1 Einleitung

Wer kennt Sie nicht, Organisationsprojekte resultierend aus Krisen, in denen sich bisherige Arbeitsweisen endgültig als unwirksam erwiesen haben, oder Organisationsprojekte nach einem Wechsel im Vorstand, um „der neuen Strategie“ eine strukturelle Grundlage zu geben. Diese neuen Organisationslösungen werden meist in Projekten bearbeitet. Hohe Expertise durch externe Berater und systematische Projektarbeit dienen dann der „sauberen Analyse“ aktueller Probleme, der Bewertung zukünftiger Rahmenbedingungen, um schließlich ein klares Organisationskonzept im Vorstand zu entscheiden und umzusetzen. Diese Art des Systems Engineering (z. B. Schulte-Zurhausen 2005) hat ihre Grenzen in komplexen Umwelten, wenn der Zeitraum zwischen Einführung einer Organisationslösung und neuerlichem Änderungsbedarf kürzer wird. Klassische Organisationsentwicklungsansätze sind dafür zu langsam. Nicht selten startet das nächste Organisationsprojekt, bevor das alte umgesetzt ist, oder von den Beschäftigten als wirksam erlebt wird. „Zynismus gegenüber organisationalen Veränderungen“ kann daraus entstehen (vgl. Grote 2001). Konsequenterweise wurden deshalb in den letzten 20 Jahren Konzepte für kontinuierliche Organisationsveränderungen, als schnelle, kontinuierliche Anpassung an neue Bedingungen (Märkte, Kunden, Politik), entwickelt (z. B. Konzept der Lernenden Organisation, Jones und Bouncken 2008, S. 721 ff.).

Organisationales Lernen setzt in gewissem Sinne die Auseinandersetzung mit Ereignissen (Informationen) voraus, die für mehrere Beteiligte bedeutsam sind. Daraus entsteht die Motivation, diese Information als Problem zu analysieren, eine Lösung dafür zu finden und sie im „kollektiven, organisationalen Gedächtnis“ abzuspeichern.

Der nachfolgend beschriebene Holakratie-Ansatz verzichtet auf die „geteilte Bedeutsamkeit“ von Ereignissen für mehrere Beteiligte. Vielmehr reicht jede, von einzelnen Beteiligten eingebrachte Spannung (als subjektive Wahrnehmung eines Problems), um eine neue Organisationslösung durch schnelle, klare Entscheidungsprozesse einzuführen. „Neue Organisationslösung“ meint keine „für den Tag wirksame Entscheidung“, sondern tatsächlich langfristig wirksame, formale Organisationsanpassungen. Diese gelten so lange, bis eine neue Spannung als Auslöser für eine neuerliche Organisationsveränderung entsteht.

2 Konzepte und Wirkungsweise im Holakratie-Ansatz

Der Holakratie-Ansatz arbeitet mit einer Reihe klar definierter und operationalisierter Konzepte. Dadurch wird die Anwendung in der eigenen Organisation stark erleichtert. Empfehlenswert für das Kennenlernen der Philosophie wie auch von Details zum Vorgehen sind das Buch vom Begründer des Ansatzes „Holacracy“ (Robertson 2016, deutsche Übersetzung) und die englischsprachige Internetseite, http://www.holacracy.org/. Von Robertson, der eine Unternehmensberatung gegründet hat, wird zudem die Nutzung zertifizierter Berater bei der Einführung und ein Invest in die Schulung von Mitarbeitern für die kontinuierliche Anwendung empfohlen.

Für die Darstellung hier haben wir eine Beschreibungstiefe angestrebt, die die grundsätzliche Idee und Wirkungsweise sichtbar werden lässt, um den Ansatz diskutieren und bewerten zu können. Sofern im Text nicht anders angegeben, beziehen wir uns auf das Buch von Robertson (2016). Begriffe, die in der deutschen Übersetzung des Buches in Englisch belassen worden sind, werden auch hier so genutzt.

Wofür steht der Begriff „Holakratie“? Eine Wortschöpfung (vgl. Robertson 2016, S. 36) aus

  • Holon, etwas Ganzes, das wiederum Teil eines größeren Ganzen ist

    (klar abgegrenzte Rollen und Kreise, die wiederum Teil von größeren Kreisen sind)

  • Holarchie, die Art der Verbindung zwischen Holons

    (hohe Autonomie der Rollen und Kreise, aber Verbindung von Rollen und Kreisen durch Zweck und Zuständigkeitsbereiche, Entscheidungsfindung in Meetings, …)

  • Holakratie, Herrschafts- und Führungsprinzip (-kratie) in der Organisation durch die Holarchie (Hola-; insbesondere Prinzip der Selbstorganisation und Selbststeuerung).

Im Holakratie-Ansatz wird eine Organisation (z. B. Unternehmen, Institution, Verein, …) als Menge zusammenwirkender und dennoch autonom handelnder Rollen beschrieben. Jede Rolle ist über einen speziellen Zweck, einen Zuständigkeitsbereich und Aufgaben definiert. Die Partner der Organisation (z. B. die Beschäftigten eines Unternehmens oder die Mitglieder eines Vereins) können eine oder mehrere Rollen übernehmen. In der Zusammenarbeit zwischen den Rollen entstehen naturgemäß „Spannungen“ (aus sich verändernden Umwelteinflüssen, ungeklärten Zuständigkeiten, Fehlern, …). Diese Spannungen sind Grundlage für die kontinuierlich-evolutionäre Weiterentwicklung der Organisation, indem diese Spannungen in Governance-Meetings aufgelöst werden. Daneben dienen operative Meeting der gegenseitigen Information und Klärung nächster Schritte im Rahmen der vereinbarten Rollen. Die operativen Meetings finden eher häufig, z. B. wöchentlich statt, die Governance-Meetings seltener, z. B. monatlich oder quartalsweise (siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Zusammenspiel der Gremien im Holakratie-Ansatz (aus Robertson 2016, S. 26, eigene Darstellung)

Gegenstand der Governance-Meetings sind Spannungen, die aus Zuständigkeitsüberschneidungen, aus neuen Aufgaben, unbefriedigender Leistungserbringung etc. entstehen und die einer eher langfristigen Lösung bedürfen. Diese Spannungen werden als Themen in die Governance-Meetings eingebracht, und in einem sehr strukturierten „integrativen Entscheidungsprozess“ werden dafür Lösungen entwickelt. Lösungen, d. h. dass sich bestehende Rollen verändern oder neue Rollen begründet werden. Sollte eine Lösung eher temporär, also auf operativer Ebene sinnvoll sein, dann werden die Themen an die operativen Meetings übergeben.

Durch diese Weiterentwicklung der Organisation in Governance-Meetings werden neue Rollen gebildet, alte verändert oder wieder aufgelöst. Beim Wachstum der Organisation können Rollen aufgebrochen werden, dann entstehen sogenannte Kreise, die wiederum mehrere Rollen enthalten. Ein Kreis ist aus Sicht anderer Rollen wie eine Rolle zu betrachten, also definiert über einen Zweck, einen Zuständigkeitsbereich und Aufgaben. Der äußerste, alles umschließende Kreis ist der Anchor-(Anker)-Kreis. Er steht für die Gesamt-Organisation und sein Zweck ist gleichzeitig der Zweck der Unternehmung oder Institution.

Operative Meetings dienen der Synchronisation der Zusammenarbeit und der Auflösung temporärer Spannungen in der Zusammenarbeit. Darüber hinaus wird gegenseitig über den Fortschritt von Projekten und den Bearbeitungsstand des Routinegeschäfts (z. B. mit Kennzahlen) informiert.

Damit die Regeln in den Meetings eingehalten werden und diese effizient ablaufen, gibt es zwei standardisierte Rollen für jeden Kreis: den „Facilitator“, der die Meetings moderiert und den „Secretary“, der die Meetings protokolliert und evtl. Regelauslegungen verantwortet.

Alle Regeln zum grundsätzlichen Aufbau und zur Weiterentwicklung der Organisation, die Meetings und die Arbeitsweise in diesen Meetings sowie die dafür notwendigen Rollen sind in einer „Constitution“ (Manifest, Verfassung) niedergelegt. Diese wird vom Vorstand oder der Geschäftsführung formell verabschiedet und unterzeichnet. Organisationsspezifische Anpassungen der Constitution sind grundsätzlich möglich, aber sicherlich begrenzt, wenn man den Holakratie-Ansatz explizit als Grundlage seiner Organisationsentwicklung und -steuerung nutzen möchte.

Neben den Rollen, Facilitator und Secretary, gibt es drei weitere Rollen, die für die Arbeit in und zwischen den Kreisen wichtig sind (s. Abb. 2):

  • Lead Link

  • Rep Link

  • Cross Link.

Abb. 2
figure 2

Kreise und Rollen im Kreis (in Anlehnung an Robertson 2016, S. 47, eigene Darstellung)

Der Lead Link besetzt Rollen mit Partnern (z. B. Teammitglieder). Der Lead Link ist zudem verantwortlich für den Zuständigkeitsbereich des Kreises, der nicht an eine spezifische Rolle im Kreis übergeben wurde. Sobald aber eine spezifische Rolle definiert und besetzt worden ist, darf (!) der Lead Link nicht mehr in die Aufgabenwahrnehmung der Rolle eingreifen. Er kann höchstens den Partner, der die Rolle von ihm übergeben bekommen hat, durch einen anderen ersetzen. Die Rolle selbst kann nur im Governance-Meeting verändert werden. Wenn man die Besetzung von Rollen mit Partnern als Führungsaufgabe sieht, so ist die Führungsmacht aber sehr klar begrenzt, weil der Eingriff in die Arbeitsweise der Rolle, durch Planung oder Kontrolle nicht gestattet ist.

Der Rep Link repräsentiert seinen Kreis in den Meetings des übergeordneten (Super-) Kreises und kann dort Themen (Spannungen) aus Sicht seines Kreises einbringen. Der Rep Link soll nicht gleichzeitig der Lead Link sein.

Der Cross Link vertritt seinen Kreis in Nachbarkreisen, ähnlich wie der Rep Link im Super-Kreis, allerdings nur, sofern (die ja autonom handelnden) Nachbarkreise diese Verlinkung beschließen, sich also aus Gründen der Abstimmung für die Teilnahme eines Cross Links in ihren Meetings entscheiden.

Mitarbeiter der Organisation werden Partner genannt. Partner in der Organisation bekommen Rollen entweder durch den Lead Link zugewiesen oder werden von den Meeting-Teilnehmern (für bestimmte Rollen) gewählt. Jeder Partner kann mehrere Rollen einnehmen. Jeder Partner, der eine bestimmte Rolle hat, kann an den Meetings seines Kreises gleichberechtigt teilnehmen. Gewählte Rollen in jedem Kreis sind

  • Facilitator (Funktion: Moderator, Eskalationsstelle; kann nicht gleichzeitig Lead Link sein)

  • Rep Link (kann nicht gleichzeitig Lead Link sein)

  • Secretary (Funktionen: Organisation, Protokollführung, Regelauslegung).

Definiert ein Kreis eine neue Rolle und weist dieser Rolle einen Zuständigkeitsbereich zu (z. B. einen Kunden), dann gibt der Kreis die volle Verantwortung an die Rolle ab. Die Autonomie in der Rollenwahrnehmung ist sehr weitgehend, so müssen keine verbindlichen Terminzusagen für Aufgaben und Projekte gemacht werden und für den übernommenen Zuständigkeitsbereich können eigene Policies erlassen werden. Wie bereits beschrieben kann auch der Lead Link nicht in die Rollenwahrnehmung (Rollenarbeit) eingreifen, insofern kann Unzufriedenheit mit der Rollenwahrnehmung nur als Spannung in die entsprechenden Meetings eingebracht und dort aufgelöst werden (vgl. Abb. 2).

Die Zusammenarbeit zwischen den Rollen wird gleichwohl gesichert, weil einerseits die Rollenbeschreibungen transparent sind und in den operativen Meetings alle gegenseitig zur Transparenz über ihre aktuelle Arbeit verpflichtet sind. Anfragen anderer Rollen zur Zusammenarbeit müssen zudem mit hoher Priorität beantwortet werden.

3 Was ist bekannt, was neu?

In diesem Abschnitt wollen wir einordnen und zuordnen, welche bekannten Konzepte im Holakratie-Ansatz genutzt werden, um folgend das Neue beschreibbar und bewertbar zu machen. Wir wollen diese Einordnungen und Bewertungen bereits jetzt als „subjektiv“ charakterisieren, da wir von den uns – aus unseren Tätigkeiten – bekannten Konzepten ausgehen und keine vollständige wissenschaftliche Einordnung leisten können und wollen (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Welche Teil-Konzepte im Holakratie-Ansatz sind uns bereits aus anderen Ansätzen bekannt?

Aus unserer Sicht sind die meisten Teil-Konzepte aus anderen Ansätzen bekannt bzw. quasi Teil der allgemeinen Organisationslehre. Dennoch sehen wir in den konkreten Auslegungen und dem Zusammenwirken der Konzepte insgesamt eine starke Neuerung im Holakratie-Ansatz. Als Neuerungen hervorhebenswert sind für uns die Beschränkungen der Rolle des Lead-Links, die Beschränkung doppelter Rollen (z. B. Lead Link darf nicht Rep Link sein), die hohe Autonomie in der Rollenwahrnehmung und die Nutzung von Spannungen als Ansatzpunkte für Organisationsanpassungen.

3.1 Formalisierung, Standardisierung und Autonomie

Nach unserer Erfahrung gehen Formalisierung und Standardisierung einerseits und sinkende Autonomie andererseits meist Hand-in-Hand, nicht so im Holakratie-Ansatz:

  • Wenn ein Unternehmen seine Leistungen und Prozesse standardisiert, dann formalisiert es diese gleichzeitig. Der Umfang der Beschreibung, die Detailtiefe, die Spezialbegriffe nehmen dann zu. Gleichzeitig nimmt die Autonomie in der Arbeit ab. Die Freiheitsgrade des Einzelnen in der Aufgabenwahrnehmung sinken. Standardisierung bedeutet geradezu, dass Vorbereitungs-, Durchführungs- und Kontrollanteile in Tätigkeiten vorgegeben werden und es nicht mehr in der Entscheidung des Einzelnen liegt, wie er diese Teilaspekte der Tätigkeit durchführt. In der Praxis geht eine Organisation z. B. nach Anfangsjahren mit relativ geringer Formalisierung deshalb häufig einen expliziten Schritt in eine stärkere Differenzierung und Formalisierung, insbesondere wenn sie durch Wachstum eine bestimmte Größe überschritten hat (z. B. Jones und Bouncken 2008, S. 234 f.).

  • Im Holakratie-Ansatz wird von Anfang an eine hohe Formalisierung durch Rollenbeschreibungen angestrebt und der Governance-Prozess ist auf eine zunehmende Verfeinerung dieser Rollen angelegt. Gleichzeitig wird jedoch die Autonomie in der Rollenwahrnehmung betont und gesichert, indem z. B. die Lead Links nicht in die Rollenwahrnehmung durch Planung und Kontrolle eingreifen dürfen. Die Verantwortung für die Zuständigkeitsbereiche (z. B. Kunden, Zielgruppen, Medien, …) geht sogar vollständig auf die Rollen über. Formalisierung soll also nicht mit Autonomieverlust einhergehen. Wenn Autonomie mit Kompetenz (Wissen, Erfahrung, Motivation, …) zusammenfällt, ergeben sich häufig Vorteile für Innovation, Kundennähe aber auch die langfristige Motivation der Beschäftigten. Es wäre somit sehr interessant für Organisationen, wenn sie auch bei steigendem Wachstum diese Autonomie für den Einzelnen länger erhalten könnten. Ob dies gelingt, muss aber die Praxis zeigen. Kritisch wäre es ja, wenn durch die schrittweise Verfeinerung von Rollenbeschreibungen (Formalisierung) die Dynamik von Unternehmensentwicklungen sogar früher ausgebremst würde als mit anderen Ansätzen.

3.2 Autonomie im Holakratie-Ansatz und vollständige Tätigkeiten nach Hacker (1986)

Der Holakratie-Ansatz betont explizit die Autonomie der Rollenwahrnehmung und beschränkt Fremdsteuerung und Machtausübung durch Führung und Kontrolle. Er setzt damit implizit auf eine hohe Kompetenz der Partner der Organisation.

Die Idee ist natürlich nicht neu. Insbesondere im Konzept der „vollständigen Tätigkeit“ von Hacker (1986) ist beschrieben, welche Vorteile sich ergeben, wenn Tätigkeiten dauerhaft Planungs-, Vorbereitungs-, Ausführungs- und Kontrollanteile enthalten, über deren Ausprägung der Einzelne selbst entscheidet. Für solche Tätigkeiten wird eine hohe Motivation in der Aufgabenwahrnehmung und für die eigene Weiterentwicklung angenommen. Die Realisierung vollständiger Tätigkeiten wurde in den 90er Jahren mit teilautonomen Arbeitsgruppen z. B. in den Montagebereichen der Automobilindustrie angestrebt, weil hier tayloristische Fertigungssysteme besonders wenig Freiheitsgrade für die Beschäftigten belassen hatten. Man kann jedoch zeigen, dass ein hoher Standardisierungsgrad in den Fertigungssystemen letztlich zu wenig Komplexität und Autonomiebedarf für die Tätigkeiten belässt, sodass sich auch in Gruppen mit einer gewissen Selbststeuerung nicht die gewünschten Effekte in Motivation und Weiterentwicklung ergeben (Goyk 2000).

Es gab also Versuche, vollständige Tätigkeiten in Organisationsentwicklungsprojekten zu realisieren, allerdings war der Aufwand dafür sehr hoch, da keine Tools zur Umsetzung vorlagen. Im Holakratie-Ansatz sind aus unserer Sicht die „handwerklichen“ Grundlagen geschaffen, um vollständige Tätigkeiten umzusetzen, ohne dass der Holakratie-Ansatz speziell auf das Konzept von Hacker (1986) Bezug nimmt. Dies macht den Holakratie-Ansatz interessant für die Gestaltung von Tätigkeiten in der unmittelbaren Leistungserbringung (Produktion oder Dienstleistung), aber auch für dafür benötigte Supportfunktionen (F&E, Personal, Controlling, IT, …). Denn auch in den Supportbereichen sinken in wachsenden Unternehmen die Freiheitsgrade häufig stark ab, mit negativen Auswirkungen auf Innovation, (interne) Kundennähe und dauerhafte Motivation der Beschäftigten.

3.3 Führung vs. Lead Link und Rep Link

Führung wird im Holakratie-Ansatz klar beschränkt auf die Zuweisung von definierten Rollen zu Personal (Partnern). Die Definition der Rolle selbst ist dagegen dem Governance-Prozess vorbehalten. Die übliche Führungsaufgabe, Spannungen auf- oder wahrzunehmen und diese ggf. durch Entscheidungen aufzulösen, wird hier ebenfalls durch die Governance Meetings und die operativen Meetings wahrgenommen. Für andere Führungsaufgaben, etwa Leistungsbewertung als Grundlage für Personalentwicklung und Vergütung, ist im Holakratie-Ansatz nichts festgelegt. Der Ansatz suggeriert aber auch hier eher Gruppenprozesse als Machtausübung durch einzelne Führungskräfte. Dies wird nach unserer Lesart sichtbar in der Wahl bestimmter Rollen durch die Teilnehmer von Governance-Meetings, nämlich Rep Link, Facilitator und Secretary. Die Vertretung eines Kreises im übergeordneten Kreis wäre in klassischen Hierarchien sicher auch Aufgabe der Führungskraft. Im Holakratie-Ansatz wird diese vom gewählten Rep Link wahrgenommen, der nicht gleichzeitig Lead Link sein soll.

Dies können aus unserer Sicht wirksame Regeln zur Beschränkung von Macht und zum Erhalt der Autonomie in der Rollenwahrnehmung (Rollenbearbeitung) sein.

Das Prinzip der Machtbeschränkung von Führungskräften findet sich auch in einem anderen viel diskutierten Modell, den Google Work Rules (Bock 2016). Obwohl es sich bei den Google Work Rules eher um die Beschreibung gewachsener Personalkonzepte handelt, spielt die Machtbeschränkung von Führungskräften ebenfalls eine wesentliche Rolle, mit der Begründung, dass nur so Freiheitsgrade und Vielfalt in den Tätigkeiten gesichert werden können. Klassische Führungsaufgaben, wie Personalbesetzung, Leistungsbewertung und Gehaltsfindung, werden durch Gremien geleistet und damit Macht verteilt (Bock 2016, S. 111 f.; Goyk und Grote 2018).

3.4 Spannungen als Treibstoff für Organisationsentwicklung

Es gibt wohl keine Organisation, in der Spannungen wegen Zuständigkeitsüberschneidungen, notwendigen, aber nicht verteilten Aufgaben, Fehlern, Intransparenz, … nicht in irgendeiner Form auch zur Weiterentwicklung der Organisation genutzt werden. Die Konsequenz und Systematik, mit der Spannungen für diesen Zweck genutzt werden, ist im Holakratie-Ansatz jedoch bestechend, originell und damit auch neuartig. Im Holakratie-Ansatz geht man explizit davon aus, dass auf Dauer nicht gelöste Spannungen zu einer Verstärkung informeller Strukturen führen, die die formelle Organisation irgendwann infrage stellen. Gleichzeitig geht man wohl – eher implizit – davon aus, dass in den Spannungen notwendige und hinreichende Information liegt, um die Organisation sinnvoll weiterzuentwickeln.

Die strukturierte Bearbeitung der Spannungen in den Governance Meetings und den operativen Meetings führt gleichzeitig einen standardisierten Kommunikationsprozess in Organisationen ein, um den viele Unternehmen und Institutionen häufig lange und nicht selten erfolglos kämpfen.

Durch den klaren Auftrag für diese Meetings, den kontinuierlichen Input durch gleichberechtige Teilnehmer, die professionelle Moderation durch den Facilitator und die Protokollierung durch den Secretary sollten diese Meetings längerfristig erfolgreich sein. Wir glauben daran, dass dadurch informelle Strukturen vermieden oder reduziert werden und eine sinnvolle Weiterentwicklung der Organisation möglich wird. Wir sehen allerdings auch einen hohen Preis in der Formalisierung der Zusammenarbeit.

Das Aufgreifen und damit die Akzeptanz letztlich subjektiver Spannungen der Partner einer Organisation ist aus unserer Sicht kompatibel mit systemischen Ansätzen zur Organisationsentwicklung. Die systemische Sichtweise geht nicht von „wahr und falsch“ für Organisationslösungen aus, sondern betont die Möglichkeit zur Konstruktion und Ausprobieren von Lösungen, eben solange sich diese bewähren, um dann auch wieder verändert zu werden. Systemische Berater sollten aus dieser Sicht gut mit dem Holakratie-Ansatz arbeiten können.

4 Bewertung

Wohl jedes Medikament, das hilft, hat auch Nebenwirkungen, und man muss abwägen, ob man diese akzeptiert. Um eine analoge Bewertung hier zu ermöglichen, sollen noch einmal die aus unserer Sicht interessanten positiven Aspekte aber auch die möglichen Nebenwirkungen des Holakratie-Ansatzes herausgestellt werden. Dies bildet im letzten Abschnitt die Grundlage für unsere Einsatzempfehlungen.

4.1 Positive Hauptwirkungen

Im Grundsatz sehen wir im Holakratie-Ansatz eine sehr interessante Zusammenstellung bekannter Konzepte, wobei der hohe Grad der Operationalisierung die Umsetzung erleichtert. Ebenfalls gefällt uns die auf Dauer angelegte Idee einer evolutionären Weiterentwicklung der Organisation,Footnote 1 denn viele Unternehmen führen mit großen Aufwand Organisationslösungen ein, die dann schnell veralten oder durch informelle „Lösungen“ langsam ersetzt werden. Wir sehen in den vorgeschlagenen Meeting-Strukturen eine gut übertragbare Lösung für viele Organisationen, selbst wenn diese nicht explizit den Holakratie-Ansatz verfolgen wollen. Die Trennung von organisatorischen und operativen Themen mit geschulter Moderation und Protokollierung sollte in vielen Fällen möglich sein und sich bewähren.

Nicht zuletzt ist die Idee der Autonomie in der Rollenwahrnehmung ein interessantes Merkmal des Holakratie-Ansatzes. Viele Unternehmen und Institutionen verlieren unmerklich ihre Innovationskraft, weil sie die Freiheitsgrade der Beschäftigten immer mehr beschneiden und damit die Nutzung der verfügbaren Kompetenzen und deren Weiterentwicklung begrenzen. Wie oft klagen Führungskräfte, dass vieles einfacher wäre mit den richtigen Mitarbeitern. Sie sehen häufig nicht, dass die gewählten Organisations- und Führungsansätze die Stärken der Mitarbeiter beschränken.

4.2 Mögliche Nebenwirkungen

Rollendefinitionen bedeuten Dokumentation. Diese ist sinnvoll, um Verbindlichkeit zu erzeugen. Dort, wo die Dokumentation aufgrund der Rollenvielfalt und Komplexität häufig gelesen werden muss, um Zuständigkeiten zu prüfen, kann sie jedoch unpraktisch werden und zu sinkender Akzeptanz führen. Nach unserer Erfahrung ist dieser Punkt schnell erreicht. Nicht zuletzt deshalb sind Stellenbeschreibungen als bürokratische Instrumente etwas aus der Mode gekommen.

Spannungen abbauen ist gut. Entstehen durch Rollenergänzungen oder die Kombination verschiedener Rollen aber wirklich harmonische Pakete für Zuständigkeiten und Aufgaben? Oder steigt mit der Zeit der Aufwand für das Selbstmanagement der übernommenen Rollen immer mehr an? Wir befürchten das. Die Lösung läge in periodischen Rollenrevisionen, was jedoch Zusatzaufwand bedeutet und vielleicht zu einer Stimmung à la “Wir beschäftigen uns zu sehr mit uns selbst“ führt. Für ein Referenzunternehmen des Holakratie-Ansatzes, die Firma Zappos, werden ähnliche Probleme in den Medien berichtet (z. B. Werle 2016, aber auch vielfältig im Internet).

Die Idee der evolutionären Weiterentwicklung der formellen Organisation ist gut, um die Motivation für konkurrierende informelle Strukturbildungen gering zu halten. Im Holakratie-Ansatz hat jedoch das Informelle in Organisationen – nach unserem Verständnis – gar keine eigenständige Bedeutung mehr, sondern ist nur ungewünschte Nebenwirkung unzureichender Organisationsgestaltung. Wir glauben jedoch an den eigenständigen Wert des Informellen. Es gibt immer wieder nicht vorherbare Situationen, die ein Handeln ohne Genehmigung erfordern. Dafür gibt es im Holakratie-Ansatz sogar eine Regel, für die sogenannten „individual actions“. Darüber hinaus ist jedoch fast jede kreative Arbeit im gewissen Sinne informell. Wer kann mit wem gut, ist dann wichtiger als, wer darf mit wem gemäß Rollenbeschreibung. Diese informellen Strukturen müssen gerade in größeren Unternehmen häufig wieder gefördert werden: von der berühmten Kaffee-Ecke, über Teamevents, um Werte, Motive und Stärken der Kollegen jenseits der formellen Arbeit kennenzulernen, bis zur Gewährung zeitlicher Freiheitsgrade als bezahlte Zeit ohne Aufgabe. Diese informellen Beziehungen wirken auch auf die formellen Beziehungen, z. B. als Vertrauen zur Person, zurück. Der Anspruch der vollständigen Formalisierung von Arbeitsbeziehungen würde diese informellen Beziehungen quasi ausschließen oder verhindern und vielleicht sogar den vorher beschriebenen positiven Effekt für Kreativität aus der Rollenautonomie wieder aufheben.

Alle Nebenwirkungen können aus unserer Sicht gemildert werden, wenn Unternehmen und Institutionen sich von dem Holakratie-Ansatz inspirieren lassen, sich aber dennoch gestatten, eigene Ausprägungen für Rollen, Meetings, Zeiträume, Beteiligung der Partner etc. zu definieren. Womit wir dann wieder beim Bild aus der Medizin wären, „dass die Dosis es macht.“

5 Welche Kompetenzen unterstützen die Arbeit mit dem Holakratie-Ansatz?

Mit dem folgenden Blick auf Kompetenzen versetzen wir uns quasi in die Lage der Berater oder der internen Personalmanager, um notwendige Voraussetzungen der Beteiligten für Verhalten und Motivation zu definieren, damit die Arbeit mit dem Holakratie-Ansatz gelingen kann.

Als unterstützend sehen wir grundsätzlich eine Haltung und Arbeitsweise an, mit denen Aufgaben aktiv angenommen werden, ohne die Freiräume von anderen (gewollt) zu beschränken. Jeder sollte die eigene Arbeit (Rollen) eigenverantwortlich bearbeiten und diese gleichzeitig als Rahmenbedingung und im Kontext der Arbeit anderer begreifen. Wichtige Kompetenzbegriffe dafür sind

  • Verantwortung annehmen, Selbststeuerung / Selbstorganisation: Unternehmen, die sich mit dem Holakratie-Ansatz organisieren, schaffen automatisch Freiräume für Mitarbeiter. Diese Freiräume sind strenggenommen nur ein Angebot, das angenommen und ausgefüllt werden muss. Mitarbeiter müssen Verantwortung übernehmen wollen und Aufgaben in umfassender Weise eigenständig bearbeiten.

  • Aktives Zuhören, Feedback geben, Veränderungsbereitschaft: Eine Grundannahme des Holakratie-Ansatzes ist, dass keine Organisation (dauerhaft) so gut ist, dass keine Spannungen entstehen. Diese Spannungen müssen zugelassen werden. Das heißt, sie müssen geäußert und gehört werden. Sie dürfen nicht als Angriff auf das Bestehende, sondern als Impuls für Weiterentwicklung gesehen werden.

  • Moderieren und Moderation zulassen: In einer Organisation, die sich im Wesentlichen über die Diskussion der betroffenen Mitarbeiter weiterentwickelt, braucht es Disziplin, um nicht endlos und ergebnislos zu diskutieren. Deshalb braucht es in jedem Meeting eine Kompetenz, Meetings zu strukturieren, alle in angemessener Weise einzubeziehen und dennoch Ergebnisse zu erreichen. Diese Kompetenz muss von allen Beteiligten verstanden und akzeptiert werden.

  • Bereichsübergreifendes Denken, Vertrauen, Fehlertoleranz: Wenn komplexe Aufgaben von Rollen mit großer Selbständigkeit bearbeitet werden, dann setzt dies die ausreichende Kenntnis der Wirkung der eigenen Arbeit auf die Arbeit anderer Rollen voraus. Gleichzeitig setzt es Vertrauen in die Arbeit anderer voraus, dass diese auch die eigene Rolle beachten. Nicht jeder Fehler darf als Anlass für Eskalation genommen werden, sondern muss letztlich als sinnvolle Information für die Weiterentwicklung des Bestehenden angenommen werden.

  • Rollenbewusstsein: Im Holakratie-Ansatz ist die Führung (die Rolle des Lead Link) bewusst beschränkt. Diese Beschränkung muss sicherlich dauerhaft reflektiert werden. Sie besteht in der Zuweisung von nicht selbst definierten Rollen an die Mitwirkenden, ggf. die Zurücknahme einer Rolle. Sie muss darauf vertrauen, dass übernommene Rollen durch die Kompetenzen der Personen abgedeckt werden, ggf. aber Kompetenzentwicklung anregen. Der Lead Link ist zudem automatisch der Vertreter für alle Rollen, die keiner Person zugeordnet sind.

  • Commitment: Der Holakratie-Ansatz geht davon aus, dass bei Einhaltung der Regeln aus Governance (Verfassung), aus moderierten Meetings und strukturierten Entscheidungsprozessen von allen getragene Organisationslösungen entstehen. Eine Haltung, die solche Lösungen nur als „notwendiges Übel“ und „schlechte Kompromisse“ ansieht, wäre hier sicherlich hinderlich. Anders ausgedrückt, vereinbarte Regeln müssen akzeptiert werden.

Einige Kompetenzen könnten gegebenenfalls hinderlich sein. Meistens können diese auch als Überausprägungen von sonst hilfreichen Kompetenzen beschrieben werden. In den Überausprägungen wird Motivation sichtbar, insofern sind diese Kompetenzen nicht leicht zu verändern.

  • Detailorientierung: Wer immer weiß, wie etwas noch besser („richtiger“) hätte gemacht werden können, wird sich in einer Organisation mit hoher Eigenverantwortung schwertun, in der dennoch zusammengearbeitet werden muss.

  • Klassische Führung: Führungsanspruch im Sinne von Strukturierung, Entscheidungsmacht und Kontrolle geht am Holakratie-Ansatz vorbei. Dies mag in Unternehmen selbstverständlich sein, die sich voll dem Ansatz verpflichtet haben. Da wir jedoch davon ausgehen, dass man mit dem Ansatz und Elementen daraus auch in Teilbereichen und z. B. Projekten arbeiten kann, ist die Art und Weise des Führungsanspruches der Beteiligten ein wichtiges Thema.

  • Aktivität oder Aktivismus: Viele Manager sehen eine hohe Einsatzbereitschaft, Belastbarkeit und Entscheidungsfreudigkeit geradezu als Puffer für die Unzulänglichkeiten der Organisation an. Arbeiten bis zum Umfallen, am Abend, am Wochenende und im Urlaub sind nicht nur Schlagworte, sondern gelebte Realität. Diese Kompetenzfacetten wirken auch als Ungeduld gegenüber der Arbeit anderer, als Glaube, alles selber machen zu müssen usw. Und in dieser Ausprägung sind sie hinderlich in einer Organisation, in der (nicht perfekte) Menschen selbständig Rollen ausfüllen.

Kompetenzbetrachtungen sind kontextabhängig. Zum Kontext gehören die konkreten Aufgaben, Rahmenbedingungen, aber auch die Kompetenzen anderer Beteiligter. Insofern sind die aufgeführten Kompetenzen aus unserer Sicht eher Anregungen als klare Setzungen.

6 Fazit

Wir sehen den Holakratie-Ansatz als sehr gutes Set von Regeln und Instrumenten, um in unterstrukturierten Organisationen sinnvolle formelle Strukturen aufzubauen. Unterstrukturiert sind z. B. häufig Projekte mit längerer Laufzeit, deren Strukturen als Projektorganisation zwar bewusst gestaltet werden, die aber auch besonders schnell veralten, weil die Komplexität der Aufgaben zu unvorhersehbaren Entwicklungen führt. Ein Ansatz für die gesamte Projektlaufzeit, die Projektorganisation immer wieder anzupassen, wäre dann hilfreich. Nach unserer Erfahrung wird in Projekten viel mit Protokollen und Dokumentationen gearbeitet, insofern sollte auch diese Nebenwirkung des Holakratie-Ansatzes akzeptiert werden.

Unterstrukturierte, gewachsene Organisationen finden wir auch in Start-up-Unternehmen. Allerdings sehen hier die Partner häufig noch die Vorteile der hohen Informalität: jeder kennt jeden, gearbeitet wird auf Zuruf und gemacht wird, was notwendig ist. Dennoch kommen diese Unternehmen regelmäßig an Grenzen, wo Informalität plötzlich als Chaos beschrieben und mehr Struktur eingefordert wird. Wir sehen den Holakratie-Ansatz als geeignet, für einen längeren Zeitraum diese Strukturentwicklungsprozesse zu unterstützen. Wenn man das Prinzip beachtet, durch mehr Struktur müssen Spannungen reduziert werden, dann wird man hoffentlich auch erst beginnen, wenn sich Spannungen ankündigen, also nicht von „Tag 1“ an.

Und schließlich halten wir die Idee der evolutionären, kontinuierlichen Organisationsentwicklung interessant für jedes Unternehmen. Jedes Unternehmen kommt früher oder später an den Punkt, wo es Strukturen überdenkt. Viele Unternehmen arbeiten dann mit einer „Big-bang-Logik“. Bis zum Tag X arbeiten alle (oder ein paar Experten) an der Suche nach der einzig wahren Organisationslösung und danach soll sich jeder an diese halten. Es gibt aber nicht die einzige wahre Struktur und deshalb bilden sich nach dem Tag X pragmatische, informelle Nebenstraßen um vermeintlich sinnvolle Standards. Wenn man statt Tag X einen Zeitraum X1 bis X2 definiert und auch darüber hinaus die Möglichkeit bietet, neu entstehende Spannungen durch Organisationsanpassungen abzubauen, dürfte die Akzeptanz für die formelle Organisation deutlich höher sein.

Der Holakratie-Ansatz fokussiert sich auf die Gestaltung der Organisation als soziales System. Alle Regeln und Instrumente sind auf das Zusammenwirken von Rollen, die Menschen ausfüllen, ausgerichtet. Viele Unternehmen müssen aber als Systeme betrachtet werden, in denen das Zusammenwirken von Menschen mit Menschen und von Menschen mit Technik oder zukünftig sogar Technik mit Technik gestaltet werden muss. Zielstellungen für Organisationsprojekte beziehen sich in diesen Unternehmen nicht primär auf das Zusammenwirken von Menschen, sondern häufig auf technikgetriebene Prozesslösungen für neue Geschäftsmodelle oder Effizienz- und Produktivitätssteigerungen. Obwohl der Holakratie-Ansatz dafür sicher nicht alle Instrumente und Konzepte bereitstellt, kann er als Teil umfassenderer Ansätze vielleicht verhindern, dass die „Entfaltungsmöglichkeiten der Mitarbeiter“ und der in vielen Leitbildern beschworene „Mensch im Mittelpunkt“ zu schnell aus dem Blick geraten.

7 Glossar zum Holakratie-Ansatz

Da die Anzahl der Stichworte überschaubar ist, erfolgt die Aufzählung nicht alphabetisch, sondern in einer Reihenfolge, die das Verständnis zum Zusammenwirken der Teil-Konzepte unterstützen soll.

Holacracy Constitution (Verfassung / Manifest) ist ein Dokument, in dem alle Strukturelemente der Organisation definiert sind, ebenso wie die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse zur Bildung und Auflösung von Strukturen aus diesen Elementen. Das Dokument dient als oberstes „Gesetz“ der Organisation.

Partner: Alle Mitglieder oder Beschäftigten einer Organisation.

Rollen sind Ausdruck der Arbeitsteilung in der Organisation. Sie sind jeweils durch Zweck, Zuständigkeitsbereiche und Aufgabenverantwortung definiert. Sie werden auf Partner der Organisation übertragen. Die Rollenwahrnehmung erfolgt weitgehend autonom, also ohne Eingriffe und Kontrolle durch Dritte, z. B. Führungskräfte. Allerdings sichert eine -> Transparenzpflicht das Zusammenwirken in der Organisation. Ein Partner kann mehrere Rollen übernehmen.

Projekte und nächste Schritte (next actions) sind konkrete Festlegungen, wie der Zweck und die Aufgaben innerhalb einer Rolle erfüllt werden.

Policies (Richtlinien): Für eine Rolle kann durch den Rollen-Besitzer (Partner) eine Policy definiert werden, die den Umgang mit dem Zuständigkeitsbereich der Rolle für Andere regelt.

Spannungen (tensions) sind Ausdruck von Organisationslücken, Konflikten und Hindernissen, die das Ausfüllen einer übernommenen Rolle erschweren oder gar unmöglich machen. Spannungen werden von Rollenverantwortlichen benannt und sind die wesentlichen Treiber für die Weiterentwicklung der Organisation.

Kreise (circle) gehen aus Rollen hervor, die weiter untergliedert werden müssen. Aus der Aufspaltung einer Rolle ergibt sich ein Kreis, der den Zweck, den Zuständigkeitsbereich und die Aufgaben aus dieser Rolle auf weitere Rollen spezifizieren und verteilen darf. Definiert ein Kreis eine spezifische Rolle und übergibt diese an einen Partner, dann übergibt er damit die gesamte Verantwortung für den Zweck, Zuständigkeitsbereich und Aufgaben an diese Rolle. D. h., die Rollenwahrnehmung erfolgt autonom ohne Eingriffe und Kontrolle aus dem Kreis. Der Kreis kann allerdings beschließen, dass eine Rolle modifiziert oder wieder aufgelöst wird.

Übergeordneter Kreis (Super-Circle): Kreis, der andere Kreise und andere Rollen enthält. Der oberste Kreis einer Organisation ist der Anchor Circle.

Untergeordneter Kreis (Sub-Circle): Kreis, der zu einem anderen Kreis gehört und aus der Aufspaltung einer Rolle hervorgegangen ist.

Kreismitglieder (circle members): Alle die Partner, die eine Rolle innerhalb eines Kreises wahrnehmen, sind Mitglieder des Kreises, was zur Teilnahme an den Meetings des Kreises und entsprechenden Entscheidungsprozessen berechtigt.

Spezielle Rollen: Zur Sicherung einer ähnlichen Arbeit in Kreisen und deren Weiterentwicklung sind spezifische Rollen definiert, die z. T. per Festlegung und z. T. per Wahl an Partner übergeben werden. Spezifische Rollen sind

  • Lead Link

  • Rep Link (gewählt)

  • Cross Link

  • Facilitator (gewählt)

  • Secretary (gewählt)

Lead Link hat den Zuständigkeitsbereich „Rollenzuweisung innerhalb eines Kreises“. Weist zu oder organisiert die Zuweisung von Rollen zu Partnern ebenso wie die Rücknahme von Rollenzuweisungen. Er vertritt alle Zuständigkeiten des Kreises, die nicht an spezifische Rollen vergeben sind. Er macht strategische Vorgaben insb. für die Priorisierung von Projekten und next steps innerhalb des Circles. Greift nicht in die Rollenwahrnehmung ein, sofern eine Rolle einmal einem Partner zugewiesen ist.

Rep Link wird von seinem Kreis gewählt und vertritt seinen Kreis im übergeordneten Kreis, d. h. bringt dort Themen (= Spannungen) ein, die die Arbeit des eigenen Kreises beschränken, damit diese in den entsprechenden Meetings bearbeitet werden.

Cross Link stellt die Arbeit seines Kreises in anderen Kreisen dar, sofern er dafür eine Einladung erhält. Er kann dann Spannungen einbringen, die die Zusammenarbeit aus Sicht seines Kreises beschränken.

Facilitator wird von seinem Kreis gewählt. Organisiert und moderiert die Organisations- und operativen Meetings seines Kreises. Er fungiert als Eskalationsstelle, indem er feststellt, wenn eine Spannung trotz Bemühung nicht auflösbar ist (-> break down). Er organisiert die Wahl der zu wählenden Rollen.

Secretary wird von seinem Kreis gewählt. Protokolliert die Organisations- und operativen Meetings. Interpretiert die Constitution (Verfassung, Manifest) bei Bedarf.

Governance Process. Dieser führt für jeden Kreis in einer Organisation zur Festlegung oder Änderung von Rollen, von Unter-Kreisen (Sub circles) und von Richtlinien (Policies), die in ihrem Zusammenwirken die Erfüllung des Zweckes eines Kreises ermöglichen. Sogenannte Spannungen (tensions) werden als Ausdruck von Veränderungsbedarf gesehen und dienen als Ausgangspunkt für Veränderungen in der Governance (neue Rollen, neue Policies). Wesentliche Elemente des Governance Process sind zwei Meetings, eines mit mittel- und langfristigen Fokus (-> Governance Meetings) und eines mit operativem bzw. kurzfristigem Fokus (-> Tactical Meetings).

Governance Meetings (Organisationsmeetings) dienen der mittel- und langfristigen Festlegung, Ausdifferenzierung und Auflösung von Rollen. Grundlage sind Themen (= Spannungen), die alle Teilnehmer des Meetings einbringen können und die in einem -> integrativen Entscheidungsprozess zu Lösungen geführt werden. Das Meeting wird vom Facilitator eines Kreises geleitet. Gleichberechtigte Teilnehmer sind Rolleninhaber des Kreises, Rep Links und Cross Links. Die Rolle des Secretary führt ein Protokoll (governance minutes), idealerweise unter Nutzung einer entsprechenden Datenbank, z. B. -> glass frog.

Integrativer Entscheidungsprozess: Dient der Bearbeitung jeweils eines Themas (= Spannung) im Governance Meeting. Mit dieser Methode werden für Themen jeweils einzeln Lösungsvorschläge generiert, diese werden diskutiert, Einwände und Risiken werden berücksichtigt und über Lösungen wird abschließend entschieden.

Glass frog: Eine Datenbank der Holacracy.org zur Protokollierung und Nachvollzug des Governance Processes und daraus folgender Rollenfestlegungen und Richtlinien (policies).

Breakdown: Wenn eine Spannung trotz Bearbeitung im integrativen Entscheidungsprozess nicht in eine Lösung geführt werden kann oder nur Lösungsvorschläge möglich scheinen, die der Constitution (Verfassung, Manifest) widersprechen, dann kann der Facilitator den Breakdown feststellen. In der Regel wird dann der Facilitator des übergeordneten Kreises ein Projekt aufsetzen, um dennoch eine Lösung zu finden.

Operativer Prozess: Dieser dient der realen Erfüllung eines Zweckes durch Zuständigkeiten und Aufgaben. Jeder Rollenverantwortliche hat dazu bestimmte Pflichten zu erfüllen. Zudem gibt es ein spezielles Meeting für operative Bedarfe, das sogenannte -> Tactical Meeting.

Pflichten für Rollen (Duties of Circle Members): Mit einer Reihe von Pflichten wird das Zusammenwirken, der ansonsten autonom agierenden Rollen, gesichert:

  • Pflicht zur Transparenz über den Stand laufender Projekte, Priorisierung von Projekten und Aufgaben, erwartete Fertigstellung von Projekten und Aufgaben (aber ohne verbindliche Terminfestlegung !) und den Bearbeitungsstand periodisch wiederkehrender Aufgaben inkl. Kennzahlen.

  • Pflicht zur Beantwortung von Anfragen:Anfragen aus anderen Rollen für Projekte oder bestimmte Aufgaben müssen zeitnah erfolgen. Kurz gesagt geht Circle-Interesse vor Rollen-Interesse.

  • Pflicht zur Priorisierung: Obwohl keine verbindliche Fertigstellungsplanung für Aufgaben und Projekte vorgesehen ist, muss dennoch die Priorisierungslogik für diese Aufgaben und Projekte nachvollziehbar sein. Ebenso müssen Anfragen aus anderen Projekten mit Priorität beantwortet werden bzw. an anberaumten Meetings teilgenommen werden. Wiederum geht Circle-Interesse vor Rollen-Interesse.

Tactical Meetings (operative Meetings) dienen dem strukturierten Austausch über die Pflichten der Rollen (Transparenz über Aufgaben und Projekte, Stand periodischer Aufgaben und Kennzahlen). Zudem werden Spannungen bearbeitet, die evtl. keine langfristige Lösung über das Governance Meeting brauchen, aber dennoch zeitnah bearbeitet werden müssen, damit die Arbeit möglichst reibungslos erfolgt. Das Meeting wird durch den Facilitator geleitet und durch den Secretary protokolliert.

Individual Actions (Ausnahmen außerhalb von Rollenfestlegungen): Handlungen ohne Grundlage aus Rollendefinitionen oder Policies, die aber unter bestimmten Bedingungen gestattet sind, um größere Risiken oder spätere unverhältnismäßige Aufwände zu vermeiden.