und Albert Göring zum letzten Mal, nun beide als Häftlinge des Augsburger Verhörzentrums der 7. US-Armee. Ihr langer Dialog, den sie bei einem Hofgang fortsetzen, gehört zu den stärksten, ungemein dichten Szenen dieses Dokumentarspiels. Sie bilden das tatsächliche Geschehen möglichst authentisch ab, was dem Film zu einem dramatischen Höhepunkt verhilft, denn die historischen Fakten waren so: Als der diplomierte Maschinenbauingenieur Albert Göring, zuvor Manager der Skoda-Werke, sich am 9. Mai 1945 freiwillig der US-Armee gestellt hatte, sah er sich sogleich dem Verdacht ausgesetzt, er sei ein Mittäter oder zumindest Profiteur der Verbrechen seines mächtigen Bruders.

Vergeblich beteuerte Albert Göring, er sei nie ein NS-Anhänger und auch kein Parteimitglied gewesen, und mit den Verbrechen des NS-Regimes habe er nichts zu tun, sondern er habe dieses Regime verabscheut. Auch hätten viele NS-Verfolgte ihm Leben und Freiheit zu verdanken, weil er sich mit seinem prominenten Namen für sie eingesetzt habe. Aus dem Gedächtnis schrieb er die Liste mit den 34 Namen nieder, mit denen er seine Angaben beweisen wollte.

„Ich glaube, dass Albert Göring ein sehr lebensfroher Mensch war. Er war dem Schönen verfallen, den Künsten und den Frauen. Er muss auch viel verdrängt haben.“
Barnaby Metschurat, als Albert Göring

Die SAIC-Ermittler diskutierten den Fall: Der Bruder des zweitmächtigsten Mannes in Hitlers Staat ein Widerstandskämpfer, ein Mann, der für völlig Fremde Freiheit und Leben riskierte – konnte das sein? Sie waren sicher: Was dieser Albert Göring ihnen auftischte, war ein Lügenmärchen, inszeniert von Hermann Göring. US-Major Paul Kubala notierte jedenfalls aufgebracht in seiner Ermittlungsakte: „Das Ergebnis der Vernehmung von Albert Göring ist einer der plattesten Versuche der Ehrenrettung und Reinwaschung, die das SAIC je erlebt hat.“

Was er vorbrachte, erwies sich als wahr

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Jedoch ergab sich bald aus den langen Vernehmungen Hermann Görings, dass sein Bruder die Wahrheit gesagt hatte. Der Reichsmarschall ohne Reich wurde in Augsburg von Eric Warburg, Oberstleutnant der US Air Force, verhört. Der Sohn des Hamburger Bankiers Max Warburg war 1938 als letzter seiner jüdischen Familie in die USA emigriert. Er stellte Göring mehr als 500 Fragen, auch zu den Intrigen und Machtkämpfen innerhalb der NS-Führung. Damit kam auch das Verhältnis zu seinem Bruder zur Sprache.

Unterdessen arbeitete das SAIC Albert Görings Liste ab, und Fall für Fall ergab sich: Es stimmte, was er angeführt hatte. Der letzte SAIC-Offizier, der das erkannte, war US-Major Victor Parker. Der war deutschstämmig. Geboren war er mit dem Familiennamen Paschkis, den er anglisiert hatte. Er wurde stutzig, als er auf Albert Görings Liste unter der Nummer 15 „Frau Franz Lehar“ fand. Das war seine Tante Sophie Paschkis, die jüdische Ehefrau des Komponisten. Sie überlebte, weil Albert Göring ihr mithilfe seines Bruders einen schützenden Sonderstatus verschafft hatte.

Auch in Nürnberg wurde Albert Göring als Zeuge gehört. Als das beendet war, stand seiner Freilassung eigentlich nichts mehr im Wege. Doch es gab ein Auslieferungsersuchen der Tschechoslowakei, die Albert Göring wegen seiner Tätigkeit für den Skoda-Konzern den Prozess machen wollte. Im August 1946 wurde er nach Prag überstellt, von den Tschechen misshandelt und gefoltert. Aber auch in diesem Verfahren zeigte sich: Was er vorbrachte, erwies sich als wahr. Es meldeten sich zahlreiche Entlastungszeugen, vor allem Skoda-Mitarbeiter und Mitglieder der tschechischen Widerstandsbewegung, die seine Hilfsbereitschaft und seinen Mut bekundeten. Zudem war seine Gestapo-Akte gefunden worden, deren Inhalt mit den Aussagen der Entlastungszeugen übereinstimmte.

Nichts, kein Verbrechen, wird relativiert

Im März 1947 wurde Albert Göring von den Tschechen freigelassen und konnte zu Ehefrau Mila Klazarova und dem kleinen Töchterchen Elisabeth nach Salzburg zurückkehren. Aber ein Deutscher hatte es nun schwer in Österreich. Denn dort sah man sich als Opfer, nicht als Mittäter Hitlers. Die Ehe zerbrach. Albert Göring übersiedelte nach München. Doch sein Familienname erwies sich als bleierne Last. Er wurde gemieden. Sein Mut, seine Menschlichkeit in schwerster Zeit zählten nicht mehr.

Albert Göring (Barnaby Metschurat) hilft dem Filmstar Henny Porten (Natalia Wörner)
Albert Göring (Barnaby Metschurat) hilft dem Filmstar Henny Porten (Natalia Wörner)
Quelle: Beate Wätzel/Vincent TV/NDR

In diesen Jahren bitterer Armut und Arbeitslosigkeit wurde er von Überlebenden des NS-Regimes, denen er geholfen hatte, unterstützt. Er arbeitete gelegentlich als Autor und Übersetzer. Am 20. Dezember 1966 starb er, verbittert und vergessen, an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Seine Schwägerin Emmy Göring versuchte nach dem Krieg, ihre Rolle in der NS-Zeit als völlig unpolitisch darzustellen. Prominente Schauspieler, unter anderem Gustaf Gründgens, attestierten ihr, sie habe sich nachdrücklich für jüdische Kollegen eingesetzt. Sie starb 1973 80-jährig in München.

Diese Produktion, knapp 90 Sendeminuten, setzt die lange Tradition beeindruckender Dokumentarspiele in der ARD fort. Da die unmittelbaren Zeitzeugen sämtlich verstorben sind, musste die Lücke mit aufwendigen Spielszenen überbrückt werden, die rund 70 Prozent des Films ausmachen. Es ist ein anspruchsvoller Film geworden, der die Zuschauer fordert und ihnen nichts erspart – auch nicht die Dokumentaraufnahmen der Judenerschießungen. Keines der Verbrechen, die Hermann Göring zu den furchtbaren Gestalten des Dritten Reiches werden ließen, wird relativiert. Er wurde am späten Abend des 15. Oktober 1946 tot in seiner Nürnberger Zelle aufgefunden. Kurz vor dem Gang zum Galgen, den er als erster Delinquent antreten sollte, hatte er eine verborgene Giftkapsel geschluckt.

„Mit Göring konnte man nichts werden“

Der Film hat eine hochkarätige Besetzung. Francis Fulton-Smith als Hermann Göring: „Ohne die historische Dimension gegenüber den Opfern zu keiner Sekunde aus den Augen verlieren zu dürfen war es für mich wichtig, die Unberechenbarkeit dieses machtbesessenen Egomanen zu erahnen. Wie bei einem Haifisch, der seine Beute umkreist, wusste man auch bei Hermann Göring nie, ob er einen Scherz macht oder ob der eigene Lebensabend in erschreckende Nähe gerückt war. “

Hermann Göring als Flieger im Ersten Weltkrieg

Im Gegensatz zu Hitler war Hermann Göring im Ersten Weltkrieg ein Kriegsheld. Als Pilot errang er 22 Luftsiege und führte am Ende das Geschwader, das einst Manfred von Richthofen kommandiert hatte.

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Barnaby Metschurat, der Albert Göring verkörpert: „Ich glaube, dass Albert Göring ein sehr lebensfroher Mensch war. Er war dem Schönen verfallen, den Künsten und den Frauen. Ich denke, er muss auch eitel gewesen sein. Und er muss auch viel verdrängt haben.“ Regisseur Kai Christiansen empfand es als die größte Herausforderung dieses Filmprojekts, dass „diese beiden sehr unterschiedlich arbeitenden Schauspieler in eine fruchtbare Auseinandersetzung kommen.“ Das ist ihm zweifellos gelungen. Mit Natalia Wörner als Henny Porten, Anna Schudt als Emmy Göring und Agnes Lindström Bolmgren als Carin Göring konnte Kai Christiansen sich auf drei exzellente Schauspielerinnen stützen.

Sandra Maischberger, die Koproduzentin dieses Dokumentarspiels, stellt in der ARD-Begleitbroschüre die Kernfrage der Causa Albert Göring aus heutiger Sicht: „Wieso haben wir ihn nicht gekannt? In den Sechzigerjahren wollte sich in Deutschland niemand für ihn interessieren. Und so fand seine Geschichte über erstaunliche Umwege zu uns, mit einer schier unglaublichen Verspätung.“ Eine britische TV-Dokumentation zur Jahrtausendwende, das Buch „Hermanns Bruder“ des australischen Autors William Hastings Burke im Jahr 2012, ein paar Zeitschriftenaufsätze – von den beamteten deutschen Zeithistorikern keine Spur.

Der frühere Journalist Gerhard Spörl, einer von zwei Autoren des Drehbuchs, hat dafür eine klare Antwort: „Es war lange Zeit hindurch nicht förderlich für die akademische Karriere. Mit einem Göring konnte man nichts werden. Also ließen die jungen Historiker die Finger davon. Heute reicht das zum Glück nicht mehr.“

"Der gute Göring", 10. Januar, 21.45 Uhr, ARD

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