Egon Krenz legt Erinnerungen vor: Gedächtnisstütze für Diktatursozialisierte

Egon Krenz legt Erinnerungen vor: Gedächtnisstütze für Diktatursozialisierte

Vom Flüchtlingskind zum Spitzenfunktionär: Der Vertreter der Generation Bau-auf-bau-auf gibt Privates und einige Staatsgeheimnisse preis.

Egon Krenz 1952 als Vorsitzender der Pionierfreundschaft „Geschwister Scholl“ in Damgarten. Jetzt hat er den ersten Teil seiner Lebenserinnerungen vorgelegt.
Egon Krenz 1952 als Vorsitzender der Pionierfreundschaft „Geschwister Scholl“ in Damgarten. Jetzt hat er den ersten Teil seiner Lebenserinnerungen vorgelegt.Archiv Egon Krenz/Verlag Edition Ost

Erinnerungsbücher hat Egon Krenz (85) schon einige verfasst: über seine Haftzeit, seine Sicht auf China und die Sowjetunion. Immer bewies er ein brillantes Gedächtnis für historisch wichtige Details, und er verfügt über ein offenbar reichhaltiges Archiv, das seine Erinnerungen stützt. So darf man getrost davon ausgehen, dass auch seine soeben erschienenen Erinnerungen „Aufbruch und Aufstieg“ einen faktenreichen Beitrag zum Verständnis liefern, wie Macht in der DDR funktionierte.

Es geht um die Jahre von seiner Geburt 1937 in Kolberg (heute Kołobrzeg) bis zum Beginn der Honecker-Ära 1973. Ältere werden bemerken: Hier werden wichtige Teile des eigenen Lebens erklärt. Warum sollte man doch als Jugendlicher um 1970 keine Jeans oder lange Haare tragen, keine Rock-Musik hören? Krenz kann dazu berichten.

Wie der Blick ins Familienalbum

Die privaten Fotos, die Egon Krenz zum Buch beisteuerte, gleichen denen in Hunderttausenden DDR-Familienalben: Pionierzeit, Sport, NVA, Jugendfahrten, Hochzeit – die heutige Enkelgeneration kann schon dadurch einen Eindruck gewinnen, wie ihre Großeltern ihr Zuhause nach dem Krieg neu einrichteten – die Bau-auf-bau-auf-Generation. Egon Krenz steht für sie wie kein Zweiter.

Konzentriert, ungeschwätzig und sprachsicher geht es durch Kindheit und Jugend. Die war  – wie für die meisten seiner Generation – nicht gerade komfortabel: Flucht mit der alleinerziehenden, mittellosen Mutter, neue Existenz in Ribnitz-Damgarten. Krenz schreibt, dass er das erste Bett mit Matratze im Lehrlingswohnheim in Rostock erlebte – und die erste Dusche. Bis dahin gab’s Strohsack und Waschschüssel. Die Mutter hatte ihren ersten Mann im Ersten Weltkrieg verloren, den Vater von Egon im Zweiten. Gelassen betrachtet der Sohn seine Entdeckung, er sei als nichteheliches Kind geboren.

Egon Krenz und seine Frau Erika heirateten am 8. April 1961.
Egon Krenz und seine Frau Erika heirateten am 8. April 1961.Archiv Egon Krenz/ Verlag Edition Ost

Die Lebensumstände trugen dazu bei, dass er als frühreifer Junge schnell in die Politik geriet. Natürlich gibt es auch Skurriles: So führte ihn ausgerechnet ein missratener Wahlkampfeinsatz für die CDU in die Politik, und ein illegaler Grenzübertritt Richtung Sylt zum Entschluss, die Zukunft im Osten zu suchen. Als intelligenter, energiegeladener Schüler und Pionier in Ribnitz-Damgarten und als FDJler während des Lehrerstudiums in Putbus/Rügen entsprach er genau dem Bild, das sich die SED-Altgenossen vom künftigen DDR-Kader machten.

Rascher Aufstieg an die Spitze

Der Weg als FDJ-Funktionär bis in die Parteispitze verlief schnell, folgerichtig, bruchlos. Krenz beschreibt sich als durch und durch politischen Menschen, auch im Privaten – selbst die ersten romantischen Mädchenabende im Putbuser Park habe er zur Agitation genutzt. Zwischen seiner großen Liebe und Frau Erika gab es offensichtlich eine Seelenverwandtschaft, die über alle schwierigen Zeiten hinweg trug.

Das köstliche Buchcover-Bild zeigt Egon Krenz als Pionier, doch der erste Teil der Erinnerungen bietet nicht bloß Jugendanekdoten, bald geht das Buch über in harte Politik – natürlich aus der Perspektive eines DDR-Spitzenfunktionärs, der seinen Ideen von den Möglichkeiten einer sozialistischen Gesellschaft treu geblieben ist. Asche lässt er nicht aufs eigene Haupt regnen, durchaus aber selbstkritische Betrachtungen.

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Archiv Egon Krenz/ Verlag Edition Ost
Das Buch
Autor: Egon Krenz

Titel: Aufbruch und Aufstieg – Erinnerungen

Umfang: 320 Seiten

Preis: Buch 24 Euro, eBook 19,99 Euro

Vor allem Diktatursozialisierte aus dem Osten können Kapitel für Kapitel eigene Lebenserfahrungen abgleichen mit dem, was Krenz nun von „ganz oben“ berichtet – also von dort, wo über das Leben von unsereinem entschieden wurde. Warum geschahen Dinge, die man sich seinerzeit nicht erklären konnte? Warum durften Bücher wie „Fünf Tage im Juni“ von Stefan Heym über die Ereignisse von 1953 nicht erscheinen? Warum wurde Walter Ulbricht abgesetzt? Was war los, als Willy Brandt Erfurt besuchte? Wie viel Eigensinn konnte sich die DDR-Führung gegenüber der jeweiligen Kreml-Führung leisten?

Egon Krenz verfügt durch persönliche Erfahrungen und durch Einsicht in geheimste Dokumente über erhebliches Wissen darüber, wie in der DDR-Führung gestritten und entschieden wurde. Einiges davon teilt er in seinem Buch mit, darunter zahlreiche bislang nie gelesene Informationen. So lässt sich das in den vergangenen 32 Jahren durch westdominierte Medien geformte Bild über das angebliche Dasein der Ossis aus anderer Perspektive betrachten und prüfen. Gelegentlich gehen beim Lesen Kronleuchter auf.

Staunen stellt sich vor allem ein, wenn brisante Berichte aus einem hochgeheimen Aktenkonvolut aus Honeckers Panzerschrank preisgegeben werden. Darunter befand sich ein nur in zwei Exemplaren vorhandenes Protokoll einer Sitzung des engsten Führungskreises von KPdSU und SED Anfang Juni 1953. Stalin war kurz zuvor gestorben. Jetzt wollte Berija, berüchtigter Geheimdienstchef und Organisator der „Säuberungen“, einen „Neuen Kurs“.

Geheimdokument über Hintergründe des 17. Juni

Erich Honecker gab Krenz das Papier im Frühjahr 1989 zu lesen, um dessen „Illusionen über die Sowjetunion“ zu beseitigen. Laut Honecker hätten Berija und seine Leute den Aufstand vom 17. Juni 1953 (zwei Wochen nach dem Treffen) provoziert. Für seine Pläne habe Berija in der DDR Chaos und in der politischen Führung Desorientierung gebraucht. Ohne dies, so Honecker, „wäre es nie zum Einsatz sowjetischer Panzer gekommen“, und der damals „angerichtete Schaden begleitet uns bis heute“. Neun Tage nach dem 17. Juni wurde Berija in Moskau verhaftet und später hingerichtet.

Honeckers Mappe enthielt auch eine Fülle handschriftlicher Notizen, die er nach vertraulichen Begegnungen angefertigt hatte. Sie künden von Machtkämpfen und Intrigen im SED-Apparat. Von immer neuen Konflikten mit den Sowjets und so fort. Bei der Lektüre fällt man von einer Verblüffung in die nächste.

Unterwegs im Sommer 1973 mit Erich Honecker während der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten.
Unterwegs im Sommer 1973 mit Erich Honecker während der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten.Archiv Egon Krenz/Verlag Edition Ost

In die Kritik an der Ära Honecker bezieht Krenz sich ein: „Er scheiterte wie wir alle, die Verantwortung trugen, an der objektiv gewachsenen Unfähigkeit des sozialistischen Weltsystems, mit der Produktivkraftentwicklung des Westens mitzuhalten. Wir vermochten es nicht, die sozialistische Alternative einer in jeder Hinsicht freien Entwicklung der Gesellschaft und des Einzelnen zu schaffen.“

Der Autor hält seinen sachlich-erklärenden Ton durch, auch dort, wo er über die Aktionen der Bundesrepublik zur Schwächung der DDR schreibt. Egon Krenz gibt viele informative Antworten und regt zum Nachdenken an. Manches bleibt offen und wird womöglich in Band zwei ergänzt.