Die Symmetrie ist diejenige Idee, mit deren Hilfe der Mensch im Laufe der Jahrhunderte versuchte, Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit zu begreifen und zu schaffen.

Hermann Weyl

Symmetrien und ihre Brechung sind fundamentale und weit über das Gebiet der Physik hinausweisende Konzepte. Dies wird klar, wenn man den Symmetriebegriff möglichst allgemein fasst. Z. B. schließt die Formulierung

FormalPara Symmetrien

Es liegt immer dann eine Symmetrie vor, wenn man eine durchgeführte Transformation nachträglich nicht mehr feststellen kann.

Anwendungen ein, die weit über unsere Fachrichtung hinausgehen. Grundlage für die Ausnutzung von Symmetrien ist deren mathematische Formulierung. Diese wird von der Gruppentheorie geleistet, weil Symmetrieoperationen immer Elemente einer Gruppe sind.

1.1 Symmetrien und Gruppen

Symmetrien  spielen eine herausragende Rolle beim Auffinden von Erhaltungsgrößen und Auswahlregeln in vielen Teilgebieten der Physik. So lernt man in der klassischen Mechanik, dass die Symmetrien der Raumzeit eine Gruppe, die Galilei-Gruppe, bilden. Die Invarianz eines physikalischen Systems gegenüber Galilei-Transformationen bedingt Erhaltungssätze:

  • Verschiebungen in der Zeit \(\longrightarrow \) Energieerhaltung,

  • Verschiebungen im Ortsraum \(\longrightarrow \) Impulserhaltung,

  • Drehungen im Ortsraum \(\longrightarrow \) Drehimpulserhaltung.

Diese tiefgründige Beziehung zwischen Symmetrien und der Existenz von Erhaltungsgrößen gilt auch in der Quantentheorie. In der Tat finden sich die wichtigsten physikalischen Anwendungen der Gruppentheorie in der Quantenmechanik. Man denke nur an das Wasserstoffatom: Dessen geometrische Symmetrien, die Raumdrehungen, führen auf die Klassifikation der Eigenzustände nach den Eigenwerten des Drehimpulses. Insbesondere hat der Grundzustand dieselbe Drehsymmetrie wie der Hamilton-Operator H.

Es gibt allerdings wichtige Ausnahmen zur Regel, dass der Grundzustand unter den Symmetrien von H invariant ist. Ein Beispiel ist der Ferromagnet. Im Gegensatz zu H ändert sich der Grundzustand, in dem alle Spins ausgerichtet sind, bei einer gleichzeitigen Umkehr aller Spins. Wir werden auf dieses Phänomen der spontanen Symmetriebrechung zurückkommen. 

Was versteht man unter den Symmetrien eines Moleküls? Dies sind Transformationen zwischen verschiedenen Anordnungen der Atome im Molekül, die physikalisch nicht unterscheidbar sind. Beispielsweise eine Permutation der Koordinaten von identischen Atomen, eine Inversion der Teilchenkoordinaten am Massenschwerpunkt oder eine Drehung des Moleküls um eine raumfeste Achse, die durch den Massenschwerpunkt geht. Symmetrien können viele Eigenschaften von Molekülen wie ihr Dipolmoment und ihre spektroskopischen Übergänge erklären.

Symmetrieüberlegungen sind nicht nur in Atom- und Molekülphysik, sondern auch in der Festkörpertheorie von großer Bedeutung. Hier stehen die diskreten Raumgruppen im Vordergrund, entsprechend dem gitterperiodischen Aufbau der Kristalle. Diese Gruppen werden wir in Kap. 7 näher untersuchen. Bei der Beschreibung und Klassifikation der Elementarteilchen spielen neben einfachen diskreten Symmetrien kontinuierliche Symmetrien eine wesentliche Rolle. Dies sind die Poincaré-Gruppe und innere Symmetriegruppen. Für halbeinfache kompakte Lie-Gruppen existiert eine vorwiegend von Cartan (1869–1951) und Weyl (1885–1955) entwickelte abgeschlossene Theorie. Diese ist Inhalt der zweiten Hälfte des Buches.

Die Gruppentheorie war anfänglich eine mathematische Disziplin ziemlich abstrakter Art. Ihre große Bedeutung für die Physik gewinnt sie im Rahmen der Darstellungstheorie bei der Beschreibung von Symmetrien. Gruppen- und Darstellungstheorie sind seit Jahrzehnten ein nützliches Werkzeug in der Festkörper-, Kern- und Elementarteilchenphysik und werden es in der Zukunft auch bleiben. Z. B. versucht man, in der modernen Elementarteilchentheorie mit Hilfe von Symmetriebetrachtungen möglichst viele Eigenschaften der „elementaren Bausteine“ zu erklären, ohne die den Wechselwirkungen zugrunde liegende Dynamik im Einzelnen zu verstehen.

1.2 Gruppentheorie in Mathematik und Physik

Gruppen wurden benutzt, lange bevor sie axiomatisch beschrieben wurden. So erfüllen alle Symmetrien eines Körpers, z. B. eines platonischen Körpers, automatisch die Gruppenaxiome. Die nach Platon (428–347 v. Chr.) benannten regulären Polyeder

  • Tetraeder aus 4 (tetra) Dreiecken,

  • Hexaeder aus 6 (hexa) Quadraten,

  • Oktaeder aus 8 (okta) Dreiecken,

  • Dodekaeder aus 12 (dodeka) Fünfecken,

  • Ikosaeder aus 20 (eikosi) Dreiecken

Abb. 1.1
figure 1

Die fünf platonischen Körper

sind in Abb. 1.1 gezeigt: Neben den fünf platonischen Körpern gibt es keine regulären Polyeder. Zur Begründung betrachten wir das regelmäßige n-Eck, z. B. das 6-Eck in Abb. 1.2. Für den Außenwinkel \(\chi \) einer Ecke gilt die Beziehung \(2\pi =n\chi =n(\pi -\varphi )\) bzw.

$$ \varphi =\left( 1-\frac{2}{n}\right) \cdot 180^\circ ={\left\{ \begin{array}{ll}60^\circ &{}3-\text {Eck},\\ 90^\circ &{}4-\text {Eck},\\ 108^\circ &{}5-\text {Eck},\\ 120^\circ &{}6-\text {Eck}.\end{array}\right. } $$

In jeder räumlichen Ecke eines Polyeders müssen mindestens drei Vielecke zusammenstoßen. Da ein regulärer Polyeder konvex ist, muss die Winkelsumme aller Dreiecke, die in einer Ecke des Polyeders zusammenstoßen, stets kleiner als \(360^\circ \) sein. Es können also nur 3, 4 oder 5 regelmäßige Dreiecke, 3 Quadrate oder 3 regelmäßige Fünfecke an eine Ecke stoßen. Diese fünf möglichen Fälle lassen sich gerade durch die angegebenen platonischen Körper realisieren.

Platonische Gruppen

Diejenigen Drehungen im Raum, welche einen platonischen Körper in sich überführen, bilden eine diskrete Untergruppe der Rotationsgruppe. Wir werden diese platonischen Gruppen im Abschn. 6.1.1 näher analysieren.

Die Grundlagen der modernen Gruppentheorie gehen zu großen Teilen auf Evariste Galois (1811–1832) und Niels Henrik Abel (1802–1829) zurück. Mit Hilfe des Gruppenbegriffs gelang es ihnen zu beweisen, dass es für Gleichungen fünften oder höheren Grades keine Auflösungsformel geben kann oder dass man einen Winkel im Allgemeinen mit Zirkel und Lineal nicht in 3 gleiche Teile teilen kann.

Abb. 1.2
figure 2

Außenwinkel \(\chi \) und Innenwinkel \(\varphi \) im regelmäßigen 6-Eck

Die auf Galois und Abel folgende Generation von Mathematikern, Cayley (1821–1895), Dedekind (1831–1916), Kronecker (1823–1891) und Jordan (1838–1922) entwickelten die Gruppentheorie weiter und brachten sie in die Form, wie wir sie heute kennen. Die Bezeichnung Gruppe für derartige Strukturen wurde erstmals 1868 von Jordan benutzt, obwohl er nur das Axiom der Abgeschlossenheit gegenüber der Verknüpfung von zwei Gruppenelementen explizit forderte. Da er Symmetriegruppen untersuchte, waren die anderen Gruppeneigenschaften automatisch erfüllt. Im Jahre 1854 erkannte Cayley die Notwendigkeit des Assoziativgesetzes und die Existenz des Einselements. Er definierte die Gruppenverknüpfung mittels einer Tabelle, die heutzutage Cayley-Tafel genannt wird. Zwei Jahre später gab Hamilton (1805–1865) eine sehr platzsparende Methode zur Darstellung einer konkreten Gruppe an. Im Vergleich zur Cayley-Tabelle für die Ikosaedergruppe mit \(60\times 60\) Einträgen benötigte Hamilton nur eine Zeile.

Die erste Definition einer Gruppe mit den heute üblichen Axiomen erfolgte 1882 unabhängig voneinander durch van Dyck (1856–1934) und Weber (1842–1913). Danach bildet eine Menge G von Elementen bezüglich einer binären Operation \(\circ :G\times G\rightarrow G\), oft Multiplikation genannt, eine Gruppe, falls die Multiplikation abgeschlossen und assoziativ ist, ein Einselement existiert und falls jedes Element ein inverses Element hat. Eine (für die Physik) wichtige Station bei der Entwicklung der Gruppentheorie war die Einführung des Gruppenbegriffs in die Geometrie durch Klein (1849–1925) und Lie (1842–1899).

Im Jahre 1879 führte Killing (1847–1923) die Lie-Algebren, die Cartan-Unteralgebren und die Cartan-Matrizen ein. Diese Strukturen werden wir im zweiten Teil des Buches besprechen. Die Klassifikation der halbeinfachen Lie-Algebren wurde 1894 von Cartan, einem der herausragenden Mathematiker seiner Zeit, vollendet. Er untersuchte die Darstellungen von halbeinfachen Gruppen, und diese Studien wurden von Weyl fortgesetzt. Weyl hat die Gruppen- und Darstellungstheorie sehr erfolgreich auf Probleme der Quantenmechanik angewandt.

Eine ähnlich wichtige Entwicklung begann mit der Bestimmung aller 230 Raumgruppen durch den russischen Kristallographen Federov (1853–1919) im Jahre 1890 und unabhängig von ihm durch Schoenflies (1853–1928) und Barlow (1845–1934). Raumgruppen sind Symmetriegruppen der dreidimensionalen Punktgitter, und jedes Punktgitter kann eindeutig durch seine Symmetrien charakterisiert werden. Periodische Punktgitter wurden schon früh als Modelle für den Aufbau von Kristallen aus Atomen angesehen, obwohl Gitterstrukturen erst 1912 von Laue (1879–1960) und 1913 von Bragg (1862–1942) experimentell bestätigt wurden. Diese Arbeiten wurden von Coxeter (1907–2003) weitergeführt, der 1934 alle heute nach ihm benannten sphärischen und euklidischen Coxetergruppen klassifizierte. Unabhängig von Dynkin (1924–2014) entdeckte er die Dynkin-Diagramme zur Klassifikation von halbeinfachen Lie-Algebren.

Die Gruppen- und Darstellungstheorie der endlichen und kontinuierlichen Gruppen ist nach wie vor ein aktuelles Forschungsgebiet. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, diese schöne und für die Physik wichtige Theorie in einem Lehrbuch vollständig darlegen zu wollen. Deshalb werde ich eine Auswahl von mir interessant erscheinenden Themen über Symmetrien sowie Gruppen- und Darstellungstheorie treffen müssen. Dabei werden an einigen Stellen Beweise ganz weggelassen oder nur skizziert. Der Schwerpunkt liegt auf Methoden und Resultaten, die in der Physik Anwendung finden. Zur Illustration werden Symmetrien in der Atom-, Molekül-, Festkörper- und Teilchenphysik besprochen. Der aufmerksame Leser sollte nach Lektüre dieses Buches in der Lage sein, bei der Lösung physikalischer Probleme Symmetrieüberlegungen anzustellen und entsprechende gruppentheoretische Methoden erfolgreich anzuwenden.

1.3 Literatur, Software

Die mathematischen Physiker H. Weyl und E. Wigner waren verantwortlich für die Einführung der Gruppentheorie als mathematische Methode in die Quantenmechanik. In ihren Büchern [1, 2] findet man bereits viele Anwendungen der Gruppentheorie in der Atomphysik mit Betonung der Permutations-, Rotations- und Lorentz-Gruppen. Weitere empfehlenswerte Bücher sind die zwei Bände von Cornwell [3], in denen Anwendungen in der Teilchenphysik und die Rolle der Lie-Algebren mehr Beachtung finden. Eine Einführung in die Gruppentheorie aus formellerer Sichtweise findet man in den lesenswerten Büchern [4–8]. Werke mit Anwendungen in den Naturwissenschaften oder etwas spezifischer in Atom-, Molekül- und Festkörperphysik sind [9] oder [10–15]. Die Bücher [16, 17] betonen mehr die Anwendungen in Quantenmechanik und Elementarteilchenphysik. Texte mit Schwerpunkt auf endlichen Gruppen, wie sie in Chemie und Physik auftreten, sind [18, 19]. Die Bücher [20, 21] kommen in Stil und Inhalt dem vorliegenden Werk nahe.

Sollten Sie mehr Fakten über die Geschichte der Gruppentheorie und der bei ihrer Entwicklung beteiligten Personen wünschen, verweise ich Sie auf die Webseiten von St. Andrews,

https://mathshistory.st-andrews.ac.uk/HistTopics/Development_group_theory

Im Buch werden die frei erhältlichen algebraischen Computerprogramme GAP

http://www.gap-system.org/Releases/index.html

und LiE http://wwwmathlabo.univ-poitiers.fr/~maavl/LiE/

benutzt. Das erste Programm ist hervorragend für die Analyse von endlichen Gruppen geeignet, während das zweite bei der Untersuchung von Lie-Algebren nützlich sein kann.