Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird die frühe Nietzscherezeption und ihre Einschätzung der Gefährlichkeit dieser Philosophie betrachtet. Vor der Untersuchung von Aussagen begeisterter Literaten und Künstlern der Avantgarde sowie politischer Kritik von links und rechts widmet sich dieses Kapitel zur frühen Nietzscherezeption zunächst dem akademischen Versuch, sich Nietzsches Philosophie in nüchterner Manier einzuverleiben und ihren philosophischen Rang zu bestimmen.
Es ist kein großes Geheimnis, dass die Reaktionen auf Nietzsches Philosophie von Beginn an unter dem Zeichen des Gefährlichen standen. Sie wurde von ihrem rebellischen, umstürzlerischen Moment her bewertet. Seine Philosophie, sein Leben und sein Lebensende wurden umso mehr als Einheit aufgefasst, als die Reaktionswelle zu seiner Philosophie mit seiner geistigen Umnachtung einsetzte. Wer unumschränkt für ihn war, bejubelte die Gefahr, feierte das Leben, erhöhte die Kunst. So schreibt Michael Georg Conrad 1895 in der Zeitschrift Die Gesellschaft im programmatischen Artikel Jugend!:
„Und die Jugend ist mit uns nicht bloß als eigene, persönliche Verjüngung im nimmerrastenden Kampfe, sie ist mit uns in den Scharen jener, die, nach dem Gesetze ewiger Wiederkehr, täglich neu dem Leben und seinen hehren Idealen geboren werden, in den Scharen jener Herrlichen und Fröhlichen, [...] in deren Augen aber der Morgenschimmer der noch größeren Zukunft leuchtet und Sonnenaufgänge sich ankündigen, wie in solcher Kraft und Schönheit die Menschheit sie noch nie gesehen. [...] Mit ihm [Nietzsche] stehen wir auf der Linie des aufsteigenden Lebens.“Footnote 1
Während die eine Reaktionsseite einstimmte in Zarathustras großes Jasagen und mit einem einseitig verstandenen Nietzsche Leben, Vitalität, Kunst und Macht zu verherrlichen suchte, betonte die Seite, die zu ihm in kritische Distanz ging, die Gefahr der Zersetzung aller Werte. Nietzsche breche einem einsetzenden Amoralismus die Bahn, seine Gedanken vergifteten den Geist und führten zu Krankheit und Wahnsinn. Nietzsches Philosophie selbst wurde zu einer Art infektiösen Erscheinung, auf die diejenigen Begriffe angewendet wurden, denen er selbst in der Genealogie der Moral zur Geltung verholfen hatte: Entartung, Degeneration und Décadence.Footnote 2 Deutlich werden die (vermeintlichen) Folgen von Nietzsches Philosophie von Ernst Seydl (1902) benannt:
„Es gibt keinen allmächtigen Gott, es giebt keine unveränderliche Wahrheit, es giebt kein unumstößliches Sittengesetz. So wird die Religion durch den Atheismus gestürzt, die Wissenschaft durch vollendete Skepsis, die Sittlichkeit und Recht durch einen schrankenlosen Autonomismus. […] Giebt es keinen Gott für die Herrenmenschen, dann giebt es auch keinen für die Herdenmenschen. […] Giebt es kein Recht und Gesetz, hinter dem eine ewige Sanktion steht, warum soll dann nicht jeder erfüllt und durchglüht vom Willen zur Macht der Herrschsucht und Grausamkeit die Zügel schießen lassen? […] Doch genug – die wenigen Worte zeigen schon die furchtbaren Folgen, zu denen die Grundsätze Nietzsches führen würden. Sie werfen riesengroße, unheimliche Schatten voraus, sie sind, wie der geistvolle Jesuit von Nostitz-Rieneck sagt: Litterarische Präludien zu einem Umsturz ohnegleichen!“Footnote 3
Neben diesen beiden Richtungen, von denen die eine, noch befeuert von den Inszenierungen des Nietzsche-Archivs, bald in nahezu kultische Verehrung überging, während die andere ihn möglichst schnell von der geistigen Bildfläche getilgt sehen wollte, gab es noch zwei weitere Reaktionen, die vorgestellt werden sollen. Bei diesen beiden Richtungen galt Nietzsche nicht als der gefährliche Denker, der alles umstürzt, und zwar deswegen nicht, weil er entweder als derjenige gesehen wurde, der nur auf brodelnde Unstimmigkeiten und Zersetzungen hinweist, also als jemand, der in seinem kritischen Potenzial gewürdigt werden sollte, oder aber – und diese Richtung unterschied sich von allen anderen – als jemand, der überhaupt nicht ernst zu nehmen ist, und noch weniger diejenigen, die ein so großes Theater um ihn veranstalteten.
2.1 Die akademische Nietzscherezeption
Anfang 1900 hatte die akademische Welt Notiz von Nietzsche genommen und versuchte sie sich entsprechend einzuverleiben, wie man an den Werken von Georg Brandes (1890)Footnote 4, Ludwig Stein (1893)Footnote 5 und Alois Riehl (1897)Footnote 6 sehen kann. Es galt, Nietzsches philosophischen Rang zu erkennen und ihn entsprechend zu behandeln, auf das Wesentliche einzugehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu sondern.
Anhand der verschiedenen Ausgaben der Geschichte der neueren PhilosophieFootnote 7 von Richard Falckenberg lässt sich das wachsende Interesse an Nietzsche gut erkennen. In der ersten Auflage von 1886 wurde Nietzsche innerhalb eines größeren Abschnitts zu Schopenhauer in einer gerade einmal neun Zeilen umfassenden Passage erwähnt. In dieser wurde er als Verehrer Schopenhauers und Wagners dargestellt.Footnote 8 Bereits in der dritten Auflage 1898 wuchsen diese wenigen Zeilen auf 2 1/2 Seiten an, eine kurze Beschreibung des Lebenslaufs wurde beigefügt. Nietzsche ringe, so der Verfasser, mit dem Problem einer neuen Kultur und neuen Werten. Insgesamt wurde der Charakterisierung von Nietzsches Philosophie durch Georg Brandes als „aristokratische[r] Radikalismus“Footnote 9 zugestimmt. Auch fanden sich nun erste, nicht gerade schmeichelhafte Bewertungen, die zugleich die weitverbreitete antifeministische Haltung der Gelehrtenwelt bloßlegen: „Sein unruhiger, in jähem Wechsel von Vergötterung zu Hass und Verachtung überspringender Geist gleicht einem Weibe, das alle paar Jahre mit einem neuen Ideal durchgeht.“Footnote 10 Dennoch sei der Vorwurf des Immoralismus falsch, denn die vornehme Seele solle nach ihrem Werk trachten und nicht nach Glück. Krankhaft sei allerdings der „feministische Zug zum Harten und Grausamen“Footnote 11. In der siebten Auflage 1913, die letzte, deren Erscheinen Falckenberg noch selbst erleben konnte, war Nietzsches Philosophie auf fünf Seiten zusammengefasst. Die Einteilung von Nietzsches Philosophie in drei Phasen, die Falckenberg vermutlich von Alois Riehl übernahm, dessen Essay er positiv hervorhob, war ausführlicher dargestellt.Footnote 12 Wenig Veränderungen gab es zur achten Auflage, die der Sohn Robert Falckenberg anhand der Notizen zu Ende führte. Im Inhaltsverzeichnis waren nun Schopenhauer und Nietzsche in ein Kapitel zusammengestellt, während in den Inhaltsverzeichnissen zuvor noch die Darstellung Nietzsches namentlich unerwähnt unter der schopenhauerischen Philosophie firmierte.
In der neunten Auflage 1927 wurde Nietzsches Philosophie knapp zusammengefasst. Hier war keine Spur mehr von Beunruhigung zu vernehmen. Nietzsches Werdegang von seiner schopenhauerisch und wagnerianisch geprägten Anfangszeit, seine Lebensbejahung und Wertschöpfung als Absage an die schopenhauerische Lebensverneinung, sein Elitismus, sein Wunsch nach einer Kulturerneuerung, die ominöse Lehre der Wiederkunft, alles fand kurz und schlicht seinen Platz, ohne dass sich die VerfasserFootnote 13 mit oder gegen den „leidenschaftlichste[n] Vertreter dieser Lebensphilosophie“Footnote 14 zu kämpfen genötigt sahen.Footnote 15 Nietzsches Philosophie reihte sich ein in den großen Reigen der philosophischen Positionen und sträubte sich nicht gegen diese Art der Zusammenfassung.
Georg Brandes, den Nietzsche selbst den „gute[n] Europäer und Cultur-Missionär“ (N. an Georg Brandes, 02.12.1887, KSB 8, Nr. 960, S. 205) nannte, war einer derjenigen, die wesentlich zur Bekanntheit Nietzsches beitrugen. Gegen Ende von Nietzsches geistigem Leben hielt Brandes bereits Vorlesungen über ihn in Kopenhagen und schrieb 1890 den Essay: Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen RadikalismusFootnote 16, in dem er noch auf Nietzsches baldige Genesung hoffte.Footnote 17 Entgegen den Erwartungen, die der Titel beim Leser auslösen könnte, erscheint Nietzsches Philosophie bei Brandes durchaus nicht in einem gefährlichen Sinn als radikal.Footnote 18 Zwar unterstrich Brandes Nietzsches elitäres Denken, das auf einzelne großartige Menschen (Künstler, Denker, Herrscher) gerichtet sei, die überhaupt das Ziel der Gesellschaft sein sollten, allerdings bestritt Brandes, dass die „Ansicht Nietzsches von der großen Persönlichkeit als geschichtlichem Zweck prinzipiell gegen das Moralprinzip der Wohlfahrt“Footnote 19 stehe. Sanfte Kritik äußerte Brandes an Nietzsches Umgang mit anderen Zeitgenossen wie etwas Rée, Hartmann und Dühring,Footnote 20 an Nietzsches Militarismus, den er als Zeichen einer in Deutschland vorherrschenden Gesinnung hinnahm,Footnote 21 sowie an Nietzsches Geringschätzung der Frau, wobei, so Brandes, Nietzsche dennoch den tiefen Blick für „den beständigen Krieg zwischen den Geschlechtern“Footnote 22 beweise. 1893 fügte Brandes noch eine Nachschrift an seinen Essay an, in dem er auf die zunehmende Berühmtheit Nietzsches einging, der in wenigen Jahren zu dem „Modephilosoph des Tages geworden“Footnote 23 sei. In dieser versuchte er ihn gegen vermeintliche Gefahren seiner Philosophie – behauptet von Ludwig Stein – und gegen falsche VereinnahmungenFootnote 24 – wie etwa durch Peter Gast – in Schutz zu nehmen sowie gegen Stimmen, die in seiner gesamten Philosophie krankhafte Züge sehen wollten.Footnote 25
Ludwig Stein, der in „musterhafter Haltung ohne Gehässigkeit“Footnote 26 Nietzsche kritisieren und auf Gefahren hinweisen wollte, wurde bei Brandes ohne viel Federlesens abgekanzelt:
„Es gibt Männer, deren erster Gedanke, wenn sie etwas lesen, der ist: Ist dies nun richtig oder nicht richtig? Es gibt andere, denen dieser Gedanke erst in zweiter Linie kommt und die vor allem sich fragen: Ist der Mann, der dies geschrieben hat, interessant, bedeutend, wert zu kennen oder nicht?“Footnote 27
Zu welcher Richtung Brandes sich selbst und zu welcher er Ludwig Stein zuordnet, ist augenfällig, wobei Brandes noch betont: „[D]ie Richtigkeit seiner [des Philosophen] Ansichten [ist], wenn auch wichtig, doch immer sekundär.“Footnote 28 Daraus folgt, dass für Brandes Gedanken und Geschriebenes erst einmal nichts weiter waren als eben solches: Sie stehen nicht in direkter Verbindung zum Leben, das durch diese Gedanken massiv verändert werden würde. Wäre dies der Fall, könnte die Trennung von „ist dies ein interessanter Gedanke?“ und „gefährdet dies das Leben, wie (ich denke, dass) es sein sollte“ nicht so einfach vollzogen werden. Implizit wird so eine Aussage darüber getroffen, welche Verantwortung einem Philosophen als Schriftsteller zugemutet werden darf: Ist er nur verantwortlich für das Geschriebene oder auch für die Wirkungen, die er in anderen oder gar in der Gesellschaft auslöst?
Möglicherweise stimmten die Urteile, so Brandes, die Ludwig Stein über Nietzsches Philosophie falle, vielleicht sei Nietzsche reaktionär, zynisch und ein Dilettant in den Wissenschaften.Footnote 29 Aber all das spiele keine Rolle dafür, ob Nietzsche es wert sei, gelesen zu werden, denn dies sei er genau dann, wenn Nietzsche „eine ureigene, mächtige Persönlichkeit“Footnote 30 darstelle. Letzten Endes kommt es für Brandes nicht darauf an, Nietzsche in allen Belangen zuzustimmen, denn man suche, so Brandes, im Philosophen keinen Erzieher und dürfe ein skeptisches Publikum erwarten.Footnote 31 Daraus lässt sich ein weiterer Schluss ziehen: In dem Moment, in dem ein Philosoph für so gefährlich gehalten wird, dass seine gesamte Philosophie für nichts gelten sollte, entmündigt man gleichzeitig die Leserschaft, von der man annimmt, dass sie kein kritisches Verhältnis zum Philosophen einnehmen kann, und es daher besser ist, denselben erst gar nicht zu lesen.Footnote 32
Nun soll allerdings selbst ein etwas ausführlicherer Blick auf Ludwigs Steins Werk Friedrich Nietzsche’s Weltanschauung und ihre GefahrenFootnote 33 geworfen werden, das immerhin beanspruchen darf, in dieser Ausführlichkeit das erste zu sein, das explizit Nietzsches Gefährlichkeit herausstellen möchte: Stein erklärt gleich zu Beginn in seinem Vorwort, dass es ihm nicht darauf ankomme, eine gelehrte Abhandlung über Nietzsches Philosophie zu verfassen, sondern ein „Warnsignal“Footnote 34 zu senden, aus einem unmittelbaren Eindruck heraus, und zwar „einer durch Nietzsche in ihren heiligsten Gefühlen beleidigten Seele“Footnote 35. Es lassen sich fünf Vorwürfe herauskristallisieren, wobei einer davon die Nietzscherezeption bzw. den Zeitgeist betrifft. Die Vorwürfe bieten sich in Steins Schrift folgendermaßen dar.
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1.
Nietzsches Philosophie könne sich grundsätzlich als eine Position bestimmen lassen, die Stein „Neo-Zynismus“Footnote 36 nennt. Anstatt dass Nietzsches Projekt der „Umwerthung aller moralischen Werthe“Footnote 37 irgendeine Originalität zukomme, seien seine Thesen schon zu Beginn der abendländischen Philosophie vorgetragen worden, und zwar von den Sophisten, genauer von den sogenannten Zynikern unter ihnen.Footnote 38 Mithilfe eines spezifischen Naturbegriffs würden die herrschenden Moralvorstellungen kritisiert, wobei Nietzsches Ansatz darin bestehe, den Hedonismus auf die Spitze zu treiben, indem er Natur gleichsetze „mit überschäumender Sinneslust, mit bacchantischer Genußfreudigkeit, mit jenem schwelgerischen Orgiasmus, wie ihn namentlich die Dionysosculte der Griechen in zahlreichen Abstufungen gezeitigt haben.“Footnote 39 Der Neo-Zynismus sei besonders deshalb gefährlich (und dies führt direkt zu den Vorwürfen Zwei und Drei s. u.), weil er „von symptomatischer Bedeutung für das Zeitbewußtsein“Footnote 40 sei (2) und „System“ habe (3). Als klassisch zynische Positionen benennt Stein die „maßlose Verächtlichmachung der Ehe als Institution“, Nietzsches „Verachtung der Demokratie“, „sein überspannter Kosmopolitismus“, „die radikale Verwerfung jeder Autorität“ und „sein banausisches Vorgehen gegen die herrschende Religion“Footnote 41, wobei Nietzsche letzten Endes noch über jenen antiken Zynismus weit hinausgehe, wenn er „den Geist überhaupt, für ein Verfallsymptom und eine Entartungsform der Menschheit […] erklär[t]“Footnote 42 oder „die Grausamkeit […] als oberste Tugend des wahrhaft Edlen […] setz[t]“Footnote 43.
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2.
Im Grunde seien nicht Nietzsches Gedanken an sich schädlich, sondern schädlich sei, dass diese auf einen Zeitgeist träfen, der mit glühendem Herzen bereit sei, mit selbst ernannten Führern die Kultur zu negieren, ohne die Konsequenzen berücksichtigen oder sehen zu können, weshalb die „Philosophen vom Fach“Footnote 44 aufgerufen seien, die Folgen aufzuzeigen und damit drohendes Unheil abzuwenden, damit Nietzsche nicht „der philosophische Held des Tages, der Modephilosoph“Footnote 45 werde. Umso gewisser hält Stein den Einfluss Nietzsches auf die Zeit für unumkehrbar, weil es diesem gelungen sei, „die Gunst der philosophierenden Frauenwelt erworben“Footnote 46 zu haben, dem Geschlecht, dem die psychologische Eigenart zuteil sei, dass „typische Frauenverächter eine dämonische Anziehungskraft“Footnote 47 auf es ausübten. Verwunderlicher sei es, wenn die literarische Avantgarde der Sozialdemokratie sich Nietzsche auf die Fahnen schreibe, wie die „Freie Bühne“Footnote 48, und nicht erkenne, dass der „Sozialismus […] heute keinen radikaleren und eben wegen seiner unerbittlichen Konsequenz gefährlicheren theoretischen Gegner als diese anarchisch-aristokratische Theorie Nietzsche’s“Footnote 49 habe.
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3.
Nietzsches Philosophie entbehre zwar jedes „eigentliche[n] philosophische[n] System[s]“Footnote 50 und „als Philosoph in weitestem Sinne [sei] er Dilettant“Footnote 51, der zwischen verschiedenen epistemologischen Standpunkten hin und her schwanke,Footnote 52 aber als Soziologe und Geschichtsphilosoph werde Nietzsche Unheil verkündende Macht gewinnen.Footnote 53 Sein Projekt der Umwertung der Werte sei, so Stein, dann ernst zu nehmen, wenn Nietzsche zeigen könne, dass die bisherigen Werte logisch unhaltbar seien und die neuen, nach Nietzsche zu erstrebenden Werte, erreichbar. Die Thesen über die Entstehung von Moral, die Stein hauptsächlich anhand der GM herausarbeitet, erklärt er für soziologisch überholt und Nietzsches etymologische Versuche für offensichtlich falsch,Footnote 54 so dass Nietzsches Deutung über die Herkunft der Moral nichts weiter sei als eine Fiktion, eine Art soziologischer Roman,Footnote 55 so wie die Herrenrasse „als fleischgewordene Verwirklichung des ‚Willens zur Macht‘ […] soziologische Mythologie“Footnote 56 sei, für die jeder wissenschaftliche Beweis fehle. Nietzsches Nachweis, dass die Moralentwicklung der Menschheit zur Degeneration führe, scheitere genauso wie sein Projekt der Umwertung der Werte, da dieses Projekt sich als logisch unhaltbar mit Nietzsches eigenen Positionen erweise. Nietzsche widerspreche der Möglichkeit von freier Entwicklung des Menschen, aber ohne freie Entwicklung sei die Forderung, andere Werte zu wählen, absurd, da die Veränderung nur dann stattfinde, wenn sie eben notwendig sei, jeder Appell wäre also sinnlos.Footnote 57
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4.
Dass Nietzsche überhaupt diese Wirkmacht zu entfalten drohe, liege „im verführerischen Zauber“Footnote 58 seiner Sprache. Ohne die poetische Einkleidung würden sich seine Gedanken alsbald als „geistige Utopien“Footnote 59 entpuppen, aber durch die radikale Zuspitzung, durch gewitzte Paradoxien wirkten sie „hypnotisierend“Footnote 60. Sie seien „literarische[s] Dynamitard […,] geistige Bomben“Footnote 61, deren Ziel es sei, „unsere gesamte Kultur, alle unsere religiösen, sittlichen und politischen Ideale in die Luft zu sprengen“Footnote 62. Nietzsches geradezu einlullende Sprache werde durch den Aphorismus getragen, jene Form, die eigentlich nur „einen recht bescheidenen Platz“Footnote 63 in der Philosophie einnehme, da sie dem gründlichen Abwägen des Pro und Kontra keinen Raum gäbe, sondern, anstatt zu überzeugen, überreden will.Footnote 64 Umso gefährlicher sei Nietzsches Philosophie, weil er ein tatsächliches „Genie des Aphorismus“Footnote 65 sei.
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5.
Ludwig Stein stellt, eine ganze Rezeptionsrichtung einleitend, Nietzsches Philosophie in den Zusammenhang einer falschen Heilkunst, womit er Nietzsches eigener Sprache und Deutung (wie etwa in GM) nahekommt. So wie Nietzsche in GM das asketische Ideal als eine Medizin beschreibt, die den Kranken kränker mache, beschreibt Stein Nietzsches Philosophie als Gift und Opiat und derjenige, der erst einmal sein „Nervensystem […] auf diese geistigen Narcotica eingestellt ha[be], der ha[be] seine Empfänglichkeit für gesunde Nahrung eingebüßt.“Footnote 66 Allerdings verwahrt sich Stein gegen die Deutung, dass Nietzsches Philosophie selbst Ausdruck eines kranken Geistes sei und übt Kritik an denjenigen, die „aus der Krankheit des Philosophen Rückschlüsse auf die Beschaffenheit seiner Werke […] ziehen.“Footnote 67 Die Gefahr, sich angeblich auf eine Art geistig zu verausgaben, wie es bei Nietzsche der Fall gewesen wäre, komme bei solchen Geistern gar nicht Betracht „weil sie nichts auszugeben haben“Footnote 68 und sie nur „von dem pathologischen Charakter der Schriften Nietzsche’s faseln und wichtigthuerisch an ihnen herumseciren.“Footnote 69
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6.
Betrachte man das Charakteristische an Nietzsches Schreiben, so Stein, falle einem auf, dass dieses „weit mehr Slawisches an sich [habe] als Deutsches.“Footnote 70 Stimmungen wie der „leise Hauch von Melancholie“Footnote 71 oder „träumerisches, weltverlorene[s] Sehnen“Footnote 72 entsprächen der rassisch weniger wertvollen Philosophie der Slawen, denen es „an Gedankenenergie und innerer Geschlossenheit zur Ausreifung und Ausgestaltung großer Ideen gebricht“Footnote 73. Dies zeige sich in der Form als Neigung zum Aphorismus und im Inhalt als „jener brutale, despotische Zug Nietzsche’s endlich, in welchem der wilde Instinkt der noch ungezähmten menschlichen Urbestie mit elementarer Gewalt […] zum Durchbruch kommt […]“Footnote 74. Nietzsches Philosophie erscheine also deshalb als besonders gefährlich, weil sie den noch unzivilisierten Zuständen der Seele, wie sie den unzivilisierten Völkern wie den Slawen eigen sei, entspreche, daher also im Wesenskern undeutsch sei.Footnote 75
Auch Alois Riehl möchte nicht nur Nietzsches Philosophie darstellen, sondern sie auf ihren Gehalt hin prüfen, wobei bewertet werden müsse, „ob die ‚Moral‘ vor ihm und seinen Angriffen bestehen kann“Footnote 76. Dass Nietzsche ein leidenschaftlicher Philosoph sei, könne noch nicht als Einwand gegen ihn begriffen werden, wohl aber müsse die Frage beantwortet werden: „[I]st Nietzsche zum Philosophen gesund genug?“Footnote 77 Auf ausgereifte Antworten müsse man drängen, da „[e]ine eifrige Jüngerschar […] seinem Namen [folge]“Footnote 78; er sei „[u]nstreitig […] der Modephilosoph der Zeit, vielleicht nur eine Mode der Zeit.“Footnote 79 Der Essay Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker ist in drei Kapitel gegliedert; in ein einleitendes Kapitel Die Schriften und die Persönlichkeit, sowie in die zwei Hauptteile Der Künstler und Der Denker, ganz im Sinne des Essay-Titels, wobei Nietzsche als Künstler lediglich auf wenigen Seiten beschrieben wird und dies, nachdem Riehl Nietzsche als einen „Künstler [beschreibt], den man mit einem Philosophen verwechseln könnte.“Footnote 80 Als Denker allerdings zeigt sich Nietzsche bei Riehl in einem durchaus ambivalenten Licht. Riehl weist Anklagen zurück, die Nietzsche den Vorwurf des Immoralismus zeihen oder in Nietzsches Philosophie einen Appell zur Rückkehr zur blonden Bestie lesen.Footnote 81 Außerdem verteidigt Riehl, wenn auch eher implizit, die Tauglichkeit von Nietzsches ‚neuer Moral‘, wenn er darauf hinweist, dass diese keineswegs für die Massen gedacht sei, sondern nur „für die Schöpfer und Träger der Kultur der Zukunft, der steile Pfad, der zu dieser Kultur emporleiten soll[e]“Footnote 82. Auf jeden Fall dürfe man diese Einschränkung „[b]ei der Beurteilung, auch Verurteilung […] nicht ausser Acht […] lassen.“Footnote 83 Dennoch ist Riehl mit klinisch-krankhaften Beschreibungen von Nietzsches Philosophie schnell bei der Hand, sei es, dass er in der von ihm bei Nietzsche gesehenen „Vergöttlichung der Grausamkeit“Footnote 84 einen „pathologischen Zug“Footnote 85 sieht oder in Nietzsches Beschreibung der neuen Philosophen eine zerstörerische Selbstprophezeiung erkennt, „jene alles zersetzende Kritik […], die schliesslich auch seinen Geist zersetzte“.Footnote 86 Gefährlich sei Nietzsches Philosophie, so die Deutung, daher hauptsächlich für diesen selbst gewesen sowie „für unvorsichtige Seelen“Footnote 87, die sich von seiner mächtigen Sprache bezaubern lassen.Footnote 88 Als philosophisches Schwergewicht tritt Nietzsche in Riehls Essay nicht auf, weder mit seinem aphoristischen Stil, der nicht derjenige des „grosse[n] geistigen Baumeisters und Schöpfers“Footnote 89 sei, sondern nur die Form des „unausgewachsenen Gedenkens, des Gedankens als Stimmung“Footnote 90 noch mit seiner eigenen inhaltlichen Durchdringung des philosophischen Stoffes mit der Verherrlichung der Grausamkeit, des Willens zur Macht, der die Vernunft im Willen ignoriere, „weil er [Nietzsche] die Vernunft nicht anerkennt; […] den Wert der Logik, den Wert der Wahrheit [verneint].“Footnote 91 Resolut ablehnend wird der Essay allerdings erst, als der Antichrist zur Sprache kommt, die Schrift, in der Nietzsche mit der „Stimme des Entrüsteten“Footnote 92 spreche und mit der grotesken Vorstellung von Cesare BorgiaFootnote 93 als Papst provoziere.Footnote 94 Von dort aus hätte es nur noch Umkehr geben können.Footnote 95 Nietzsches Denken endet bei Riehl in der Sackgasse und dennoch mit beruhigenden Worten, die Nietzsche unschädlich machend auf dasjenige verweisen, woran sich der Mensch bei Nietzsche zum Trotz halten könne:
„Diese Werte aber, die das Handeln des Menschen leiten und seine Gesinnung beseelen, brauchen nicht erst erfunden, oder durch Umwertung neu geprägt zu werden; sie werden entdeckt und wie die Sterne am Himmel treten sie nach und nach mit dem Fortschritte der Kultur in den Gesichtskreis des Menschen. Es sind nicht alte Werte, nicht neue Werte, es sind die Werte.“Footnote 96
Neben dieser beschwichtigenden Zurechtlegung rangen andere Stimmen, teils fern der akademischen Forschung, mit der Bedeutung von Nietzsches Philosophie, die sie zu wechselnden Stellungnahmen zwangen und mit einer Deutung, die seine fragwürdigen moralischen Positionen diskutierte, ohne sie sogleich aufgrund ihrer möglichen Folgen abzulehnen.Footnote 97 Jenseits einseitiger Einverleibung und schlichter Verdammung kann man auch Georg Simmel verorten, der seine Vorlesungsreihe zu Schopenhauer und Nietzsche bereits 1907 veröffentlichte.
Simmels Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie findet seinen Rahmen in Abgrenzung zur schopenhauerischen Philosophie. Beide Philosophien, so Simmel, würden sich mit dem Wert des Lebens in existenzieller Fragestellung beschäftigen, die erst dann auftauche, wenn alle übergeordneten Sinngebungen an Rang verloren hätten. Ihre jeweilige Antwort sei allerdings einander diametral entgegengesetzt und offenbare die Spannweite des Antwortraumes, ohne dass dem einen oder anderen nun mehr Recht gegeben werden könnte. So wie Schopenhauer dem Leben eine deutliche Absage erteile, gebe es, so Simmel, nach Nietzsche nichts Höheres als das Leben. Was dem Leben, verstanden als Prozess eines sich Hinaufentwickelns, Veränderns, Bereicherns, dient, ist zu bejahen, alles, was das Leben schwäche, ist zu verneinen. Indem alles am Wertmaßstab des Lebens und der Fortentwicklung der Gattung bemessen werde, sei Nietzsche – und damit verteidigt Simmel Nietzsches Philosophie gegen eine ganze Reihe von Vorwürfen – eben kein Immoralist, weil es nämlich ein zwingendes Sollen gebe. Dieses Sollen sei nicht mehr transzendental, metaphysisch, sondern irdisch und nehme sich daher das Ideal der aristokratischen Wertungsweise zum Vorbild: Nicht um eines anderen willen strebe ich, sondern ich strebe aus einer Verantwortung heraus, die ich mir selbst gegenüber habe.Footnote 98
Der strebenden Wertungsweise, die Erreichtes auch stets wieder riskieren müsse, sei derjenigen, die behalten und erreichte Zustände auf Dauer festigen wolle, entgegengesetzt. In diesem Sinne erweise sich Nietzsches Philosophie dann allerdings auch als eine, die sich ganz dem Gefährlichen hingegeben habe:
„Indem Nietzsche das Leben ausschließlich auf dem Gipfel des Erreichbaren und in seiner, von aller äußeren Verwebung unabhängigen Qualitätsbestimmtheit für wertvoll hält, tritt es völlig unter die Kategorie des Gefährlichen; je spitzer gleichsam die Kurve ist, auf deren Höhe allein es sich zu existieren lohnt, umso näher liegt die Gefahr des Herabgleitens, ehe die Höhe erreicht ist, des Schwindels, wenn man sie erreicht hat. Diese Form des Lebenswertes wird ihm zum Symptom der Wertlosigkeit aller demokratischen Ideale. Denn die Masse will es ‚gut haben‘, will Sicherheit und Behaglichkeit. Man wird aber nie stark, wenn man nicht nötig hat, es zu werden. Der höhere Mensch will kämpfen; nur die Schwachen wollen aus ersichtlichen Gründen ‚Friede auf Erden‘.“Footnote 99
Den rastlosen Imperativ des „immer mehr“ und „immer weiter“ hätte Simmel gerne abgeschwächt und abgegrenzt gesehen von einem „gemeinen Habenwollen“Footnote 100. In diesem Sinn hätte klar gemacht werden müssen, „daß nicht die Herrschaft und Gewalt als äußere Wirklichkeit, sondern die Beschaffenheit der souveränen Seele, deren Erscheinung und Äußerung jenes soziologische Verhältnis ist, den Wert eben dieses trägt.“Footnote 101 Aber dazu hätte es eben eines metaphysischen Begriffs von Leben bedurft.Footnote 102
In dieser kurzen Darstellung der simmel'schen Interpretation von Nietzsches Philosophie zeigt sich bereits eine Sonderstellung: eine kritische Distanz, die dabei ungerechtfertigte und flache Vorwürfe zurückweisen möchte, die zwar – wie viele Nietzsche-Interpretationen – Kernthesen behauptet, ohne argumentativ zu begründen, warum gerade diese Sätze zu den allgemein wichtigsten erklärt werden, und die dennoch auch moralisch provozierende Thesen ernsthaft diskutiert. Gerade die von Simmel als gefährlich titulierte Ansicht, dass das Leben nicht von seinem Durchschnitt, sondern von seinen Höhepunkten her bewertet werden müsse, versucht er verständlich zu machen, indem er diese Wertungsweise auf ein Feld anwendet, in dem wir allgemein auf diese Weise werten würden: dasjenige der Kunst. Wir bewerteten, so Simmel, einen Künstler nicht anhand des Durchschnitts seiner Bilder, sondern anhand seiner Besten, wir bewerteten ein Zeitalter auf kultureller, künstlerischer Ebene nicht anhand einiger Talente, sondern anhand der Genies, und ein Zeitalter, das vom Ersteren weit mehr hervorbringe, werde trotzdem als niedriger bewertet als eines, das mit einem Genie aufwarten könne.Footnote 103 Diese Wertungsweise der Kunst übertrage Nietzsche nun auf das Leben. Dabei ist es bezeichnend, dass Simmel in seiner Darstellung an dieser Stelle keine Wertung vornimmt, denn dort, wo es nur noch um die Spannweite von menschlichen Möglichkeiten geht,Footnote 104 muss diese Wertung unentschieden bleiben. Dies ist eine Zurückhaltung in Bezug auf Nietzsches Philosophie, die bis heute, sobald es sich um ethisch-moralische Zusammenhänge handelt, marginal bleibt.
Selbst in einigen philosophisch-universitären Kreisen war der erhobene Zeigefinger, der auf die Folgen dieses gefährlichen Denkens mit Nachdruck hinweisen wollte, nicht fern: Mit besonderer Vehemenz erhob sich eine Stimme aus der theologischen Fakultät in Wien: Der promovierte Aushilfslehrer Ernst Seydl war besonders erpicht darauf, in aller Deutlichkeit und für alle diejenigen, die es noch nicht bemerkt hätten, aufzuzeigen, wen Nietzsche angreife:
„Den Gottessohn Jesus Christus nennt er [Nietzsche] eine verschmitzte Sklavennatur, er spottet über das Geheimnis der Menschwerdung […] Worte Christi mißbraucht und verdreht er öfters, größere Partien des ‚Zarathustra‘ sind geradezu Parodien auf die Bergpredigt des ‚Hebräers Jesus‘ […] Wenn man die haarsträubenden, mit lodernden Fanatismus vorgetragenen Gotteslästerungen des glaubenslosen Pastorensohnes liest, so hat man unwillkürlich den Eindruck, vor einer psychopathischen Erscheinung zu stehen.“Footnote 105
Ganz anders liest sich die Stimmlage von Heinrich Rickert, der mit weichem Spott an Nietzsches Philosophie herantritt, fast wie um sich von ihr bezirzen zu lassen:
„In ihr [der Dichtung des Zarathustra] wird ‚das Leben‘ behandelt wie ein menschliches Lebewesen, genauer wie eine geliebte Frau. Man kann nicht inniger, vertrauter, zärtlicher mit dem Leben sprechen, als es in den Tanzliedern geschieht, obwohl auch die Peitsche dazwischen klatscht.“Footnote 106
Sodann geht Rickert zu dem Versuch über, Nietzsches Philosophie zu demaskieren. Sein Begriff des Lebens bleibe leer, seine Sentenzen täuschten mit sprachlicher Virtuosität darüber hinweg, dass nichts über ein Leben gesagt werde, von dem es nur heiße, dass es sich selbst überwinden solle.Footnote 107 Allenfalls lasse es sich als antidarwinistisch klassifizieren, sofern der Überfluss und die fortwährende Entwicklung anstatt Not und Mangel als Antriebskräfte vorausgesetzt würden; ein Gedanke, den Nietzsche von W. H. Rolph übernehme.Footnote 108 Wann immer Nietzsche Wertungen treffe, seien es Wertmaßstäbe oder vielmehr Geschmacksurteile, die Nietzsche von außen heranziehe und die er erst nachträglich aus dem Leben selbst ziehen wolle.Footnote 109 Nietzsches biologistische Philosophie verkenne den Menschen in seiner einzigartigen Position:
Für den Biologisten besteht die trostlose Alternative: Gott oder Wurm. Und Götter sind wir nicht. Aber Würmer sind wir auch nicht, so gewiß wir zu erkennen vermögen, daß Vieles in uns noch Wurm ist. Kein Wurm versteht sich als Wurm. Sich als Wurm erkennen, heißt: mehr als Wurm sein, und jede Philosophie ist daher gerichtet, die das, worin wir nicht Wurm sind, nicht zu verstehen vermag. Der Biologismus ist dazu außerstande.“Footnote 110
Ganz anders als die akademische Einverleibung oder das ernsthafte Ringen um mögliche Nähe und Distanz (von Versuchung und Distanz wahrendem Widerstand) zeigen sich die parodistischen Versuche, die ihrerseits auf die zunehmende Vergegenwärtigung und Verkitschung des Philosophen im Kulturleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingingen, wobei nicht nur Nietzsche aufs Korn genommen wurde, sondern auch diejenigen Kritiker, die vor Nietzsches Gefährlichkeit warnten:
„In der ‚Neuen Freien Presse‘ wird demnächst der Economist das endgiltige Urtheil über Friedrich Nietzsche verkünden. Schon haben die übrigen Mitglieder des Vierer-Senates gesprochen, der Nietzsche wegen Vergehens gegen die öffentliche Sittlichkeit – begangen durch die Umwerthung aller sittlichen Werte und durch die das Schamgefühl gröblich verletzende Anpreisung des als Uebermenschen bezeichneten nackten Gewaltsmenschen – zu richten hat. Leitartikler und Feuilletonist haben für Schuldig gestimmt, der ‚Localerer‘ für Unschuldig. Die Namen der drei Richter sind: Hugo Ganz, Ludwig Stein, Carl Bulcke.“Footnote 111
Galten Nietzsches Philosophie und allen voran dem Zarathustra viele frühe Angriffe, wendeten sich die ergiebigeren Attacken bald der Nietzsche-Verehrung und insbesondere dem Nietzsche-Archiv zu. Bereits 1893 erschienen Persiflagen wie „Also sprach Confusius“Footnote 112 (von Ferdinand Gross und Julius von Gans-Lúdassy) oder „Also sprach Clara Thustra“Footnote 113 (von Curt Grottewitz). Auch die von Franz Brand geschriebenen „Gedichte und Sprüche Friedrich Nietzsches aus dem Jahre 1868“ nahmen Stil und Inhalt des Zarathustra aufs Korn:
„Er entwickelt sich, dazu gehören schon zwei. Er als Subjekt und er als Objekt. Denn so entwickele ich mich, wie wißbegierige weißfingrige Mädchenhände im Herbst eine Zwiebel entwickeln. Schale für Schale löst sich – Leben ist fortwährendes Sich-Erlösen. Was eben noch das Ganze schien, wird zur Schale, und was sie findet, wenn keine Schalen sich mehr lösen wollen, ist das bildsame noch unausgebildete Plasma weiterer Schalen, der Embryo aller Zukünfte und Uebermenschen. [...] Ich will mein Schicksal, ich will weiter werden: Eins zu zwei, zu drei... Immer neu sind die Gestalten meines Ichs. Schale für Schale bis zum sublimen Welträthselübermenschenduft. Folget euch, folget mir! Zuletzt bleiben zerriebe Thränen. Staunet der listigen Weisheiten aller meiner vielen Schlupfwege, meiner Schlangenbosheiten und täuschenden Wendungen des Geistes.“Footnote 114
Ein noch lebendiger Vorwurf, der sich an all diejenigen richtete, die durch die Lektüre Nietzsches sich zum Philosophieren berufen fühlten, degradierte Nietzsche höhnisch zum Pubertätsphilosophen:
„Ein Uebermensch wird man am besten in frühester Jugend. Noch lange bevor die ersten Härchen an der Oberlippe hervorzuschießen beginnen, beginne man schon, moderne Gedichte aus seiner Feder hervorschießen zu lassen. Schon in diesem Stadium achte man darauf, daß die lyrischen Ergüsse nicht zu verständlich werden, daß sich vielmehr ein genialer Hang zum Verbergen der Gedanken, besonders der guten, offenbare, was ja einem 12 bis 14jährigen Jüngling keine allzugroßen Schwierigkeiten bereiten dürfte.“Footnote 115
So teilten die Parodien, die mit einigem Witz und Leichtigkeit Nietzsches Philosophie als eine für frühreife und pathetische Jünglinge beschrieben, mit den Nietzsche-Kritikern einen wesentlichen Punkt, nur dass bei den Letzteren die schwärmerischen Jünglinge nun drohten, reihenweise dem Leben zu entsagen, sich in den Tod zu stürzen oder angetrieben von amoralischen Leitsätzen einer fragwürdigen Herrenmoral sich zu Verbrechern und Mördern zu entwickeln.
2.2 Die Verdammung der Philosophie Nietzsches
Wie Thomas Mittmann in seinem Aufsatz „Der ‚Irrenhäusler‘ als ‚jüdisches Modestück‘. Nietzscheanismus und Nietzschekult im Deutschland der Jahrhundertwende in der antisemitischen Kritik“Footnote 116 aufzeigt, hatten die Ankläger, die Nietzsche als möglichst großen Schandfleck deutscher Philosophie darzustellen versuchten, nicht zuletzt ein Eigeninteresse, das darüber hinausging, hohe geistige Kultur im Wert zu erfassen und alles vermeintlich geistig Minderwertige auszusondern. So können verschiedene Gruppen unterschieden werden, welche Nietzsches Philosophie mit den im folgenden dargestellten Vorwürfen belasteten und die Gefährlichkeit seines Denkens für nachfolgende Leser dingfest zu machen versuchten:
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Nietzsche, vornehmlich als Gefährder der Jugend, rechtfertige Morde und Selbstmorde, sei nihilistisch und nivellierend.
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Eine Gesellschaft, die dieses amoralische und irrationale Denken ernst nehme, müsse mit den schlimmsten Folgen rechnen.
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Nietzsches Denken sei nicht tief, sondern blende durch den hohen Stil, der nur notdürftig das inkohärente und wahnsinnige Moment verdecke.
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Seine Krankhaftigkeit, die sich in seinem Werk bezeuge, zeige die Auswirkungen einer dekadenten Kultur auf einen wankelmütigen, krankheitsanfälligen Charakter, der durch einige hohe Passagen und der momentanen Zersetzung der Kultur hochgradig infektiös für andere sei, wobei sein tragisches Ende die letzten Konsequenzen dieses Denkens doch augenfällig bezeuge.
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Dieser zuletzt offenkundige Wahnsinn sei latent schon zu Beginn vorhanden gewesen, aber noch zurückgehalten von [Name], wobei diese Leerstelle dann beliebig durch Wagner, Schopenhauer, seine Familie usw. ausgefüllt werden kann, und schließlich durch [Name] (diese Leerstelle wurde mit Vorliebe durch Lou von Salomé oder Paul Reé gefüllt) beschleunigt worden.
Dass sich die Anhängerschaften sowohl von Wagner als auch von Dühring bemüßigt fühlten, Nietzsches Philosophie als die eines Wahnsinnigen zu diffamieren, ist nur allzu verständlich, wurden doch beide innerhalb seiner Philosophie aufs Schärfste kritisiert.Footnote 117 Mit der Popularisierung von Nietzsches Werk, mit der für eine ganze Generation, wie Gottfried Benn später schrieb, Nietzsche zum „weitreichende[n] Gigant der nachgoetheschen Epoche“Footnote 118 wurde, mussten diese Kreise befürchten, dass Nietzsches Ruhm ihren eigenen nicht nur überflügeln, sondern ihn sogar zunichtemachen würde, sollte sich die „kulturelle Welt“ entscheiden, Nietzsche in seinem Urteil zu folgen – ein Schicksal, dem Dühring schließlich nicht entgangen ist. Rudolf Louis, ein Musikkritiker und Schriftsteller aus dem Wagnerkreis, bekundete in giftigem Mitleid, dass Nietzsches Werke als die „traurigen Erzeugnisse eines gestörten und unabwendbar der geistigen Umnachtung entgegentreibenden Denkens“ betrachtet werden müssten.Footnote 119
Dühring selbst nahm Nietzsches Philosophie als Beweis dafür, dass die Juden die Kontrolle über die Presse übernommen hätten, da sonst nicht erklärbar sei, wie verrückte Denker wie Nietzsche eine solche Popularität genießen könnten.Footnote 120 Mit diesen beiden Kreisen in enger Verbindung standen antisemitische und rechts-nationale Richtungen, die in Nietzsche einen selbst erklärten Gegner fanden,Footnote 121 bevor schließlich Nietzsche selbst das paradoxe Schicksal nicht erspart blieb, von diesen zum Aushängeschild genommen und noch mehr von außen wahrgenommen zu werden – befördert von den Inszenierungen und Positionierungen des Nietzsche-Archivs unter der Leitung von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche.
Einigen Nationalsozialisten, besonders in den dreißiger Jahren, war weder entgangen, wie Nietzsche Antisemiten titulierte, noch mit welch zunehmender Aversion er über Deutsche und Nationalisten schrieb, bis sich Nietzsche in Ecce Homo sogar in eine polnische Ahnenreihe hinein fantasierte, um bloß nicht deutsch zu sein. Curt von Westernhagen war durchaus nicht mit einer Zurechtmachung von Nietzsche einverstanden, wie Alfred Baeumler und andere Nationalsozialisten sie betrieben. Mittmann schreibt:
„Insbesondere im Hinblick auf sein Verhältnis zum Judentum, so Westernhagen 1936 in Nietzsche, Juden, Antijuden, könne Nietzsche nur als Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung verstanden werden. Doch Westernhagens Kampfansage blieb erfolglos, Heinrich Härtle, der spätere Sekretär des Reichsministers Rosenberg forderte gar, die ‚Fälschung eines geistigen Vorläufers unserer Weltanschauung‘ offiziell unterbinden zu lassen.“Footnote 122
Die Kritik an Nietzsche aus dem Dühringerkreis wurde ebenfalls erst im Nationalsozialismus erstickt, einige Werke aus diesem Kreis wurden von der Reichsschrifttumskammer verboten.Footnote 123 Im „Hammer“, einem Propagandablatt der Rechten, ursprünglich herausgegeben von Theodor Fritsch, der Nietzsche anlastete, „auf tausende von jungen deutschen Hirnen wie Schwefelsäure gewirkt‘“Footnote 124 zu haben, und das nach dem Tod Fritsches von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet wurde, wurde Nietzsche schließlich als Vordenker des Nationalsozialismus gelobt.Footnote 125
Dies heißt allerdings nicht, dass Nietzsche nur in einem nachträglichen Umschwung von politisch rechtsstehenden Positionierungen vereinnahmt wurde. Der elitäre Zug von Nietzsches Philosophie, sein Lob des herausragenden Individuums und andere Kernsätze dieser Art zogen schon früh Geister wie Stefan George, Ernst Jünger, Thomas Mann und Gottfried Benn an, die man mindestens in ihrer frühen Zeit als Nationalisten bezeichnen kann.Footnote 126 So wie Nationalisten und Kritiker der Weimarer Republik sich für oder gegen Nietzsche stellen konnten, so ähnlich sah es aufseiten der Linken aus. Hier waren es neben Feministinnen, wie z. B. Isadora Duncan oder Helene Stöcker, die Sozialisten Gustav Landauer und Joseph Bloch, die Nietzsches Philosophie in eine linksgerichtete Theorie zu integrieren suchten,Footnote 127 während der Großteil der linken Intellektuellen Nietzsches Amoralismus und Individualismus ablehnten. So urteilt Ferdinand Tönnies exemplarisch für die politische Linke:
„Der ‚Antichrist‘ ist überhaupt, mit seiner scheinbaren Logik, Psychologie, Historie, in Wahrheit ohne allen wissenschaftlichen Wert. Es ist nichts als Haß und Wut, was darin beredt wird, ohne einen Schimmer von Gerechtigkeit; maßloser Hochmut, der beschimpft, was er nicht versteht; ein grobes Moralisieren und kurzsichtige Ideologie, aber immer mit mächtigen Worten, mit advokatischer Schlauheit, mit artistischer Unwahrheit.“Footnote 128
In ihrer Ablehnung teilten sie dann auch ähnliche Vorwürfe wie die Rechte: Vom Sturz in den Wahnsinn als drohende Folge der Vertiefung in Nietzsches Philosophie und die besondere Anziehungskraft seines Stils auf leicht beeinflussbare, junge Menschen. Charakteristisch wertet hier wieder Tönnies:
„Trocken? Im Gegenteil. Was das Glück dieser Schriften bei unreifen Lesern macht, das ist das Flüssige, Strömende darin, eine sich überstürzende Beredsamkeit, die sich in starken Ausdrücken, heftigen Invektiven, wortreicher Kundgabe der persönlichen Empfindungen gefällt. Klar? Die Grundgedanken kommen zu klarer Geltung, ja; aber dazwischen – wie viel Trübes, wie viel Andeutung, Geheimnistuerei, Prunken mit Masken, Ankündigung von tiefen und allertiefsten Dingen, Verzicht auf Verstandenwerden, wie viel, was er selber sonst als Künstlereitelkeit, Künstlermystik denunziert hatte!“Footnote 129
Noch schärfer spricht Tönnies sein Urteil in seiner vorangegangen Kritik „Nietzsche – Narren“ aus, in der Nietzsches späterer Wahnsinn bereits als Beweis für die (angeblich) zersetzten Gedanken in seinen letzten Werken angenommen wird.Footnote 130
„Nietzsche ‘s Bogen war überspannt. Mit dem Wahne, der bei beginnender Paralyse nicht unerhört ist, schwelgte er in unablässigen Gedanken an Kraft; von seiner eigenen hatte er eine unermeßliche Idee gewonnen, und Kraft zu verherrlichen, zu verteidigen, alles Kleine, Bescheidene, Demütige als jämmerlich zu verhöhnen, zehrte er in unerschöpflichen Wendungen an seiner fruchtbaren Phantasie.“Footnote 131
Entgegen Elisabeth Förster-Nietzsches Bestreben, Nietzsches geistige Umnachtung als Folge eines ständig zu hohen Gebrauchs von Chloralhydrat darzustellen, wurde sein Wahnsinn beliebig ausgedeutet, vor allem anderen aber die (auch heute als wahrscheinlich angenommene) Syphilis-Diagnose in diesem Zusammenhang herausgestellt.Footnote 132 Dass mit den Hypothesen zu den Ursachen, Formen und Datierungen des Wahnsinns Nietzsches Thesen als widerlegt gelten sollten, hinderte Nietzsches Anhänger keinesfalls, diese ihren eigenen Gesinnungen dienstbar zu machen. Schon bald erschien sein Wahnsinn, wenn nicht gar als höchste Stufe der Erleuchtung, dann als das Schicksal desjenigen, der, verkannt von der Gesellschaft, es auf sich nimmt, in den kältesten Regionen des Geistes nach Wahrheit zu suchen und der an der Gleichgültigkeit und Missachtung der Gesellschaft und seiner Freunde schließlich zerbricht.
2.3 Nietzsche als geistiger Held
So extrem wie die Verdammungsurteile seiner Gegner ausfielen, so pathetisch ertönten die Erlösungsrufe, in die alsbald seine Anhänger verfielen. Strindberg, den Nietzsche selbst, wenn auch nicht persönlich, so doch noch brieflich kennenlernte und zu dem sich ein von gegenseitiger Sympathie bestimmtes Verhältnis abzeichnete, das selbst von den Wahnsinnszetteln nicht getrübt wurde, schrieb: „Ich begrüße in ihm den Befreier und als Katechume schließe ich meine Briefe an die intellektuellen Freunde mit folgendem Wort: ‚Lest Nietzsche!‘“Footnote 133 Musste diese eindringliche Aufforderung nicht wörtlich als Botschaft eines „Gläubigen“ verstanden werden, so sah es bei weiteren Bekenntnissen anders aus, denen man nur schwerlich eine fröhliche oder gar wohlwollend ironische Seite abgewinnen konnte, die Nietzsche vermutlich mehr behagt hätte. Heinrich Köselitz alias Peter Gast schlug die letzten Warnungen Nietzsches („Ich will keine ‚Gläubigen‘, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen … Ich habe eine erschreckliche Angst davor, dass man mich eines Tags heilig spricht“, EH, Warum ich ein Schicksal bin 1, KSA 6, 365) in den Wind und ließ in seiner Schrift auf der Schweife des Kranzes, den er auf Nietzsches Grab zu dessen Beerdigung legte, keinen Zweifel daran, wo er seinen Meister bald zu sehen wünschte: „[…] und Dein Name sei heilig / allen kommenden Geschlechtern / Dem grossen FRIEDRICH NIETZSCHE / sein dankbarer Schüler Peter Gast.“Footnote 134
Nietzsche als Denker zu einem Mythos zu gestalten, besaß nicht wenig Attraktivität für philosophisch geschulte Schriftsteller wie Ernst Bertram oder Theodor Lessing, die ihren ganz eigen aufgefassten heroischen Nietzsche ins rechte Licht rücken wollten. Dass die jeweiligen Nietzschebilder ganz anders aussahen, mag in Anbetracht der Unterschiedlichkeit der beiden Schriftsteller nicht verwundern. Theodor Lessing erfüllte als Jude, Feminist und Sozialist nahezu alle Voraussetzungen, um in der Weimarer Republik auf große Widerstände zu stoßen. Seine Schriften erregten immer wieder Missfallen. So wurde seine Abhandlung „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“, verfasst während des Ersten Weltkrieges, zunächst verboten und konnte erst 1919 veröffentlicht werden. Seine Kritik an HindenburgFootnote 135 trug ihm Hass aus deutschnationalen und völkischen Kreisen ein. Es kam schließlich 1926 zum Boykott der Studenten an der Universität, der mit seiner Beurlaubung endete. Nach der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten floh Lessing mit seiner Frau in die Tschechoslowakei. Mit einem von Nationalsozialisten mit 80 000 Reichsmark gekauften Mörder wurde seinem gefährlichen Leben 1933 ein Ende gesetzt. Ernst Bertram hingegen, der dem George-Kreis nahestand, gehörte nicht nur zum deutschnationalen Zirkel, sondern sympathisierte 1933 mit den Nazis und verfasste zur Bücherverbrennung folgende Verse: „Verwerft, was euch verwirrt, / Verfemt, was euch verführt! / Was reinen Willens nicht wuchs, / In die Flammen mit was euch bedroht“Footnote 136. Mit seinem Werk „Nietzsche. Versuch einer Mythologie“ wurde Bertram in literarischen Kreisen weithin bekannt.
Obwohl sich das Nietzschebild Bertrams und Lessings signifikant unterschieden, teilten sie einige Gemeinsamkeiten, die besonders zu Beginn ihrer Nietzschebücher ins Auge stechen. Beide stellten Nietzsche als Gipfel und Wendepunkt eines Jahrhunderts dar, durch den ein neuer Anfang und Aufbruch eingeleitet werde.Footnote 137 Bei beiden ist Nietzsche der kämpferische und der einsame Geist, der jeden falschen Kompromiss und jedes behagliche Glück verurteile, dem jede Erkenntnis ein Schnitt ins eigene Fleisch noch eine Bejahung abverlange und der schließlich an seinem eigenen Denkvermögen zugrunde gegangen sei: Nietzsche erscheint als tragische Gestalt, gleich seinen eigenen literarisch-philosophischen Erzählfiguren, die er zur Verlautbarung philosophischer „Verkündigungen“ nutzt. So schrieb Lessing:
„[…] der Übermensch darf keine Entschmerzlichung, Entwirrung und Verannehmlichung des Lebens bringen. Er darf nicht wie Buddhismus und Christentum das Leben schlaffer, glücklicher, schmerzfreier machen wollen. Im Gegenteil, er möge in Feuer und Schwert, als Geißel und Rute, er möge in Kriegen und Revolutionen über die Menschheit daherbrausen, wofern nur Verbrechen und Sünden, Laster und Bosheiten die Steine sind, daran wir uns schleifen; Steine, die wir zu Stufen nützen, um höher zu steigen zum letztmöglichen Größen- und Schönheitswert.“Footnote 138
Indem Nietzsche nach Lessing ein Ideal des gefährlichen Lebens aufstellt, widerlege er sich allerdings selbst. Wenn das Leben keine (geistigen) Ziele habe, da Gott nicht existiere, dann sei jedes Sollen eine moralische Zwangsjacke, die sich notwendig gegen das Leben kehre. So sehr Nietzsche sich eine Heiligsprechung allen Lebens gewünscht habe – kulminierend im Gedanken der ewigen Wiederkunft und des Amor fati –, habe er nicht davon lassen können, das Leiden auszudeuten und Ideale zu setzen (bezeichnenderweise der Übermensch).Footnote 139 Nietzsches Wahnsinn sei daher als Folge seines Denkens zu verstehen, da „der ethische und der kosmische [Gedanke] unvereinbar bleiben und daß an ihrem Gegensatz und Widerspruch Nietzsches Denken zerbrach.“Footnote 140 Lessings Nietzschebuch wurde 1925 veröffentlicht. Zu dieser Zeit war Nietzsche längst ein bekannter Philosoph. Nicht ihn musste man berühmt machen, sondern durch ihn konnte man bekannt werden, wie Ernst Bertram es geworden war. Dennoch schrieb Lessing mit einer Ergriffenheit, als müsste Nietzsche gerettet werden, zwar nicht mehr aus dem Vergessen, sondern aus – viel schlimmer – den falschen Händen.
Diese falschen Hände waren nach Lessings Meinung diejenigen, die Nietzsches Philosophie durchaus wertschätzten und einem breiteren Publikum nahezubringen suchten, sei es auf Universitäten oder durch populäre Literatur. Der Fehler lag Lessings Auffassung zufolge darin, dass diese Wertschätzung nur durch eine Verharmlosung von Nietzsches gefährlicher Philosophie und durch eine unerträgliche Verflachung zustande komme.Footnote 141 Lessing, der stets angefeindete Universitätsgelehrte, wollte seinen einsamen Nietzsche behalten:
„[D]as Bild, das dank Nietzschearchiv und Nietzscheliteratur allmählich zum geschichtlich herrschenden geworden ist, entwand dem Jupiter seinen toddrohenden Blitz. Er wurde familienmöglich, akademiefähig, universitätsreif. Seine schmerzlichsten Stunden, daran kaum das Wort rühren mag, sind heute schon ‚Diskussionsstoffe‘, seine erbarmungsloseste Wahrheit wurde schmackhaft für ein Lesepublikum, das im Geiste schließlich auch Mammute verdaut, wofern man nur nicht von ihm verlangt, daß es sich verändere. Alle Werke Nietzsches wurden in sehr wohlgemeinte Erläuterungen eingepackt, welche schließlich darauf hinauskommen, das Fritz doch ein guter Mensch gewesen ist und ein so wohlmeinender, zartfühlender Sohn, Enkel, Neffe und Bruder; auch, obwohl er so ungeheure Gedanken schleudert, es doch gar nicht böse meint mit dem guten Menschengeschlecht, so daß das feinste Publikum ihn ruhig lesen kann am Teetisch, da es ja zuletzt doch nur Gedrucktes ist und in Wahrheit gar nicht so schlimm, und er mit diesen Gedanken wohl auch Geheimrat hätte werden können…“Footnote 142
Lessing nahm, so kann man aus dieser Schlusspassage folgern, bezüglich der lebensverändernden Kraft philosophischer Texte einen anderen Standpunkt als beispielsweise George Brandes ein. Die Aneignung der nietzscheschen Philosophie am Teetisch ist Lessing zufolge verfehlt, weil ein solches Publikum schließlich alles „verdaut, wofern man nur nicht von ihm verlangt, daß es sich verändere“Footnote 143. Und genauso wenig wie sich Nietzsches Philosophie für das ‚Kaffeekränzchen‘ eigne, sowenig solle er „akademiefähig, universitätsreif“Footnote 144 gemacht werden, weil die distanzierende Beschäftigung auf der Universität, so können wir aus dem impliziten Urteil schließen, ebenso keine transformative Lebensveränderung einfordere, sondern die Philosophie auf ihre jeweiligen Begriffe gebracht, lediglich in den großen und belanglosen Reigen der Philosophiehistorie aufgenommen und ihr damit gefährdendes Potenzial entzogen werde. Die Forderung, sein Leben zu verändern, seine Standpunkte zu überprüfen und anders zu urteilen als so, wie Common Sense, Gesellschaft und Tradition es vorgeben, ist für Lessing integraler Bestandteil von Nietzsches Philosophie. Wer Nietzsches Philosophie gerecht werden wolle, müsse sein eigenes Leben in die Waagschale werfen. Es genüge nicht, seine Gedanken verstanden zu haben. Entweder müsse man Nietzsches Philosophie ablehnen oder, sofern man ihren Wert anerkenne, man habe sich selbst zu ändern. Eine Alternative gebe es nicht. Daher gebe es auch keinen Platz für Bewunderung ohne radikale Infragestellung des eigenen Lebens und der Werte, an denen bisher das eigene Leben ausgerichtet worden sei. Nietzsches Philosophie müsse einen Preis für all diejenigen kosten, die ihn wertschätzen, und dies sei mindestens der Ausschluss aus einem gesellschaftlichen Leben, in dem man intellektuelle Gaumenfreuden sonntags beim Kaffeekränzchen genießen könne.
Während Lessing in seinem Buch der Werkchronologie von Nietzsches Veröffentlichungen folgte, stellte Bertram Nietzsche in Kapiteln vor, die Kernthemen von Nietzsches Philosophie behandeln sollten. In dem Kapitel „Ritter, Tod und Teufel“Footnote 145, benannt nach dem Kupferstich von Dürer, der dem sonst von der bildenden Kunst eher unbeeindruckt zeigenden Philosophen wohl gefallen hat,Footnote 146 spricht Bertram von den von Nietzsche verherrlichten Tugenden „Mut“ und „Gefahr“. Von Beginn an habe Nietzsche das Wagnis geschätzt; den Versuch, der die Gefahr kennt als Tod, Verderben, Untergang, aber sich der Angst nicht ergibt.Footnote 147 Dieses Motiv der Gefahr, das des mutigen Charakters bedarf, entwickelt sich bei Bertram zu einem ritterlichen Ethos, zu einem fairen Zweikampf von Angesicht zu Angesicht, das schließlich zu einer deutschen Tugend stilisiert wird:
„Und es ist tief bedeutsam, daß die einzige deutsche Eigenschaft, welche Nietzsche bis zuletzt, bis in seine gegendeutscheste Leidenschaft hinein als gut bewertet und bejaht, die Eigenschaft ist, aus der die deutsche Reformation erwuchs: die stille Kühnheit des ritterlichen Einzelnen, die Tapferkeit des ‚hier stehe ich, ich kann nichts anders‘. Kühnheit nach innen und Bescheidung nach außen, nach allem Außen ist ihm ‚eine deutsche Vereinigung von Tugenden‘“.Footnote 148
Der Mut wird zum Prüfstein für den Charakter. Nicht Schopenhauers Pessimismus sei letztlich das entscheidende Kriterium für Nietzsches harte Kritik an ihm, sondern die Unaufrichtigkeit.Footnote 149 Schopenhauer, der das Leben verurteile, hätte bei Gelegenheit nicht vor der Seuche fliehen, sondern sich ihr stellen müssen, denn zu verlieren hätte er, sofern er selbst für die Wahrheit seiner Gedanken eingestanden hätte, nichts gehabt.Footnote 150 Welche Gefahr der Einzelne indes auf sich zu nehmen habe, wird bei Bertram nicht thematisiert, da dies zur Charakterfrage werde d. h. aufrichtig für dasjenige einzustehen, was man glaube, gleichgültig dessen, was dies sei. Da in diesem Fall Luther angesichts seiner Standhaftigkeit trotz drohender Verurteilung deutlich besser als Schopenhauer abschneide, wird es zwangsläufig erklärungsbedürftig, wie die verbalen Ausfälle Nietzsches gegen Luther ins Bild passten. Hier greift Bertram auf eine beliebte Strategie zurück: Gerade die Feindschaft, die Leidenschaft verrate, beweise die ursprüngliche Liebe, Verbundenheit und nicht zuletzt die eigene Abstammung, aus der man sich niemals lösen könne. Bertrams Nietzsche wird mithilfe dieser Strategie nicht nur zum geistigen Bruder von Luther erklärt, sondern generell protestantisch,Footnote 151 christlichFootnote 152 und deutschFootnote 153 gedeutet: Seine Natur sei schwer, tief, nordisch – eine Seele zwischen Abgründen und Kämpfen – die antizipierte Leichtigkeit des Südens, das Lachen, die Lebensbejahung all dies seien nur Nietzsches sehnsuchtsvolle Wünsche nach dem Anderen, dem, was er eigentlich nicht sei.Footnote 154
Das Kapitel endet, bezeichnend für den Stil des Buches, mit dem kränklichen Nietzsche, seit seinem 35. Lebensjahr von der Universität beurlaubt und von da an reisend und suchend nach dem Klima, das ihm die die besten Arbeitsbedingungen verspricht. Dies wird bei Bertram zur folgenden Gestalt stilisiert:
„denn auch Nietzsche ist uns nun ‚ein solcher dürerscher Ritter‘; nicht zwar ‚ohne jede Hoffnung‘, und als ein solcher, der mehr wollte, mehr von sich wollte als ‚die Wahrheit‘. Aber gleich Schopenhauer und Luthers freiem Christenmenschen ‚niemanden untertan‘, zieht er furchtlos zur Stunde eines gefährlichen Zwielichts seine Straße, im Geleit der Dämonen, zwischen dem Tod, der das ‚Wissen‘ ist, und dem Teufel, der sich ‚Versuchung der Einsamkeit‘ nennt. Oben erglänzt die Burg einer gotischen Romantik, von der Gewissen ihn harten Abschied nehmen hieß, noch in tönendem Abendlicht. Aber der Pfad, der böse Pfad durch den Engpaß zweier Zeiten hindurch, erdunkelt in der Nacht eines künftigen Schicksals. Wohin er führt, wo er endet? Aber führt er überhaupt, endet er überhaupt? ‚Dennoch –‘“Footnote 155
Bei Bertram verschmelzen Leben und Denken zur Synthese: Nietzsche ist in dieser Darstellung nicht nur derjenige, der zum Gefährlichen auffordert, sondern derjenige, der sein eigenes Denken verwirklicht. Er lebt gefährlich, indem er gefährlich denkt.
Sowohl Theodor Lessing als auch Ernst Bertram bewerten Nietzsches Philosophie des Gefährlichen positiv, insofern sie diese Gefährlichkeit glorifizieren. Dass Lessing Nietzsches Denken für gescheitert hält, da er einen unauflösbaren Widerspruch zu überbrücken versuche, und dass Bertram Nietzsche als eine innerlich zerrissene Seele darstellt, bleibt dabei bedeutungslos. Beide beurteilen Nietzsche aus einer idealen Perspektive heraus, die das Denken über das eigene Leben stellt. Eine solche Darstellung ist immun gegen den Vorwurf, eine solche Philosophie würde das Leben existenziell gefährden und sei daher abzulehnen, denn das Leben ist gerade dasjenige, was gefährdet werden soll bzw. sich in der Gefährdung zu beweisen hat. Sollte der Einzelne dabei tatsächlich untergehen – wie Nietzsche letztlich selbst als Philosoph in beiden Darstellungen –, sei dies immer noch der Behaglichkeit vorzuziehen.
2.4 Die Nietzsche-Begeisterung der künstlerischen Avantgarde. Exkurs und Fazit
Wer ehrgeizigere Ziele hegte als bloßer Meisterschüler wie Peter Köselitz oder Mythen schaffender Schriftsteller wie Lessing oder Bertram zu werden, dem blieb die Möglichkeit offen, Nietzsches gefährlichen Weg in die eisige Kälte und sein Verirren, sein Fallen so herauszustellen, dass dem eigenen Ich die große Aufgabe bevorstand, Ähnliches zu wagen und dabei den Lehrer übertreffend, siegreich zurückzukommen, um „sich [zu] bannen in den kreis den liebe schließt…“Footnote 156. In der Avantgarde war Nietzsche zur Symbolfigur eines antibürgerlichen Ideals geworden. Wie Wieland Schmied in seiner Analyse zum Einfluss Nietzsches auf die bildende Kunst der Jahrhundertwende und des frühen 20 Jahrhunderts schreibt, war Nietzsche der Mann, „der zu Abenteuer und Wagnis rief und einlud, um der Erkenntnis willen ‚gefährlich zu leben‘, […] der Verdammer allen Mitleids, der Bejaher aller Tiefen und Höhen menschlicher Existenz, der Philosoph der freien Geister, der keine Bindungen kannte, der eine Umwertung aller Werte forderte, der die Verachtung des Staates predigte und den Rausch der Einsamkeit verkündete“Footnote 157 und damit all jene Künstler anzog, die sich im Widerstand zur bürgerlichen Gesellschaft und deren Werten fühlten.
Der literarische und malerische Expressionismus wurde genauso wie der Symbolismus und der Fauvismus von einem Nietzsche-Enthusiasmus geradezu überflutet.Footnote 158 Nietzsche bot eine Folie, der es nachzueifern und von der es sich abzuheben galt. So schrieb der 17jährige Georg Heym:
„Und dennoch. Seine Lehre ist groß. Was man dagegen sagen mag, sie giebt unserm Leben einen neuen Sinn, daß wir Pfeile der Sehnsucht seien nach dem Übermenschen, daß wir alles Große und Erhabne in uns nach unsern besten Kräften ausgestalten und so Sprossen werden auf der Leiter zum Übermenschen. War nicht Goethe ein solcher? O ein schwerer Tropfen zu sein, in der dunklen Wolke, die den Blitzstrahl birgt, der den Übermenschen auf die Erde schleudert. Ferner und ferner sehen lernen, sich wegwenden vom Augenblick und dem Übermenschen zu leben, lehrt uns Zarathustra. Und diese Lehre kann uns auf uns allein stellen. Ich las ihn und wurde gefangen, ich, der ich früher Angst vor diesem Buche hatte. Und eine Stelle ist mir die liebste geworden und eine große Tafel an meinem Wege, der sich verlor in das Niedere. O daß es mir gelingen möchte, mein Leben nun umzugestalten, um ein Pfeil zum Übermenschen zu werden.“Footnote 159
Auch wenn Nietzsches Name selbst – im Gegensatz zu demjenigen Hölderlins – immer seltener in Heyms Tagebuch genannt wird, bleibt der Einfluss in Symbolik und Sprachgebrauch offensichtlich: „Wenn aber das Schicksal siegt, so will ich wenigstens ruhmvoll fallen. Wie sollte mein Tod ein Fest sein, daß ich vielleicht dadurch noch etwas Ruhm erlange. Meine Freunde würden mich begleiten.“Footnote 160 Was anzuziehen scheint, ist das selbstversucherische Moment in Nietzsches Philosophie. Es gilt, sich selbst zu einem besonderen Menschen zu schaffen, ohne dass diesem Besonderen Attribute jenseits blitzschwangerer Metaphorik zugeordnet werden. Wohin es gehen soll, scheint zumindest in eine Richtung klar zu sein – am besten zu einer Höhe hinauf, die dem Publikum guten Blick gewährt für das tragische Fallen des Helden. Bei aller Todessehnsucht, die exzessiv im Tagebuch zu Wort kommt,Footnote 161 möchte Heym aber letztendlich über seine Vorbilder hinauskommen und schreibt drei Jahre später im Sommer 1910, worin er sie zu übertreffen meint. „Was ich vor Nietzsche, Kleist, Grabbe, Hölderlin … voraus habe? Daß ich viel, viel vitaler bin. Im guten und im schlechten Sinn.“Footnote 162 Anziehend bleibt die Gefahr, aber nun ist es nicht mehr der Sturz, der als Ziel erscheint, sondern die ehemaligen Vorbilder sind Gestürzte, was die Möglichkeit eröffnet, sie zu übertreffen, weil das eigene (geistige) Rüstzeug größeren Erfolg auf dem steinigen Weg zum Gipfel verspricht. Das von Nietzsche verherrlichte und gefährdete Leben wurde von vielen Expressionisten als die neue Instanz verstanden, die über den Wert einer Sache zu entscheiden hat, nachdem die göttliche an Glaubwürdigkeit verloren hat. Nun gibt es, wie Hans Ester schreibt:
„keine höhere Instanz als dieses irrationale Leben, das die höchste Autorität verkörpert. Dieses Leben ist es, das im Werk der Expressionisten auftaucht, etwa bei Gottfried Benn, Walter Hasenclever, Arnolt Bronnen, Georg Heym, Georg Trakl und bei niederländischsprachigen Dichtern wie Paul van Ostaijen und Hendrik Marsman. Ja, bei wem eigentlich nicht? Und natürlich bei Rainer Maria Rilke, bei Thomas und Heinrich Mann.“Footnote 163
Die ab 1895 erscheinende Zeitschrift „PAN“, die als eines der wichtigsten Publikationsorgane des Jugendstils gilt, eröffnete ihre erste Ausgabe mit Zitaten aus dem Zarathustra.Footnote 164
Auch die Maler der Künstlergruppe die Brücke wählten ihren Namen nicht ohne Bezug zu NietzscheFootnote 165 und in ihrem Programm waren es Schlagworte, die in ihrem vitalistischen Appell auf Nietzsche zurückdeuten wie „Entwicklung“, „Neue Generation“, „Jugend“, „Zukunft“, „Lebensfreiheit“, „Schaffen“, und „Drängen“.Footnote 166 Die Begriffe, welche die Künstler aus Nietzsches Philosophie entnahmen, waren Ester zufolge die Munition, mit der die „in ihren Augen überholte Welt zu bekämpfen“Footnote 167 war und die gleichzeitig „mit einer Perspektive auf eine neue Ära, von deren Morgenröte Nietzsches Zarathustra bereits Zeuge sein darf“Footnote 168, versehen wurde.
Wie tief dabei die Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie erfolgte, bleibt bei vielen dieser Künstler offen. Am Deutlichsten treten Bezüge zu dem Werk Also sprach Zarathustra und Die Geburt der Tragödie hervor.Footnote 169 Die Verherrlichung von Künstlertum, von Schaffen, Einsamkeit, Rausch und Ekstase, prädestiniert diese Werke für die künstlerische Aneignung und Selbsterhöhung. Stanislaw Przybyszewski, in dessen Einfluss Edvard Munch geriet, schrieb in seinem Werk Zur Psychologie des Individuums, das Nietzsche verpflichtet bleibt:
„Rausch ist die Kunst ihrem Wesen, ihrer Entstehung nach und Rausch muß sie hervorrufen, sonst haben wir sie nicht nötig. – Rausch der geschlechtlichen Ekstase, mit ihrer geheimnisvollen dämonischen Gewalt; Rausch der Dämmerung und schwüler Sommernächte; Rausch der überschäumenden Jugend und der Frühlingslust; Rausch der ekstatischen Begeisterung und dionysischer Raserei, der Sehnsucht und des Schmerzes.“Footnote 170
Diese selektive Aneignung, die Nietzsches Künstler- und Wagnerkritik, seine scharfen Worte gegen Rausch, Romantik und Selbstverlust schmerzlich vermissen lässt, fand ihren Niederschlag in heroischen Zeichnungen und Gemälden, teils mit Nietzschezitaten bestückt, teils mit Nietzsche-Darstellungen vor bezeichnenden Landschaften wie beispielsweise vor schroffen Felshängen.Footnote 171
Edvard Munch blieb von der Versuchung heroischer Darstellung ebenfalls nicht verschont.Footnote 172 Zwei Gemälde aus dem Jahr 1905 tragen Nietzsches Namen. Das eine davon zeigt Nietzsche auf einer Brücke,Footnote 173 die das Bild diagonal in zwei Hälften teilt, wobei die Richtung von links unten nach rechts oben der Komposition von Munchs wohl berühmtesten Gemälde Der Schrei (1893) genau entgegengesetzt ist. Entgegen der dortigen ätherisch geschwungenen Gestalt steht die Nietzschegestalt massiv, mächtig, in aller Ruhe da. Die Hände, obwohl auf das Brückengeländer gelehnt, stützen den Philosophen nicht ab und suggerieren den Eindruck einer gedankenverlorenen Berührung, die zwar Kontakt sucht, aber dessen zugleich nicht bedarf. Der Blick ist nach innen gerichtet, die Brauen sind zu zwei steilen Stirnfalten zusammengezogen: Dies ist der Denker, der sich von nichts ablenken lässt. Die Landschaft in geschwungenen Linien und der rot-gelbe Himmel bieten sich ebenfalls zum Vergleich mit dem Bild Der Schrei an. Die Landschaft bei letzterem ist in dunkle, unreine blau-braun Töne getaucht, durchbrochen nur durch einige hellere Stellen und wenige Rotanteile, während die Nietzsche-Landschaft in reinen Primärtönen leuchtet, ergänzt durch ein helles, saftiges Olivgrün. Bleibt eine ovale, etwas hellere Fläche in dem Bild Der Schrei landschaftlich unbestimmt, liegt ein Dorf mit herausstechender Kirche in den seltsam bewegten Linien des Nietzschegemäldes. Darüber türmen sich zwei kobaltblaue Berge in weichen Linien, über denen sich wiederum der Himmel in geschwungenen Rot- und Gelbtönen erstreckt,Footnote 174 wobei die Gelbanteile deutlich überwiegen. Entsprechend den zwei Bergen sind zwei flache Hügel auf dem Bild Der Schrei zu sehen, die allerdings keine Vertikalität vermitteln können. Der Himmel in orange-rot schafft weniger einen lichten als einen apokalyptisch-brennenden Eindruck, verstärkt durch die nervöse Linienführung des gesamten Gemäldes. Demgegenüber sind im Nietzschebildnis die Farbflächen zu größeren Einheiten zusammengefasst. Betrachtet man allein das Nietzschebildnis für sich, erscheint die Gestalt des Philosophen mächtig und stark. Die reinen Farben und der lichte Himmel lassen kein widersprüchliches Verhältnis zwischen Mensch und Welt erkennen. Der Philosoph auf der Brücke, sinnbildlich zwischen Himmel und Erde, mag zwar die Geborgenheit von Dorf und Kirche verlassen haben, aber er scheint keines weiteren Haltes zu bedürfen. Seine Seelenlandschaft ist die eines Dazwischen, aber nicht eines gefährdeten Dazwischen, sondern eines, das vor dem Hintergrund dessen zu verstehen ist, was zu ihm gehört: die blauen Berge, die das Distanzierte, Geistige symbolisieren, und die hellen Strahlen der Sonne, die für Erkenntnis stehen. Die Gefahr von Wahnsinn, Auflösung und Scheitern, die so eng mit dem Bildnis Der Schrei verbunden ist, findet sich beim Nietzschebildnis nur wieder, wer sich den „Schrei“ ins Gedächtnis ruft. Dann allerdings ist es keine drohende Gefahr, sondern die Darstellung des Sieges. Der Philosoph hat sich dem Wahnsinn und der Auflösung gestellt. Die bewegten Linien, die keinen festen Halt ermöglichen, sprechen gegen eine feste Ordnung, die sich in der Welt finden lassen könnte, aber der Philosoph hat sich der Orientierungslosigkeit nicht ergeben, weil er seinen Halt in sich findet. Der Philosoph, Nietzsche selbst, ist die Vertikale, die bis in den Himmel reicht. Diese heroisch-ernste Darstellung lässt sich als Wunschvorstellung des Künstlers interpretieren. Munch, der sich sein Leben lang vom Wahnsinn bedroht fühlte und unter Depressionen litt, malte das Bild des zuletzt wahnsinnigen Philosophen siegreich. Damit ließ Munch seine Darstellung anders enden als sein Freund Przybyszewski, der
„Nietzsche als effektvolle Silhouette, als Zarathustra auf dem Gipfel seines Berges […] zeichne[t]. Dort ruft er die ewige Wiederkehr aller Dinge an. Er steht mit nach der Ferne ausgestreckten Händen, und auf seiner Stirn trägt er das Mal eingeritzt, das diejenigen kennzeichnet, die dazu verurteilt sind, für die Zukunft geopfert zu werden.“Footnote 175
Beim Blauen Reiter war es vor allem Franz Marc, der sich mit Nietzsches Philosophie auseinandersetzte. Im Gegensatz zu Munch, der kein gewissenhafter Leser philosophischer Werke war,Footnote 176 las Franz Marc nahezu das gesamte zu der damaligen Zeit veröffentlichte Werk Nietzsches. Obwohl ein begeisterter Leser suchte Franz Marc von Beginn an seine eigene Position zu Nietzsche, wofür es ihm nötig erschien, das Werk zu beurteilen, ohne dass es ihm ganz gelang, sich von dem Autor zu distanzieren:
„Nietzsche litt am tiefsten, kämpfte am verzweifelsten; mit seinen Zarathustra-Ideen riß er das Unmöglichste vom Himmel; er allein wollte eine ganz neue Kultur forciren; er spannte seinen Bogen zu scharf u. der Pfeil fiel kraftlos vor ihm auf die Erde; das ist seine Tragik; Er konnte nicht schaffen, wozu vielleicht 2 Jahrhunderte nötig sein werden. Aber doch ist jede seiner Gesten ein Ereignis, jeder seiner Gedanken im höchsten Sinn heroisch. Seine ‚Unzeitgemäßen‘ sind Anfangsschriften; mit der ‚Morgenröte‘ beginnt der Umschlag bei ihm, seine Übermenschenideen. Er wird vom ‚Historiker‘ zum [Ph] ‚Propheten‘!“Footnote 177
Wen Franz Marc höher schätzte, Prophet oder Historiker, wird hier offensichtlich. Nietzsche wird zum tragischen Helden stilisiert, dem seine Gedanken wie Weissagungen geglaubt werden. Selbst noch die zweihundert Jahre, die Nietzsche zu früh gekommen sei, stammen aus Nietzsches Gedankengut, als den kommenden zweihundert Jahren des Nihilismus.Footnote 178
In den 100 Aphorismen. Das zweite Gesicht betitelten Notizen und Sinnsprüchen, die Marc 2014/15 verfasste und die 1920 von Maria Marc in Buchform herausgegeben wurden, taucht Nietzsches Name einige Male in durchaus ambivalenten Stellungnahmen auf. Bemerkbar ist die Verschärfung der Kriegsrhetorik in Verbindung mit Nietzsche. Worum es zu gehen hat, scheint zumindest bei Marc nicht mehr „das rein geistige“ (Kandinsky)Footnote 179 zu sein, sondern es geht um Aktion, um die Vormachtstellung gewisser Lebensweisen, die explizit kriegerisch durchgesetzt werden sollen:
„59. Die Entwicklung des neuen Europäertypus hat nur einen großen Widersacher, den Nietzsche so genial erkannt und entlarvt hat: den Typus des Engländers. Sein Antipode ist der deutsche Typ, der allein berufen ist, den Engländer im Europäer zu vernichten. Den Auftakt dieser Mission dieser sagenhafte Krieg, dem noch viele blutige und unblutige folgen werden, bis die Gefahr der Verengländerung Europas abgewendet ist. In uns allen steckt das Gift und Übel. Der Kampf gegen die ‚Ausnutzung der Welt‘ gegen den Utilitarismus in allen den Dingen und vornehmlich in der Kunst, das ist unser Programm.“Footnote 180
In diesem Sinne wird Nietzsches Kriegsverherrlichung aus dem Za (Za I, Vom Krieg und Kriegsvolke, KSA 4, 58–60) und der FW (z. B. FW 362, KSA 3, 609–610) wörtlich genommen. Eine Verbindung zwischen den Kriegsbildern der Expressionisten und Nietzsches Philosophie wurde auch in der Expressionismus-Rezeption gezogen. So kommentierte Wieland, Ludwigs Meidners am Vorabend des ersten Weltkrieges (1913) gemaltes Bild Apokalyptische Stadt folgendermaßen: „Am Himmel zerplatzen rote Sonnen, Feuerbogen verbinden Himmel und Erde, und ein Höllenschlund öffnet sich, Häuser und Menschen zu verschlingen.“Footnote 181 Der Wunsch Zarathustras nach dem Untergang der Stadt („Wehe dieser grossen Stadt! — Und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird!“ Za III, Vom Vorübergehen, KSA 4, 225) habe Meidner im Begriff gesehen, sich zu realisieren. Letzten Endes schienen auch nicht mehr die konkurrierenden Lebensweisen und -ideale, die den Krieg rechtfertigen, entscheidend. Entscheidend war der Krieg als Ereignis selbst. So fiel Marc ein in die Stimmung von der erlösenden, reinigenden Kraft des Krieges, die weite Teile der Bevölkerung erfasste und die in den Schützengräben häufig ihr Ende fand:
„63. ... Unsre Herzen zittern in dieser Kriegsstunde, nicht vor der Gefährlichkeit der Krise, sondern vor Freude, die böse, dunkle Stunde Europa ‘s erlebt zu haben. Das Ausfallsthor der That.“Footnote 182
Dennoch blieben bei Marc wie auch schon bei Heym der Versuch und der Wunsch bestimmend, das Vorbild zu übertrumpfen. Pläne sollten gemacht werden für die Zukunft, wenn der Krieg vorbei ist und mit ihm – Nietzsche:
„26. Nietzsche hat seine gewaltige Mine gelegt, den Gedanken vom Willen zur Macht. Sie zündete furchtbar im großen Kriege. Mit seinem Ende wird auch die Spannung jenes Gedankens ihr Ende haben. Jeder Gedanke hat nur seine bestimmte Weite und Spannkraft; aber wie jede Kraft verwandelt er sich nach dem Gesetz der Energien in eine neue. Aus dem Willen zur Macht wird der Wille zur Form entspringen.“Footnote 183
Dazu sollte es bei Marc nicht mehr kommen, denn er gehört zu den vielen, die nicht aus den Schützengräben zurückkehrten.
Im Ausland galt Nietzsche als geistiger Brandstifter, der Mitschuld am Ersten Weltkrieg trug. In einem Londoner Verlag wird vom „Euro-Nietzschean-War“Footnote 184 gesprochen. „Übermensch“ und „Blonde Bestie“ verschmelzen zu einem antimoralischen, kriegstreibenden Typus, größenwahnsinnigen Machtfantasien hingegeben. Steven Aschheim beschreibt, wie das Bild Nietzsches im Aus- und Inland zunehmend politisch instrumentalisiert wurde.Footnote 185 Dem Werdegang dieser Rezeptionsrichtung soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Interessant für unsere Betrachtung erscheint vielmehr die Tatsache, dass nun die Aufforderung Nietzsches, „gefährlich zu leben“, eine direkte Antwort enthält. Aschheim schreibt:
„Vielen Ästheten, Dichtern und Intellektuellen der Avantgarde erschien ein aus dem Geist der Lebensphilosophie geborener Krieg, ohne alles ideologische Drum und Dran, als die angemessene Antwort auf die großen Probleme der Zeit, wie sie Nietzsche diagnostiziert hatte. Würde nicht der Krieg Nietzsches Diktum verwirklichen, man solle ‚gefährlich leben‘? Würde er nicht die Suche nach gesteigertem und authentischen Erleben erleichtern und die allerorten vorherrschende Dekadenz überwinden?“Footnote 186
Die Gefährlichkeit Nietzsches erhielt mit dem Ersten Weltkrieg eine neue Dimension. War Nietzsche zuvor der Denker, der einige, ungefestigte Charaktere durch Auslösen einer existenziellen Krise gefährden konnte, oder ein Denker, der zweifelhafte Argumente zur Unterhöhlung von Recht, Ordnung, Zivilisation und Abendland lieferte, schien jetzt seine von ihm ausstrahlende Gefährlichkeit Massen zu bewegen.
Dass das Credo des gefährlichen Lebens durchaus nicht nur persönlich gemeint war, sondern als kulturelle Erneuerungsbewegung, in der sich ein ganzes Volk (kriegerisch) zu erheben habe dafür lassen sich in Nietzsches Philosophie ebenfalls zahlreiche Belege finden (vgl. z. B. MA I, 477 KSA 2, 311–312 / FW 377, KSA 3, 628–631 / FW 283, KSA 3, 526–527 / JGB 208, KSA 5, 137–140). Insofern diente der politische bzw. politisierte Nietzsche gerade mit dem Wahlspruch des Gefährlichen sowohl den Enthusiasten, die wohlmöglich mit ihrer Feldausgabe des Zarathustra in den Ersten Weltkrieg zogen, als auch den Gegnern, wie etwa den Alliierten oder Pazifisten, mit der Dämonisierung Deutschlands oder einer durch Nietzsche gestifteten geistigen Bewegung zur eigenen politischen Positionierung.
Zuletzt sei an dieser Stelle noch der Expressionist Otto Dix erwähnt, der motiviert durch das von Elisabeth Förster-Nietzsche zusammengestellten Kompendium der Wille zur Macht als inspirierter Soldat in den Krieg zog. Seine späteren Bilder, welche die Grausamkeiten des Krieges und die Verstümmelten und Verarmten der Nachkriegszeit zeigen, schienen eine Kehrtwende in der Beurteilung des Krieges und seiner Folgen zu beweisen. Insofern galt Otto Dix, insbesondere in der DDR, als der „unerbittliche Gesellschaftskritiker, der Antikriegskünstler par excellence, [als] der Propagandist des Klassenkampfes“.Footnote 187 Daher wollte der Verleger 1958 auf gar keinen Fall eine Abbildung der Nietzsche-Büste (1912) von Dix in die von Otto Conzelmann verfasste Monografie aufnehmen, wie dieser es ursprünglich geplant hatte. In einer Stellungnahme schrieb ihm sein Verleger: „Grundsätzlich lehnen wir die Gedankenwelt Nietzsches ab und möchten auf keinen Fall das Schaffen von Dix auch nur in Teilen gedeutet durch das Werk dieses Philosophen sehen.“Footnote 188
Die Darstellung des Hässlichen, dem Otto Dix seine Kunst verschrieben hatte, ist allerdings nicht als bloße (Kriegs-)Kritik zu lesen. Seine Verbindung zu Nietzsche und die gefühlte Geistesverwandtschaft, die in seinen Werken durchaus zum Vorschein kommen, blieben bestehen. Für Otto Dix war Nietzsches Philosophie eine, „die mit allen Fasern am Leben hängt, das Leben liebt und immer neue Gründe und Abgründe erfindet, das Leben zu verherrlichen.“Footnote 189 Das, was Dix in seinen Bildern darzustellen suchte, waren Schmied zufolge die Menschen als „Triebwesen [. A]ber sie sind darum weder böse noch verächtlich. Der Trieb ist eine Realität jenseits von Gut und Böse, jenseits aller Gebote der Moral […]. Hinter der Fassade der Kultur zeigt uns Otto Dix, der lustvolle Entlarver, das Tierische und Vitale der menschlichen Natur, wie umgekehrt hinter dem Tierisch-Vitalen, […] wieder die Fassade einer fragwürdigen Kultur […]“Footnote 190 erscheint.
In der ersten Reaktionswelle zu Nietzsches Philosophie von den Anfängen der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum Ausgang des Ersten Weltkrieges im 20. Jahrhundert, teils auch darüber hinaus bis zum Beginn des Nationalsozialismus, konnte man sich für oder gegen Nietzsches Philosophie stellen bzw. einsetzen, jenseits aller politischen und weltanschaulichen Zugehörigkeit. Das einzige gemeinsame Kriterium dafür, ob man sich Nietzsche einverleiben konnte, schien das der Gefährlichkeit zu sein.Footnote 191 Wer bewahren wollte und religiös, konservativ oder humanistisch eingestellt war, musste vor Nietzsche warnen, wer sich als Revolutionär begriff, für den besaß Nietzsches Philosophie offensichtlich eine gewaltige Anziehungskraft. Dabei schien das „wofür“ und „wozu“ der Gefahr in den Hintergrund zu rücken. Was bedeutete es konkret, „ein schwerer Tropfen zu sein, in der dunklen Wolke, die den Blitzstrahl birgt, der den Übermenschen auf die Erde schleudert“Footnote 192? Was musste man tun, um dem Anspruch zu genügen, gefährlich zu leben? In den Krieg ziehen, um den Nihilismus zu überwinden? Schmerz, Gewalt, Tod erleben, um das Eindringen des echten Lebens in die übersättigte, leergewordene Geistesluft zu spüren?
Dies führt zu grundsätzlichen Fragen: Lässt sich denn das Gefährliche in Nietzsches Philosophie tatsächlich beliebig füllen? Geht es um die Gefahr um der Gefahr willen, höchstens noch als Charakterfrage, als Beweis des „[h]ier stehe ich, ich kann nicht anders“Footnote 193? Vom Beginn der Nietzscherezeption an – und dies mag nicht verwundern – steht Nietzsches Philosophie als Gefährliche da und dies entspricht auch Nietzsches Selbstverständnis. Dennoch bleibt dieses Gefährliche unbestimmt, wird von Anfang an vorausgesetzt und nur randständig untersucht, wobei hier die heroisch stilisierenden Momente – Nietzsche beispielsweise als einsamer Ritter in dunkler Nacht – sowie die abwertenden – etwa Nietzsche als psychopathologische Erscheinung – im Vordergrund stehen.
Notes
- 1.
Conrad, Michael Georg: Jugend! in: Die Gesellschaft 11, 1895, S. 1. Und noch ein Vierteljahrhundert nachdem die breite Nietzscherezeption eingesetzt hat, schreibt Franz Marc während des ersten Weltkrieges in seinen 100 Aphorismen, die nicht nur mit einem Zitat von Nietzsche überschrieben sind, sondern auch in ihrem Schreibduktus an Nietzsches Stil erinnern: „Er [Nietzsche] brach die Brücken einer wohligen Zeit hinter uns und warf uns an den kalten, harten Strand einer neuen Zeit. Viele haben ihm darob geflucht. Wir Jüngeren aber, wir Krieger, danken ihm alles, unsre Aufgabe, unsre Begeisterung, unsre Freiheit zum Handeln. Der Krieg, diese ‚erhabene Feier des Philosophen‘, hat uns für immer den Boden unser Väter unter den Füßen weggerissen. Wir taumeln auf dem Nichts. Nun müssen wir schaffen, die Welt füllen, um leben zu können“ (Marc, Franz: 100 Aphorismen. Das zweite Gesicht, zit. in: Strachwitz, Sigrid v.: Franz Marc und Friedrich Nietzsche. Zur Nietzsche-Rezeption in der bildenden Kunst, Dissertation Bonn 1997, S. 9).
- 2.
Auf fast hundert Seiten widmet sich Max Nordau im zweiten Band seines Werkes Entartung der Aufgabe, in Nietzsches Werk, „eine Reihe beständig wiederkehrender Wahnvorstellungen, die in Sinnestäuschungen und krankhaften organischen Vorgängen ihren Grund haben“, nachzuweisen (Nordau, Max: Entartung, 2. Bd., 2. Auflage, Berlin 1893, S. 304).
- 3.
Seydl, Ernst: Also sprach Zarathustra. Eine Nietzsche-Studie, in: Raich, Johann Michael (Hg.): Frankfurter Zeitgemäße Broschüren, Bd. XXI, Hamm 1902, S. 274.
- 4.
Brandes, Georg: Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus, Berlin 2004.
- 5.
Stein, Ludwig: Friedrich Nietzsche's Weltanschauung und ihre Gefahren. Ein Essay, Berlin 1893.
- 6.
Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche, der Künstler und Denker. Ein Essay, Stuttgart 1897.
- 7.
Falckenberg, Richard: Geschichte der Neueren Philosophie. Von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart, 1. Auflage, Berlin und Leipzig 1886.
- 8.
Vgl. ebd., S. 422 f.
- 9.
Falckenberg, Richard: Geschichte der Neueren Philosophie. Von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart, 3. Auflage, Berlin und Leipzig 1898, S. 452.
- 10.
Ebd., S. 452.
- 11.
Ebd., S. 453.
- 12.
Vgl. ebd., S. 451 f. und Falckenberg, Richard: Geschichte der Neueren Philosophie. Von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart, 9. Auflage, Berlin und Leipzig 1927, S. 496–498. Die ästhetische Jugendperiode geprägt von den Idolen Schopenhauer und Wagner, die aufklärerisch intellektualistische Zwischenphase und die „antichristliche Periode des Kraftnaturalismus, der Herrenmoral [und der] Züchtung des Übermenschen“ (vgl. Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche, der Künstler und Denker, S. 43–68).
- 13.
Falckenbergs Nietzsche-Artikel wird von E. v. Aster bearbeitet.
- 14.
Falckenberg, Richard: Geschichte der Neueren Philosophie, 9. Auflage, Berlin / Leipzig 1927, S. 501.
- 15.
Vgl. ebd., S. 499–505.
- 16.
Brandes, Georg: Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus. Nietzsche selbst äußerte sich in einem Brief an Brandes zu dieser Titulierung mit der Bemerkung, dass dies, „mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort [ist], das ich bisher über mich gelesen habe“ (N. an Georg Brandes, 02.12.1887, KSB 8, Nr. 960, S. 205). An Franz Overbeck schrieb Nietzsche: „Insgleichen hat ein geistreicher und streitbarer Däne, Dr. G. Brandes, mehrere Ergebenheits-Briefe an mich geschrieben: erstaunt, wie er sich ausdrückt, von dem ursprünglichen und neuen Geiste, der ihm aus meinen Schriften entgegenwehe und dessen Tendenz er als ‚aristokratischen Radikalismus‘ bezeichnet“ (N. an Franz Overbeck, 03.02.1888, KSB 8, Nr. 984, S. 243).
- 17.
Brandes, Georg: Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus, S. 29.
- 18.
Den Zarathustra, den Brandes entgegen des hohen Eigenlobs Nietzsches nicht als dessen höchste Schrift einschätzt, bezeichnet Brandes als „Erbauungsbuch für freie Geister“ (ebd., S. 87).
- 19.
Ebd., S. 60.
- 20.
Vgl. ebd., S. 67 f. und S. 98–101.
- 21.
Vgl. ebd., S. 99. Das mag überraschen, ist aber wohl in dem Brief begründet, den Nietzsche Brandes am 10.04.1888 schrieb und dort wahrheitswidrig damit prahlt, Offizier gewesen zu sein: „ich hatte nöthig, mein deutsches Heimatsrecht aufzugeben, da ich als Offizier (‚reitender Artillerist‘) zu oft einberufen und in meinen akademischen Funktionen gestört worden wäre. Ich verstehe mich, nichtsdestoweniger, auf zwei Waffen: Säbel und Kanonen – und, vielleicht, noch auf eine dritte…“ (N. an Georg Brandes, 10.04.1888, KSB 8, Nr. 1014, S. 289).
- 22.
Brandes, Georg: Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus, S. 100.
- 23.
Ebd., S. 102.
- 24.
So verwehrt er sich gegen Peter Gasts Konsequenzen einer Umsetzung der nietzscheschen Ideale, wie dieser sie formuliert („‚Die herrlichste, straffste, männlichste Einrichtung unserer plebejisch und merkantilisch effeminierten Zeit ist das Militär. Da gilt der Mann vor allem nach seinem biologischen Werte‘“) lakonisch mit den Worten: „Nietzsche hat, glaub ich‘, seine Lobpreisung des männlichen Genius geistiger verstanden haben wollen“ (ebd., S. 111).
- 25.
Um ihn gegen den letzten Vorwurf zu verteidigen, stellt Brandes einige Briefe Nietzsches an ihn ans Ende seines Essays, mit denen er belegen möchte, dass sich die „krankhafte Exaltation“ (ebd., S. 17) erst in den allerletzten Briefen äußere, während die vorherigen, noch im selben Jahr geschriebenen, nichts von der hereinbrechenden Katastrophe hätten ahnen lassen (vgl. ebd., S. 127). Auf das Nietzschebuch von Lou Andreas Salomé geht er im positiv zustimmenden Sinne ein, indem er die Ergebnisse ihrer Forschung kurz zusammenfasst (vgl. ebd., S. 103–108).
- 26.
Ebd., S. 103.
- 27.
Ebd., S. 109.
- 28.
Ebd., S. 109.
- 29.
Vgl. ebd., S. 109.
- 30.
Vgl. ebd.
- 31.
Vgl. ebd.
- 32.
Um ein kritisches Verhältnis zum Philosophen einnehmen zu können, so müsste man allerdings gegen Brandes gegebenenfalls einwenden, sollte man die intendierten Konsequenzen denkerisch aus der Philosophie ableiten, ohne dass daraus zwangsläufig ein Leseverbot hervorgehen sollte. Ansonsten nimmt man eine Philosophie, die durchaus Auswirkungen auf das Leben haben will, von vornherein nicht beim Wort. Solch eine Deutung geht daher an den Ansprüchen derselben vorbei. Diese Einseitigkeit, die entweder darin besteht, ein Leseverbot aufgrund von Gefährlichkeit verhängen zu wollen, oder darin, die Forderungen, die aufgrund der Philosophie sich immanent ergeben, zu ignorieren, scheint sich häufiger in der Nietzscherezeption zu wiederholen (vgl. Kapitel 7).
- 33.
Stein, Ludwig: Friedrich Nietzsche's Weltanschauung und ihre Gefahren. Ein Essay, Berlin 1893.
- 34.
Ebd., S. IV.
- 35.
Ebd., S. IV.
- 36.
Ebd., S. 2.
- 37.
Ebd., S. 3.
- 38.
Ausgehend von griechischen Philosophen wie Antisthenes und Epiktet erstrecke sich die Tradition über Agrippa von Nettesheim bis hin zu Rousseau, insofern die herrschenden Moralvorstellungen mithilfe einer bestimmten Naturvorstellung kritisiert würden, wobei die Natur unterschiedlich gefasst werde, z. B. als Bedürfnislosigkeit (bei den Stoikern und Zynikern, als Gleichheit der Menschen bei Rousseau) (vgl. ebd., S. 2–6).
- 39.
Ebd., S. 5.
- 40.
Ebd., S. 6.
- 41.
Alle ebd., S. 13.
- 42.
Ebd., S. 66.
- 43.
Ebd., S. 71.
- 44.
Ebd., S. 7.
- 45.
Ebd., S. 7.
- 46.
Ebd., S. 19.
- 47.
Ebd., S. 19.
- 48.
Ebd., S. 31.
- 49.
Ebd., S. 31.
- 50.
Ebd., S. 33 f.
- 51.
Ebd., S. 45.
- 52.
Vgl. ebd., S. 48.
- 53.
Vgl. ebd., S. 54.
- 54.
Vgl. ebd., S. 64.
- 55.
Vgl. ebd., S. 65.
- 56.
Ebd., S. 77.
- 57.
Vgl. ebd., S. 79.
- 58.
Ebd., S. 9.
- 59.
Ebd.
- 60.
Ebd.
- 61.
Ebd.
- 62.
Ebd.
- 63.
Ebd., S. 14.
- 64.
Ebd., S. 15.
- 65.
Ebd., S. 16.
- 66.
Ebd., S. 15.
- 67.
Ebd., S. 29.
- 68.
Ebd.
- 69.
Ebd., S. 29.
- 70.
Ebd., S. 44. Stein kehrt damit Nietzsches Bewertung und gelegentliches Kokettieren in EH mit seiner (angeblichen) polnischen Abkunft um. Allerdings erscheint EH erst 1908 und selbst Förster-Nietzsches Nietzsche-Biografie, aus der sich etwaige Informationen hätten beziehen lassen können, ebenfalls erst 1895, also 2 Jahre nach Steins Kritik. Vgl. EH, Warum ich so weise bin 3, KSA 6, 301: „Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.“
- 71.
Stein, Ludwig: Friedrich Nietzsche's Weltanschauung und ihre Gefahren, S. 44.
- 72.
Ebd.
- 73.
Ebd.
- 74.
Ebd.
- 75.
Vgl. ebd., S. 44 f.
- 76.
Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche, der Künstler und Denker. Ein Essay, Stuttgart 1897, S. 16.
- 77.
Ebd., S. 17.
- 78.
Ebd., S. 14.
- 79.
Ebd.
- 80.
Ebd., S. 29.
- 81.
Vgl. ebd., S. 100.
- 82.
Ebd., S. 118.
- 83.
Ebd.
- 84.
Ebd., S. 91.
- 85.
Ebd.
- 86.
Ebd., S. 43.
- 87.
Ebd., S. 25.
- 88.
Vgl. ebd., S. 25.
- 89.
Ebd., S. 22.
- 90.
Ebd.
- 91.
Ebd., S. 116.
- 92.
Ebd., S. 126.
- 93.
„Cesare Borgia als Papst… Versteht man mich?… Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange —: damit war das Christenthum abgeschafft!“ (AC 61, KSA 6, 251).
- 94.
Vgl. Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche, der Künstler und Denker, S. 127.
- 95.
Vgl. ebd., S. 126 f.
- 96.
Ebd., S. 132.
- 97.
So zum Beispiel Thomas Mann, der sich in seinen Tagebüchern, seinen Schriften und in seinen Reden immer wieder aufs Neue zu Nietzsches Philosophie positionierte und der in seinen literarischen Figuren wiederholt Reminiszenzen nietzscheanischer Typen erschuf, sei es in der Figur des grotesken Mynheer Peeperkorn oder des unberührbar sehnsüchtigen Protagonisten Adrian Leverkühn.
- 98.
Vgl. Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus (1907), in: Ottheim Rammstedt (Hg.): Gesamthausgabe, Bd. 10, Frankfurt am Main 1995, S. 393.
- 99.
Ebd., S. 355.
- 100.
Ebd., S. 379.
- 101.
Ebd., S. 379.
- 102.
Vgl. ebd., S. 379.
- 103.
Vgl. ebd., S. 376.
- 104.
Vgl. ebd., S. 407 f.
- 105.
Seydl, Ernst: Also sprach Zarathustra. Eine Nietzsche-Studie, S. 272.
- 106.
Rickert Heinrich: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920, S. 20.
- 107.
Vgl. ebd., S. 21 f.
- 108.
Vgl. ebd., S. 97.
- 109.
Vgl. ebd., S. 139.
- 110.
Vgl. ebd., S. 141.
- 111.
Kraus, Karl: Auseinandersetzung mit Würdigungen Nietzsches in der ‚Neuen Freien Presse‘', in: Die Fackel. 2, 1900, Nr. 51, Nachdruck, Heinrich Fischer (Hg.), München 1986, S. 19.
- 112.
Merlin, Max: Also sprach Confusius. Von einem Unmenschen. Ohne Bildniss und Autogramm des Verfassers, Wien 1893. Ausführlich zu frühen Nietzsche-Parodien vgl. Benne, Christian: Also sprach Confusius: Ein vergessenes Kapitel aus Nietzsches Wiener Frührezeption, in ‚Orbis Litterarum‘, LVII (2002), Nr. 5, S. 370–402.
- 113.
Grottewitz, Curt: Also sprach Clara Thustra! Ein Sang, Übersang, Mittel-, Ober- und Untersang von Friedrich Knietzsche, in: ‚Der Zuschauer‘, I (1893), 9./15. Oktober, S. 270–272.
- 114.
Brand, Franz: Unter den Geistern der sieben Embryonen Zarathustra, in: Gedichte und Sprüche Friedrich Nietzsches aus dem Jahre 1868, veröffentlicht in: Preussische Jahrbücher, XCII (1898), Nr. 3, S. 385–396.
- 115.
Trara, Praktisch Anleitung, ein Übermensch zu werden, in ‚Jugend. Münchener illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben‘, I (1902), Nr. 13. S. 208.
- 116.
Mittmann, Thomas: Der ‚Irrenzhäusler‘ als ‚jüdisches Modestück‘. Nietzscheanismus und Nietzsche-Kult im Deutschland der Jahrhundertwende in der antisemitischen Kritik, in: Barbera, Sandro / D'iorio, Paolo / Ulbricht, Justus H. (Hg.): Friedrich Nietzsche. Rezeption und Kultus, Pisa 2004, S. 77–103.
- 117.
Beispielhaft bezüglich Wagner in NW: „Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder Romantiker, sank plötzlich, hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder…“ (MA II, Vorrede 3, KSA 2, 372) oder bezüglich Dühring: „[I]ch erinnere Leser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht: Dühring, das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten“ (GM III, 14, KSA 5, 370). Die Abwertung Nietzsches dient der Aufwertung des Verehrten und fungiert so als (psychologischer) Befreiungsschlag.
- 118.
Benn, Gottfried: Doppelleben, in: Wellershoff, Dieter (Hg.): Autobiographische und Vermischte Schriften. Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 4, Wiesbaden 1977, S. 154.
- 119.
Louis, Rudolf: Maurice Kufferath: Musiciens et Philosophes (Tolstoi, Schopenhauer, Nietzsche, Richard Wagner.), in: Bayreuther Blätter, XXIII (1900), Nr. 3 – 5, S. 143.
- 120.
Vgl. Dühring, Eugen: Die Judenfrage als Frage des Racencharakters und seiner Schädlichkeiten für Völkerexistenz, Sitte und Cultur. Mit einer denkerisch freiheitlichen und praktisch abschliessenden Antwort, 5. Auflage, Nowawes-Neuendorf bei Berlin 1901, S. 69 f.
- 121.
„[I]ch mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen“ (GM III, 26, KSA 5, 407).
- 122.
Mittmann, Thomas: Der ‚Irrenzhäusler‘ als ‚jüdisches Modestück‘. Nietzscheanismus und Nietzsche-Kult im Deutschland der Jahrhundertwende in der antisemitischen Kritik, S. 89.
- 123.
Vgl. ebd., S. 95.
- 124.
Anonym: Was fehlt zur deutschen Kultur?, in: ‚Hammer‘, IV (1905), Nr. 62, S. 26. Vgl. auch Mittmann, Thomas: Der ‚Irrenzhäusler‘ als ‚jüdisches Modestück‘. Nietzscheanismus und Nietzsche-Kult im Deutschland der Jahrhundertwende in der antisemitischen Kritik, S. 98.
- 125.
Vgl. ebd., S. 101.
- 126.
So gelten sie als Vertreter der sogenannten Konservativen Revolution, zu der auch Martin Heidegger, Carl Schmitt, Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck gehörten und die wesentlich von Nietzsche inspiriert war. Der Begriff der Konservativen Revolution ist bis heute umstritten. Er wurde allerdings von Thomas Mann selbst geprägt: „Konservatismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch liberalistische Aufklärung, und Nietzsche selbst war von Anbeginn, schon in den ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘, nichts anderes als Konservative Revolution“ (Mann, Thomas: ‚Russische Anthologie‘, in: Essays II. 1914–1926, Detering, Heinrich (Hg.): Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15/1, Zürich 2002, S. 341). Armin Mohler übernimmt den Begriff in seine Dissertation: Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950. Vgl. zum Einfluss Nietzsches auf die Konservative Revolution auch: Kaufmann, Sebastian / Sommer, Andreas Urs: Nietzsche und die Konservative Revolution, Berlin / Boston 2018.
- 127.
So wird Nietzsche von Bruno Wille und von Gustav Landauer begeistert aufgenommen, während sich die Schriftstellerin und Feministin Hedwig Dohm mit Nietzsches Misogynie auseinandersetzt, gerade im Angesicht dessen, dass er, obwohl er „so geistlos über die Frauen redet“ doch „der geniale, erschütternde Dichter, [und] zugleich […] glühender Denker“ sei (vgl. Dohm, Hedwig: Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung, erstmals erschienen in verschiedenen Periodika, darunter in der von Minna Cauer herausgegebenen Zeitschrift ‚Die Frauenbewegung‘ ab 1897, Berlin 2015, S. 20–34). Vgl. auch Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart / Weimar 1996, S. 251–328.
- 128.
Tönnies, Ferdinand: Der Nietzsche-Kultus: eine Kritik, Saarbrücken 2007, S. 77 f.
- 129.
Tönnies, Ferdinand: Der Nietzsche-Kultus: eine Kritik, S. 66.
- 130.
Tönnies hatte schon früh mit Nietzsches Werk Bekanntschaft gemacht und Gefallen daran gefunden. Seine kritische Haltung entwickelte sich erst in Bezug auf Nietzsches spätere Werke. Mehr noch aber als Nietzsche selbst, der für ihn eine tragische Gestalt blieb, waren ihm seine Anhänger, die sogenannten Immoralisten, zuwider. Während also Nietzsche als „echte Hamletnatur […] an seiner Aufgabe zu Grunde“ (Tönnies, Ferdinand: Nietzsche – Narren, in: Tönnies, Ferdinand: Der Nietzsche-Kultus: eine Kritik, Saarbrücken 2007, S. 95) ging, waren es die „Gassenbuben, die hinter dem trunkenen Manne ihre Faxen machen“, die Tönnies mit folgenden Worten beschreibt: „freche, sehr freche Geister ohne Zweifel, [die] nicht[s] Ordentliches gelernt habend, zusammenhängenden Denkens unfähig, aber aller Worte und Phrasen mächtig; in den Kaffees der Großstädte lungern sie Tage und Nächte, führen verwegene Reden, umnebeln ihre Gehirne und duften nach Zigaretten. Für diese Sorte wurde die Proklamation der Freiheit des Genies, auf eigene Faust zu leben, eine Botschaft ihres Heils, ein geistreicher Alkohol für ihre Gewissen. Sie sind (so wähnen sie) der Welt nichts schuldig, die Welt ist ihnen alles schuldig. Sie sind die Gassenbuben, die hinter dem trunkenen Manne ihre Faxen machen“ (ebd., S. 104).
- 131.
Ebd.
- 132.
Die Syphilis als Krankheit hat natürlich auch noch die Anmutung moralischer Verworfenheit. Diese Verbindung wird besonders von Möbius herausgestellt, der zudem den pathologischen Charakter Nietzsches und seiner Schriften nicht nur in Verbindung zur fortschreitenden Paralyse aufgrund einer Syphilis betont, sondern ihn auch in Beziehung zu Nietzsches vermeintlich grundsätzlicher abnormaler Persönlichkeit setzt (Möbius, Paul Julius: Nietzsche. Krankheit und Philosophie. Nachdruck, Schutterwald/Baden 2000, S. 61–67). Möbius warnt Leser vor einem leichtfertigen Umgang mit Nietzsches Schriften, denn diese könnten sich – trotz einiger Brillanz hier und da – durchaus als gefährlich für die eigene geistige Gesundheit erweisen. Der Aphorismus als Form, das Bruchstückhafte seines Denkens und die unauflösbaren Widersprüche (ebd., S. 61) erweisen sich als Zeichen einer immer weiter fortschreitenden „Unzurechnungsfähigkeit“ (ebd., S. 178–180). Insofern sollte der vorsichtige Leser stets bedenken, dass in Nietzsches Schriften ein „Gehirnkranker“ (ebd.) spreche. Vgl. auch Lange-Eichbaum, Wilhelm und Kurth, Wolfram: Genie, Irrsinn und Ruhm. Genie-Mythos und Pathographie des Genies. München 1967. Eine prägnante historische Skizze auch unter Einbeziehung verteidigender, wenn auch nicht unproblematischer, Gegenstimmen von Kurt Hildebrandt, Karl Jaspers und Sigmund Freud findet sich bei Bormuth, Mathias: Nietzsche im Lichte der psychiatrischen Pathographie. Eine historische Skizze, in: Wahl, Volker (Hg.): Weimar–Jena: Die große Stadt 4/1, Jena 2011, S. 18–30.
- 133.
Strindberg, August: Brev, in: Eklund, Torsten / Meidal, Björn (Hg.): August Strindberg Brev, I-XV, Bd. VII, Bonnier / Stockholm 1948–2001, S. 192.
- 134.
Anlässlich der Bestattung Nietzsches im Erbbegräbnis in Röcken am 28. August 1900 sprach Gast diese verherrlichenden Trauerworte. Zitiert nach: Emmrich, Angelika: ‚[…] und nun ruht die Obhut über sein Andenken in Frauenhand‘. Die musealen Inszenierungen der Elisabeth Förster-Nietzsche, in: Barbera, Sandro / D'iorio, Paolo / Ulbricht, Justus H. (Hg.): Friedrich Nietzsche. Rezeption und Kultus, Pisa 2004, S. 207.
- 135.
„Nach Plato sollen die Philosophen Führer der Völker sein. Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: besser ein Zero als ein Nero. Leider zeigt die Geschichte, daß hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht“ (Zeitungsartikel im Prager Tagblatt vom 25.04.1925, erneut erschienen in: Lessing, Theodor: Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalsozialismus und zur Judenfrage, in: Wollenberg, Jörg (Hg.): Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Bremen 1997, S. 87 ff.).
- 136.
Bertram, zit. in: Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2005, S. 44.
- 137.
Vgl. Bertram: „Dieser ungeheure Eindruck Nietzsches, an sich ein Einzigartiges in der neueren Geistesgeschichte, scheint, von jeder unbedingten Wertung abgesehen, deshalb so stark zu sein, weil dieser Mann mit seltner Reinheit das Seelengeschick seines Jahrhundertaugenblicks verkörperte und verdeutlichte, weil er die Unheilbarkeit seines Jahrhunderts zugleich war und sah, zugleich bekämpfte und erlitt. Wie sein Jahrhundert, war Nietzsche im Zeichen der Wage geboren, jener Wage eines gefährlichen Vielleicht, das den Zauber und das Verhängnis seines zwischen zwei Welten schwebenden geistigen Jahrhunderts ausmacht“ (Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1929, erste Auflage 1918, S. 16). Ebenso Lessing: „An ihrem Ende (den Wahn dieser ‚Weltgeschichte‘ auf den Gipfel treibend, aber damit auch den Geschichtsprozeß vernichtend) erscheint Friedrich Nietzsche. Zugleich der letzte in der großen Reihe germanisch-protestantischer Anarchisten des Geistes, zugleich der erste, welcher eine Morgenröte entzündete, die weit hinausbricht über die Grenzen kaukasischer Bildungsmenschheit […]. Treten wir ein in ungeheures Schicksal. In das Schicksal der tragischen Seele, die alles, was sie liebt, und zuletzt sich selbst opfern muß. Aus gewohnheitbedingtestem Kreise der Erde, dem deutschen Bürgertum, wuchs der Zertrümmerer alles Gewohnten. Aus züchtigster Gebundheit stieg der Umwerter aller Werte. Aus christlichem Mythos der Antichrist“ (Lessing, Theodor: Nietzsche, erste Auflage 1925, München 1985, S. 9).
- 138.
Ebd., S. 64.
- 139.
Vgl. ebd., S. 94–97.
- 140.
Ebd., S. 73 f. Dies möchte Lessing zwar an anderer Stelle entschärfen, gleichwohl läuft es auf das Gleiche hinaus. Vgl.: „Ich möchte hier nicht behaupten, daß Nietzsche an dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr zugrunde gegangen sei; aber ich möchte behaupten, daß ein Geist wie dieser nicht an ‚übermäßigem Gebrauch von Chloralhydrat‘, sondern von der Seele her erloschen ist“ (Lessing, Theodor: Nietzsche, S. 91).
- 141.
Allerdings war Nietzsche Lessing schon länger bekannt. So hatte Lessing bereits 1906 ein Werk über ihn herausgebracht (vgl. Lessing, Theodor: Schopenhauer, Wagner, Nietzsche: Einführung in moderne Deutsche Philosophie, München 1906).
- 142.
Lessing, Theodor: Nietzsche, S. 109 f.
- 143.
Ebd.
- 144.
Ebd.
- 145.
Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 53–76.
- 146.
Die erste Erwähnung des Kupferstiches findet sich 1870 in einem Brief an Elisabeth und Franziska Nietzsche, in dem Nietzsche seinen Wunsch kundgibt, eine Abbildung Wagner zu Weihnachten zu schenken, was dann auch geschieht. In der GT vergleicht Nietzsche Schopenhauer mit dem Reiter, der todesmutig Wahrheit begehre und daher eine Ausnahmegestalt verkörpere: „Es giebt nicht Seinesgleichen“ (GT 20, KSA 1, 131). Implizit ist Wahrheit also mit Lebenszerstörung verknüpft: Wer Wahrheit suche, müsse alle Hoffnungen, dass diese erträglich sei, fahren lassen. Der Wahrheitssuchende in diesem Sinne ist ein Abenteurer, der heroisch den eigenen Untergang in Kauf nimmt. In Nietzsches späterem Werk, so beispielsweise in der Vorrede zur FW, ist der Wert der Wahrheit hingegen gerade wegen der möglichen Verbindung zur Lebenszerstörung in Zweifel zu ziehen (vgl. FW Vorrede 4, KSA 3, 352). Was ist Wahrheit wert, sofern sie möglicherweise tödlich sei, fragt Nietzsche auch in FW 576, KSA 4, 574–577. Und ist es tatsächlich die Wahrheit, die da begehrt wird und nicht etwa eine Rechtfertigung für die eigene charakterliche Lebenshaltung, die eigentlich ein Scheitern darstellt, weil das Leben abgewertet wird? In GM III, 5 erscheint Schopenhauer zwar noch als Ritter und unabhängiger Denker „mit erzenem Blick“ (GM III, 5, KSA 5, 345), aber längst nicht mehr als einer, der auf der Suche nach einer objektiven Wahrheit ist. Schopenhauer selbst habe seine pessimistische Sicht auf die Welt nötig gehabt, „um guter Dinge zu bleiben“ (GM III, 7, KSA 5, 349), und letztlich habe Schopenhauer aus seiner Philosophie keine praktischen Schlüsse fürs Leben und das heißt gegen das Leben gezogen (GD, Streifzüge 38, KSA 6, 135). Trotz aller Aufwertung des Scheines und lebenstauglicher Illusionen bleibt für Nietzsche der Gradmesser des Wertes einer Persönlichkeit dennoch mit dem Wagnis von Wahrheit verknüpft: „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser“ (EH, Vorwort 3, KSA 6, 259). Der heroische Ritter Dürers ist dennoch für diese Ansicht nicht mehr das richtige Bild. Bereits 1885 schreibt Nietzsche in einem Brief an Overbeck (zwischenzeitlich hat Nietzsche selbst einen Stich von Adolf Vischer geschenkt bekommen), ob dieser den Stich Dürers als Hochzeitsgeschenk seiner Schwester schicken könnte, weil ihm (Overbeck), obwohl auch er eines tapfer-aufmunternden Bildes bedürfe, ihm dieses doch wahrscheinlich zu düster sei (vgl. N. an Franz Overbeck, 07.05.1885, KSB 7, Nr. 599, S. 46). Im Brief an seine Schwester nimmt er diese für Overbeck antizipierte Wertung bereits für sich selbst in Anspruch: „Nun habe ich gleich an Overbeck geschrieben, von wegen des Dürerschen Blattes, das freilich mir viel zu düster vorkommt“ (N. an Elisabeth Nietzsche, 07.05.1885, KSB 7, Nr. 600, S. 47).
- 147.
Vgl. ebd., S. 58.
- 148.
Ebd., S. 62.
- 149.
Vgl. ebd., S. 58 ff.
- 150.
Bertram spielt wohl auf das Wüten der Cholera 1831 in Berlin an. Der naturwissenschaftlich gebildete Schopenhauer floh vor Eintreffen der Seuche aus der Stadt (vgl. Hühn, Lore: Schopenhauer, in: Lutz, Bernd (Hg.): Philosophen. 60 Porträts, Stuttgart / Weimar 2004, S. 234).
- 151.
Vgl. Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 62–65.
- 152.
Vgl. ebd., S. 142, S. 149.
- 153.
Vgl. ebd., S. 83, S. 93.
- 154.
Vgl.: „[E]r zerreißt sie [die Musik], indem er die eine Hälfte ihrer, wie seiner selbst, leugnet, verhöhnt, verdammt, verteufelt – und die andere um so leidenschaftlicher dem schmerzlich ersehnten Gegenideal entgegendichtet und vergöttlicht. […] [D]iese seherische Hoffnung des Südfanatikers verrät sich gerade durch ihre ungeheure, bis zur Passion schmerzliche Eindringlichkeit als nordgeboren“ (ebd., S. 135).
- 155.
Ebd., S. 75.
- 156.
George: „‚Nietzsche /Blöd trabt die Menge drunten schenkt sie nicht! / Was wäre stich der qualle schnitt dem kraut! / Noch eine weile walte fromme stille /Und das getier das ihn mit lob befleckt / Und sich im moderdunste weiter mästet / Der ihn erwürgen half sei erst verendet! / Dann aber stehst du strahlend vor den zeiten / Wie andre führer mit der blutigen krone. // Erlöser du! Selbst der unseligste…. / Erschufst du götter nur, um sie zu stürzen / Nie einer rast und eines baues froh? / Du hast das nächste in dir selbst getötet / Um neu begehrend / dann ihm nachzuzittern / Und aufzuschrein im schmerz der einsamkeit // Der kam zu spät der flehend zu dir sagte: / Dort ist kein weg mehr über eisige felsen / Und horste grauser vögel – nun ist not: / Sich bannen in den kreis den liebe schließt…‘“ (George, Stefan: ‚Nietzsche‘ in: der siebente Ring, Georg (Hg.), 6 Auflage, Bondi, Berlin 1922, S. 12 f.).
- 157.
Schmied, Wieland: Leidenschaft und kühler Blick. Vergleichende Betrachtungen über die Moderne in der Kunst, Köln 2004, S. 140.
- 158.
Schmied, Wieland: Leidenschaft und kühler Blick. Vergleichende Betrachtungen über die Moderne in der Kunst, S. 129. Im Gegensatz zur Gründerzeit zeichnete sich Oehms zufolge seit dem Expressionismus eine Verbreiterung der Rezeptionsbasis der Philosophie Nietzsches ab: „Nicht mehr die ästhetizistisch-romantische Konstruktion des Übermenschen steht im Zentrum des expressionistischen Interesses, sondern der permanente Bewegungsprozeß der Selbst-Steigerung und Selbst-Überwindung einer vitalistisch-dynamisch aufgefaßten Subjektivität, wie er in der Nachlasskompilation des ‚Wille zur Macht‘ zur vollen Ausfaltung gelangt“ (Oehm, Heidemarie: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus, München 1993, S. 22).
- 159.
Heym, Georg: Dichtungen und Schriften, K. L. Schneider (Hg.), Bd. 3, Hamburg 1960, S. 44.
- 160.
Ebd., S. 50. Vgl. auch: „Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbniss wird. Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden. Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte! Also zu sterben ist das Beste; das Zweite aber ist: im Kampfe zu sterben und eine grosse Seele zu verschwenden“ (Za I, Vom freien Tode, KSA 4, 93).
- 161.
Gerade bei diesen Stellen ist Nietzsches Einfluss deutlich. Heym: „6 Juni 07 Das Beste ist, nie geboren werden, und danach, jung sterben. Ich sehne mich mehr nach den Ferien, als ich als Schüler getan habe. […] Die Götter sind zu lange schon tot. Ich allein bin nicht im stande, sie wieder zu erwecken“ (Heym, Georg: Dichtungen und Schriften, S. 89. Oktober 1907). „Bald wird ‘ s Zeit, Nietzsche seinen Schritt nachzutun. Nur hatte er es viel leichter. Ich lebe zu Hause in korpsstudentischen Kreisen und Anschauungen. Da mit einem Mal hinaus, alles hinter sich abzubrechen – Als Feigling verschrieen zu werden, überall verachtet zu werden, es wäre zuviel“ (ebd., S. 98).
- 162.
Allerdings eine Vitalität, die nicht gegen die Gefahren dünnen Eises gefeit war. Heym starb als 23-Jähriger beim Schlittschuhlaufen, als er versuchte, seinen eingebrochenen Freund Ernst Balcke zu retten.
- 163.
Ester, Hans: Nietzsche als Leitstern der Expressionisten, in: Ester, Hans / Evers, Meindert (Hg.): Zur Wirkung Nietzsches, Würzburg 2001, S. 105.
- 164.
Schmied, Wieland: Leidenschaft und kühler Blick. Vergleichende Betrachtungen über die Moderne in der Kunst, S. 130.
- 165.
Vgl. Hofstede, Justus. M: Ernst Ludwig Kirchner, Nietzsche und die ‚Brücke‘ in: Galerie Maier-Preusker: Ernst Ludwig Kirchner: 29. Nov. 1981 – 15. Jan. 1982, Bonn 1981, S. 9. Vorgeschlagen wird der Name von Karl Schmidt-Rottluff. Vgl. auch Schmied, Wieland: Leidenschaft und kühler Blick. Vergleichende Betrachtungen über die Moderne in der Kunst, S. 131.
- 166.
Vgl. Hofstede, Justus. M: Ernst Ludwig Kirchner, Nietzsche und die ‚Brücke‘, S. 9.
- 167.
Ester, Hans: Nietzsche als Leitstern der Expressionisten, S. 108.
- 168.
Ebd.
- 169.
Vgl. Schmied, Wieland: Leidenschaft und kühler Blick. Vergleichende Betrachtungen über die Moderne in der Kunst, S. 144.
- 170.
Svenaeus, Gösta: Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Munchs, zit. in: Bock, Henning / Busch, Günter (Hg.): Edvard Munch. Probleme – Forschungen – Thesen, Passau 1973, S. 28.
- 171.
Einige Abbildungen finden sich in: Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, S. 207–216.
- 172.
Das Gemälde „Badende Männer“ 1907/08 zeigt im Vordergrund zwei nackte Männer vor einer See- oder Meerlandschaft, von denen der eine aufgrund der Gesichtsphysiognomie und des Bartes stark an Nietzsche erinnert. Ein vor Gesundheit und Natürlichkeit strotzender nackter Nietzsche gehört wohl zu den Topoi der bildenden Kunst, die sich heute kaum ohne ein Gefühl von Absurdität betrachten lassen.
- 173.
Wobei Munch selbst Nietzsche auf einer Veranda verortet: „Ich habe ihn [Nietzsche] als Zarathustras Dichter zwischen den Bergen seiner Höhle dargestellt. Er steht auf seiner Veranda und sieht hinab in ein tiefes Tal. Über den Bergen steigt eine strahlende Sonne empor. Man kann sich den Ort, von dem er spricht, vorstellen als einen, an dem er im Licht steht, sich aber ins Dunkel sehnt – jedoch auch nach vielem anderen“ (Rognerud, Hilde M. J.: Nietzsche, zarathustrisch und geflügelt. Edvard Munchs Visionen eines Philosophen der Moderne, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 77, Nr. 1/2014, S. 107).
- 174.
Munch malt den Himmel folglich in den Farben Zarathustras: „Das tiefe Gelb und das heisse Roth: so will es mein Geschmack, — der mischt Blut zu allen Farben“ (Za III, Vom Geist der Schwere 2, KSA 4, 244).
- 175.
Svenaeus, Gösta: Der heilige Weg. Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Munchs, in: Bock, Henning / Busch, Günter (Hg.): Edvard Munch. Probleme – Forschungen – Thesen, Passau 1973, S. 30.
- 176.
Ebd., S. 31.
- 177.
Brief an Maria Franck Januar 11.: zit. in: Strachwitz, Sigrid v.: Franz Marc und Friedrich Nietzsche. Zur Nietzsche-Rezeption in der bildenden Kunst, Dissertation, Bonn 1997, S. 4.
- 178.
Vgl.: „An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde: jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt […]“ (GM III, 27, KSA 5, 410–411).
- 179.
Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, Bern-Bümpliz 1956.
- 180.
Marc, Franz: 100 Aphorismen. Das zweite Gesicht, S. 9 f.
- 181.
Schmied, Wieland: Leidenschaft und kühler Blick. Vergleichende Betrachtungen über die Moderne in der Kunst, S. 139. Die Antwort auf die Frage, ob Meidners Bild einen warnenden Appell vor der drohenden Zerstörung an den Betrachter richtet oder im ästhetischen Rausch lediglich die Zerstörung abbildet, wird an den jeweiligen Betrachter zurückgegeben, auch wenn nachträglich dieses Bild – auch von Meidner selbst – als Vorahnung des Krieges gedeutet wird. Zu Ludwig Meidners Beeinflussung durch Nietzsche siehe auch Ester, Hans: Nietzsche als Leitstern der Expressionisten, S. 100–101.
- 182.
Ebd., S. 10.
- 183.
Marc, Franz: 100 Aphorismen. Das zweite Gesicht, S. 8.
- 184.
Joll, James: The English, Friedrich Nietzsche and the First World War, in: Geiss, Immanuel / Wendt, Bernd Jürgen (Hg.): Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20 Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 305.
- 185.
Vgl. Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, S. 130–167.
- 186.
Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, S. 135. Die Kritik Nietzsches an der Kriegsbegeisterung, wie er sie beispielhaft in FW formuliert, wurde von der damaligen Avantgarde freilich übersehen: „Sobald jetzt irgend ein Krieg ausbricht, so bricht damit immer auch gerade in den Edelsten eines Volkes eine freilich geheim gehaltene Lust aus: sie werfen sich mit Entzücken der neuen Gefahr des Todes entgegen, weil sie in der Aufopferung für das Vaterland endlich jene lange gesuchte Erlaubniss zu haben glauben – die Erlaubniss, ihrem Ziele auszuweichen: — der Krieg ist für sie ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen. Und, um hier Einiges zu verschweigen: so will ich doch meine Moral nicht verschweigen, welche zu mir sagt: Lebe im Verborgenen, damit du dir leben kannst!“ FW 338, KSA 3, 568.
- 187.
Schmied, Wieland: Friedrich Nietzsche und die Bildende Kunst, in: Friedrich, Heinz (Hg.): Friedrich Nietzsche. Philosophie als Kunst. Eine Hommage, München 1999, S. 192.
- 188.
Zit in: Schmied, Wieland: Friedrich Nietzsche und die Bildende Kunst, S. 192 f.
- 189.
Ebd., S. 194.
- 190.
Ebd., S. 194–200.
- 191.
Mit Ausnahme vielleicht derjenigen Kreise, die Nietzsche auf eine Weise kritisiert hatten, die jede Umdeutung unmöglich machte. So mochte man Nietzsche mit einigem Aufwand als echten Deutschen darstellen können, als jemanden, dem Wagner sein Alpha und Omega gewesen sei oder der als protestantische Natur gerade in seiner Kritik die protestantische Aufrichtigkeit geschätzt habe, aber nur schwerlich konnte man ihn zum Bewunderer Dührings umgestalten.
- 192.
Heym, Georg: Dichtungen und Schriften, Bd. 3, S. 44.
- 193.
Die stilisierten Worte Luthers: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen.“ Aus der Druckfassung von der Reichstagsrede zu Worms 1521 wurden so von Luther nie ausgesprochen. Weit unheroischer lauteten sie bei seiner (zweiten) Verteidigungsrede: „Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen“ (vgl. Schade, Hartmut: Luthers berühmteste Worte „Hier stehe ich …“, 30. Juni 2017, https://www.mdr.de/reformation500/martin-luther-hier-stehe-ich-refjahr-100.html, zuletzt überprüft am: 16.02.2021).
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Schulte, N. (2023). Befreiung und Infektion. Die frühe Nietzscherezeption (1890–1930). In: Gefährlich Leben - Gefährlich Denken. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67331-7_2
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