Emmi Zeulner: „Es sind wir alle, die zusammenwirken müssen“ - Health&Care Management

Interview Emmi Zeulner: „Es sind wir alle, die zusammenwirken müssen“

Beim Europäischen Gesundheitskongress am 26. und 27. Oktober 2023 in München war Bundestagsabgeordnete Emmi Zeulner zu Gast. Im anschließenden Gespräch mit HCM erklärt sie, warum sie die Gesundheitspolitik auf Bundesebene kritisiert und welche Vorschläge sie für die drängenden Fragestellungen der Krankenhausreform, Ambulantisierung und Entwicklungen in der Pflege hat.

Emmi Zeulner
Emmi Zeulner, Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Kulmbach, Lichtenfels, Bamberg-Land. – © Fotostudio Kögler

Emmi Zeulner ist seit 2013 Mitglied im Deutschen Bundestag für den Wahlkreis Kulmbach, Lichtenfels, Bamberg-Land und ist derzeit nicht zuletzt wegen ihrer fachlichen Expertise in der Gesundheitswirtschaft als potenzielle Kandidatin für das offene Amt an der Spitze des Bayerischen Gesundheitsministeriums im Gespräch. HCM hat die examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin in München getroffen und mit ihr darüber gesprochen, wie es gelingen kann, endlich den Anstoß für die diskutierten Veränderungen in der Gesundheitsversorung zu machen.

HCM: In ihrer Eröffnungsrede zum 22. Europäischen Gesundheitskongress warf Kongressleiterin Claudia Küng die Frage auf, die sich derzeit, viele Akteure der Versorgungslandschaft stellen: „Wer kann uns retten?“ Was antworten Sie darauf, Frau Zeulner, ist es die Politik, nach der oft gerufen wird?

Zeulner: Ich spüre immer wieder in Gesprächen, dass es diese große Sehnsucht nach einem großen, starken Mann gibt, der kommt und auf den Tisch haut und alle Probleme löst. Aber der wird nicht kommen. Es gibt gerade im Gesundheitswesen keine einfachen Antworten, aber es gibt Lösungen. Sie fordern neue Formen sektorenübergreifender Zusammenarbeit und die Aufgabe von besitzstandorientierten Blockaden. Auch die Gesellschaft ist gefragt: sie muss bereit sein, Veränderungen mitzutragen. In der Politik muss es gelingen, kluge Konzepte zu entwickeln, die auch die Menschen überzeugen. Die Herausforderungen sind drängend, sie sind absehbar – und wir müssen ihnen begegnen. Das betrifft nicht nur die Gesundheitspolitik. Insofern: Ja, die Politik hat eine wichtige Rolle beim demografiefesten Umbau der Versorgungslandschaft. Und jeder Akteur im Gesundheitswesen muss sich seiner Verantwortung für das Gesamtsystem bewusst sein. Es geht nur gemeinsam.

HCM: Sind Sie denn der Meinung, dass die Politik, sofern man überhaupt von der einen Politik sprechen kann, derzeit den notwendigen Rahmen schafft?

Zeulner: Gesundheitspolitik gehört zu den schwierigsten Politikbereichen überhaupt. Für die Gesundheitspolitik des Bundes ist aktuell Karl Lauterbach maßgeblich verantwortlich. Er ist der Gate Keeper und kann für Vorschläge Türen öffnen oder schließen. Die Einberufung der Regierungskommission in der Umgestaltung der Krankenhausstruktur war richtig – Experten sind gefragt – die Besetzung ein Affront – handverlesen ohne Beteiligung maßgeblicher Akteure. Chance vertan. Leider kennen wir diese Alleingänge von Karl Lauterbach. Er greift wichtige Themen auf, aber nie kooperativ.

Ein Arbeitsauftrag für die Zeit nach Lauterbach

HCM: Sie plädieren für eine Enquete-Kommission, die ergänzend zur Regierungskommission, v.a. die Verbindung von Ambulant und Stationär in den Fokus nimmt. Wie stellen Sie sich das genau vor?

Zeulner: In meinem Vorschlag der Enquete-Kommission geht es ganz gezielt um die sektorenübergreifende Versorgung – ein Dauerthema, das nicht lösungsorientiert angegangen wird. Das erleben wir derzeit auch in der Krankenhausreform. Der ambulante Bereich wird dort minimal mit Blick auf die sektorenübergreifenden Bestandteile adressiert, nämlich den wichtigen Level-1i-Häuser, die nach derzeitiger Konzeption aber kaum fliegen werden. Auch die Schnittstellen zur Langzeitpflege werden ausgeblendet. Dabei ist dieses Thema vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und des demographischen Wandels entscheidend. Eine Enquete-Kommission kann hier den Unterschied machen, weil sie sowohl Experten als auch Parlamentarier beinhaltet und einen Arbeitsauftrag für die Zeit nach Karl Lauterbach definiert.

HCM: Dann also noch eine Kommission?

Zeulner: Die Expertenkommission von Herrn Lauterbach ist etwas grundlegend anderes als eine Enquete-Kommission. Herr Lauterbach sucht eine Roadmap für seine Krankenhausreform, die stockt. Das nervt auch Mitglieder der Regierungskoalition. Mir geht es um eine langfristige Perspektive – über die Legislatur hinaus. Da müssen wir alle mitnehmen.

HCM: Wie sähe das denn konkret aus?

Zeulner: Wir haben jetzt auf der Bundesebene noch ein Jahr Zeit uns intensiv der inhaltlichen Arbeit zu widmen. Ein Jahr vor der Bundestagswahl werden große Projekte nicht mehr angefasst. In einer neuen Regierung sind die ersten 100 Tage entscheidend und da brauchen wir bei der sektorenübergreifenden Versorgung schlicht eine Strategie und ein Konzept, das breit getragen wird. Wir können uns das versäulte System in der Krankenbehandlung und Pflege schlicht nicht mehr leisten. Denn wenn wir sogenannte „Drehtüreffekte“ in die Krankenhäuser hinein nicht massiv vermeiden,  wird die Krankenhausreform nicht mal im Ansatz zu einer Verbesserung führen.

Europäischer Gesundheitskongress
Emmi Zeulner auf dem Podium des Europäischen Gesundheitskongresses in der Session „Ambulant und stationär wachsen zusammen“. – © HCM

„Revolution“ in der Pflege statt allein im Krankenhausbereich

HCM: Ihnen fehlt also aktuell ein konkretes Maßnahmenpaket, das bereit für die Umsetzung ist.

Zeulner: Genau. Für mich ist die Lehre aus der Arbeit der Regierungskommission – und das wurde auch in den Diskussionen des Europäischen Gesundheitskongresses deutlich – dass viele Bereiche – allen voran der ambulante Sektor – völlig vergessen werden. Lauterbach spricht ja von einer Revolution im Krankenhausbereich. Klaus Holetschek und ich sprechen dagegen von einer Revolution in der Pflege, weil wir wissen, dass ohne eine Stabilisierung der ambulanten Versorgung eine Krankenhausreform wirkungslos bleibt. Wenn wir den ambulanten Teil der Gesundheitsversorgung nicht so organisiert bekommen, dass ein tragendes Netzwerk entstehen kann, das im  demografischen Wandel trägt, bringt uns selbst ein ideal gestalteter Krankenhaussektor nicht den gewünschten Effekt. Ich sehe die Gefahr, dass die Krankenhäuser überrannt werden, wenn wir die Menschen in Strukturen zurücklassen, in denen sie sich hilflos fühlen.

HCM: Sie plädieren damit für einen ganzheitlichen Ansatz. Kommt darin auch Prävention vor?

Zeulner: Definitiv. Es müssen in der Umgestaltung der Rahmenbedingungen alle Bereiche der Gesundheitsversorgung einbezogen werden. Die Prävention gehört dazu. Wir wollen ja chronische Krankheiten und Pflegebedürftigkeit vermeiden!

HCM: Wie könnte das gelingen?

Zeulner: Dafür können wir uns digitale Tools hervorragend zu Nutze machen. Das passiert z.B. gerade in Oberfranken, wo eine Innovative Hausarztpraxis die App „Happen“ einsetzt, mit der Menschen mit ähnlichen gesundheitlichen Herausforderungen geclustert angesprochen werden. Ich bin aber auch eine große Anhängerin der Schulgesundheitsfachkraft.  Denn es ist essenziell, Gesundheitsbildung mit Kindern und Jugendlichen zu teilen.  Gesundheitskompetenz stärkt die Resilienz. Grundsätzlich gilt: Prävention muss dort stattfinden, wo die Menschen leben – in den Dörfern, Stadtteilen, am Arbeitsplatz – in ihren Lebenswelten.

„Die Ärzte müssen ihren Widerstand aufgeben“

HCM: Lassen Sie uns die Pflege, Ihre Profession, nochmals ins Bild holen. Sie sprachen bereits vorher die „Revolution in der Pflege“ und damit das kürzlich vorgestellte Positionspapier von CDU/CSU „Die Pflege zukunftsfest machen“ an. In welcher Rolle sehen sie die Pflege künftig?

Zeulner: Die Pflege steckt in allen Teilen der Gesundheitsversorgung. Wenn wir die Pflege nicht gut organisiert bekommen, bringt uns auch eine Krankenhausstrukturreform nicht weiter. Das sehen wir aktuell in Bayern, wo 15 Prozent der Krankenhausbetten nicht betrieben werden können, weil Pflegekräfte fehlen. Wir setzen mit unserem Positionspapier da an, wo gepflegt wird: zu Hause bei und mit den pflegenden Angehörigen. Hier brauchen wir Unterstützung, z.B. analog zum Elterngeld ein Pflegegeld. Aber wir fokussieren auch die regionale und die Pflege im Quartier. Die Kommunen spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Parallel müssen wir die Professionalität der Pflege stärken. Wir müssen den Professionellen der Pflege endlich das Vertrauen schenken, das sie verdienen. Und wir müssen ihre Kompetenzen erweitern. Ein Thema ist die Heilkundeübertragung. Die Ärzte müssen ihren Widerstand aufgeben.

HCM: Eine große Forderung. Wo sehen Sie hier Ansatzmöglichkeiten?

Zeulner: Die Profession der Pflege muss in ihrer ureigenen Kompetenz und ihrer Eigenständigkeit anerkannt werden und sie muss in partnerschaftlicher Kooperation mit den Ärzten ein größeres Aufgabenfeld erhalten. Sonst klappt das mit der gesundheitlichen Versorgung nicht. Das müssen wir mit der Ärzteschaft diskutieren. Sie ist hier Lösung und Problem zugleich. Wenn wir als Pflege unsere Kompetenzen aber voll einsetzen sollen, brauchen wir eine standesrechtliche Vertretung. Das ist für mich die Vereinigung der Pflegenden in Bayern, die sich neben der Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildung auch für die Belange in der Heilkundeübertragung einsetzt.

HCM: Welchen Beitrag leistet da das Pflegestudiumsstärkungsgesetz?

Zeulner: Das Pflegestudiumstärkungsgesetz schreibt verpflichtend Ausbildungsmodule für Hochschulen vor, die Pflegekräfte dazu befähigen sollen, Heilkunde auszuüben. Aber es fehlt der entscheidende Schritt bezüglich des Leistungsrechts und in Richtung der Ärzteschaft, Aufgaben zu teilen und zu reorganisieren. Wir befähigen also gerade die hochschulisch ausgebildete Pflege per Gesetz zur Übernahme von Aufgaben, ohne die entscheidenden Punkte für die Praxis zu regeln. Und tragisch ist, dass die berufserfahrenen Kräfte, die jetzt die Versorgung am Laufen halten, im Gesetzgebungsverfahren schlicht vergessen wurden.

HCM: Lassen Sie und kurz auf die von Ihnen angesprochene Vereinigung der Pflegenden in Bayern schauen, in der sie ja auch Mitglied sind. Sie steht ja als Insellösung derzeit zwei, vielleicht bald drei Pflegekammern in Deutschland gegenüber. Würden Sie mit Blick auf diese Entwicklungen auch eine Pflegekammer in Bayern befürworten?

Zeulner: Ich war immer auch Freund einer Pflegekammer. Sie sind aber auch keine einfache Lösung, wie die Beispiele Niedersachsen und Schleswig-Holstein zeigen. Da die Vereinigung der Pflegenden in Bayern aber viel von einer Kammer hat, sehr gute Arbeit leistet, ist sie derzeit eine interessante Variante beruflicher Selbstverwaltung, die es weiter zu entwickeln gilt. Pflegekräfte wollen nicht zwangsbeglückt werden, wenn es um ihre Selbstorganisation geht. Darüber kann man nicht einfach hinweg gehen. In den ostdeutschen Bundesländern hätte sie gar keine Chance. Für mich geht es darum, dass Kompetenzen gebündelt werden, um den Beruf weiterzuentwickeln und eine starke Standesvertretung zu haben. Deshalb geht mein Appell an alle Pflegekräfte, Mitglied zu werden.

„Caring Community“ als Basis

HCM: Zeichnen Sie uns zum Abschluss ein Zukunftsszenario, wie Sie sich die Gestaltung von Gesundheits- und Pflegepolitik künftig wünschen würden?

Zeulner: Es geht darum, gleichwertige Lebensverhältnisse zu sichern. Die Bedarfe einer Großstadt sind anders als die im ländlichen Raum. Die Aufgabe, die Versorgung einer der ältesten Gesellschaften der Welt zu organisieren, müssen wir beherzt annehmen. Grundlage dafür ist aus meiner Sicht, in unserem Land das Bewusstsein“ wir sind eine „caring community““ zu verankern. Die Menschen sind in Sorge um die Pflege. Wenn wir das Thema nicht ernstnehmen – auch in der Landesregierung Bayern, verlieren wir noch mehr Systemvertrauen in der Bevölkerung. Demokratie und Sorge haben viel miteinander zu tun. Wir müssen um Bedingungen guten Lebens vor Ort und gemeinsam ringen. Pflege ist Teil der Daseinsvorsorge. Darum gehört das Thema Pflege (auch) auf die kommunale Ebene. Hier wird gepflegt, hier müssen wir die Versorgung sicherstellen. Hier müssen wir planen. In den seniorenpolitischen Gesamtkonzepten und in den Gesundheitsregionen Plus wurde das im Ansatz etabliert. Gelingt uns das nicht, laufen wir Gefahr, dass wir immer mehr Menschen an extreme Parteien verlieren.

HCM: Eine letzte Frage: Im HCM-Interview mit CSU-Fraktionsvorsitzenden Klaus Holetschek zu seinem Abschied vom Posten des Bayerischen Gesundheits- und Pflegeministers ging es auch um Ihre Chancen auf seine Nachfolge. Zu dem Zeitpunkt war noch nichts Genaues bekannt. Aber vielleicht haben Sie dazu ja jetzt eine Einschätzung für uns?  

Zeulner: Das Amt braucht viel Sachverstand. Es geht darum, das was Klaus Holetschek begonnen hat fortzusetzen – und das mit Leidenschaft und Herzblut. Aus meiner Sicht war es wichtig, dass das Ministerium in CSU-Hand bleibt. Die Entscheidung trifft der Ministerpräsident.