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Geschichte Sensationeller Akten-Fund

So wollte China 1989 in letzter Minute die DDR retten

Als die DDR-Wirtschaft 1989 wegen der Ausreisewelle zu kollabieren drohte, machte die chinesische Führung den SED-Genossen ein großzügiges Angebot. In einem Konvolut im Auswärtigen Amt findet sich der brisante Plan.
Leitender Redakteur Geschichte
Der 24-jährige Yang Gishang gehörte zu den 388 Chinesen, die schon seit 1987 in der DDR arbeiteten – eine unbestimmte Anzahl weiterer Arbeiter sollte ihm 1989 folgen Der 24-jährige Yang Gishang gehörte zu den 388 Chinesen, die schon seit 1987 in der DDR arbeiteten – eine unbestimmte Anzahl weiterer Arbeiter sollte ihm 1989 folgen
Der 24-jährige Yang Gishang gehört zu den 388 Chinesen, die schon seit 1987 in der DDR tätig waren
Quelle: Bundesarchiv_Bild_183-1987-0831-002,_Dessau,_Auszubildener_aus_China

Wahre Loyalität zeigt sich in der Not. Dieses Prinzip kennen Kommunisten ebenso wie andere Menschen, und ihrer Ideologie nach sind sie verpflichtet, sich daran besonders strikt zu halten. Vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin freigegebene Dokumente aus dem früheren Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA) belegen, dass und wie Chinas Machthaber im Herbst 1989 die Herrschaft ihrer Genossen in Ost-Berlin retten wollten. WELT konnte 2019 als erstes Medium Einblick in das Konvolut nehmen, in dem es um gelebte kommunistische Loyalität geht.

Grund genug dafür hatte die Führung der chinesischen Kommunisten um Deng Xiaoping. Denn nachdem sie am 3. und 4. Juni 1989 die Freiheitsbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens brutal niedergeschlagen hatte, wobei vermutlich etwa 2000 Demonstranten ihr Leben verloren, hatte die SED den Genossen im Reich der Mitte ostentativ die Treue gehalten. Egon Krenz, zu dieser Zeit noch Kronprinz der ostdeutschen Kommunisten, stellte schon am 7. Juni bei einem Besuch in Saarbrücken fest, in Peking sei „etwas getan worden, was die Ordnung wiederherstellt“ – vor laufenden Kameras des Saarländischen Rundfunks.

Einen Tag später verabschiedete die DDR-Volkskammer eine Solidaritätsadresse. Die chinesische „Volksmacht“ habe sich gezwungen gesehen, „Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wiederherzustellen“. Zu den Opfern hieß es, „bedauerlicherweise“ seien „zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen“. Die Abgeordneten des Pseudoparlaments applaudierten.

Am 12. Juni versicherte DDR-Außenminister Oskar Fischer seinem chinesischen Kollegen Qian Qichen die „Solidarität und Verbundenheit mit der Volksrepublik China und dem chinesischen Brudervolk“. Beide Chefdiplomaten kritisierten „die in jüngster Zeit verstärkten Versuche entspannungsfeindlicher Kräfte, den Sozialismus zu destabilisieren“ – ein klarer Hinweis auf das Massaker in Peking.

Titelseite Neues Deutschland vom 2.Oktober 1989 zur Geschichte China will die DDR retten
Das SED-Blatt "Neues Deutschland" feierte den Besuch von Egon Krenz in China am 2. Oktober 1989
Quelle: Archiv

Drei Monate später kam Krenz, als für Sicherheitsfragen zuständiger Sekretär des ZK der SED einer der drei mächtigsten Männer in der DDR, zu einer offiziellen Visite nach Peking. Hier bestätigte er den Genossen gern, dass man „auf der Barrikade der sozialistischen Revolution“ in der DDR wie in China dem gleichen Gegner gegenüber stehe.

Ende Oktober 1989 war es nun an der Volksrepublik China, sich für diese bewiesene Loyalität erkenntlich zu zeigen. Denn die SED-Führung war in den Wochen seit Krenz’ Besuch in immer größere Schwierigkeiten geraten. Mehr als hunderttausend DDR-Bürger, meist jung und gut ausgebildet, hatten seit dem Sommer über Ungarn und die Tschechoslowakei ohne Genehmigung den Arbeiter-und-Bauern-Staat verlassen. Auch nachdem Krenz am 17. Oktober 1989 den greisen Generalsekretär Erich Honecker gestürzt und sich selbst an seine Stelle gesetzt hatte, stabilisierte sich die Lage nicht.

„Führung KP Chinas bereit, alles Mögliche zu tun“

Die Lage dürfte den chinesischen Kommunisten als gute Gelegenheit erschienen sein, die bewiesene Loyalität zu erwidern (und damit zugleich der ungeliebten Glasnost-und-Perestroika-Politik des sowjetischen Partei- und Staatschefs Michail Gorbatschow eins auszuwischen). Jedenfalls rief am 27. Oktober 1989 der chinesische Minister für Wohnungsbau, Lin Hanxiong, den DDR-Botschafter in Peking, Rolf Berthold, zu sich. Der Minister hatte in anderer Funktion 1982 Ost-Berlin besucht, um nach jahrelanger Funkstille zwischen den beiden Regimes eine Verbesserung der Beziehungen einzuleiten. Nun war es an Lin Hanxiong, ein Angebot zu machen.

Das Blitztelegramm des DDR-Botschafters in Peking, Rolf Berthold, mit dem Angebot an die SED-Führung
Das Blitztelegramm von Botschafter Berthold aus Peking mit dem brisanten Angebot der chinesischen Kommunisten an die DDR (PAAA Bestand M 34- ZR 591/03)
Quelle: Auswärtiges Amt / Politisches Archiv

In den Akten findet sich ein stichwortartiger Bericht von Botschafter Berthold, in dem es heißt: „Lin äußerte, dass Schicksal des Sozialismus in der DDR von strategischer Bedeutung für Weltsozialismus, nicht zuletzt für Möglichkeit Sieg Sozialismus in China. Führung KP Chinas sei bereit, alles Mögliche zu tun, um Sicherung Sozialismus in der DDR zu unterstützen.“

„Verrechnung könne in Warenlieferungen erfolgen“

Dann machte der Minister ein klares Angebot: „Angesichts komplizierter Arbeitskräftelage in DDR könnte China von DDR gewünschte Anzahl und gewünschte Qualifikation an Arbeitskräften zur Verfügung stellen.“ Lin entkräftete vorausschauend den absehbaren Einwand des DDR-Diplomaten: „VR China erwarte keine Bezahlung in Devisen, da es sich um politische Hilfe handeln würde. Verrechnung könne in Warenlieferungen erfolgen.“

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China sei bereit, sehr schnell aktiv zu werden; Lin könne kurzfristig nach Ost-Berlin reisen. Er erbitte aber vor der nächsten Sitzung des Zentralkomitees der chinesischen KP Anfang November 1989 die „Meinung DDR“.

Botschafter Berthold, sicher einer der führenden Fernostexperten des DDR-Außenministeriums und seit 1982 auf Posten in Peking, erkannte die Bedeutung dieses Gespräches natürlich. Er verfasste seinen Bericht und schickte ihn als Blitztelegramm direkt an „Genosse Egon Krenz“, das am 27. Oktober 1989 bald nach 14 Uhr die DDR-Botschaft in Peking verließ.

Fünf Wochen später war die Mauer Geschichte

Der Weg in den Westen führte im Herbst 1989 für Tausende DDR-Flüchtlinge über Prag. Bei der Erinnerung daran kommen vielen Zeitzeugen heute noch Tränen. Es war praktisch der erste Stein, der aus der Mauer gebrochen wurde.

Quelle: WELT/Thomas Vedder

Doch Egon Krenz hatte an diesem Freitag viel zu tun. Er leitete eine Sitzung des Staatsrates, des kollektiven Staatsoberhauptes der DDR, der „Straftaten des ungesetzlichen Grenzübertritts sowie der widerrechtlichen Durchsetzung der Ausreise aus der DDR“ amnestierte. Außerdem sandte er Glückwünsche an die CSSR sowie an die Türkische Republik und bereitete seinen bevorstehenden Antrittsbesuch in Moskau vor.

Vermutlich wegen dieses vollen Terminkalenders befasste sich Krenz erst am 28. Oktober mit dem Blitztelegramm aus Peking. Jedenfalls unterstrich er an diesem Samstag die wesentlichen Sätze der Mitteilung und schickte das Original weiter an Willi Stoph, den DDR-Ministerpräsidenten – versehen mit der Bemerkung „Erbitte Vorrang“. Nun war der chinesische Vorschlag eingespeist in die Staatsverwaltung der SED-Diktatur.

Stoph setzte gleich am Montag, dem 30. Oktober 1989, seine Paraphe auf das Telegramm und informierte Krenz am selben Tag per förmlich-freundlichem Brief mit vollem Briefkopf und der Anrede „Lieber Egon“ über seinen Vorschlag. „Soforttelegramm an unseren Botschafter in Peking mit folgendem Inhalt: ,DDR-Parteiführung und Regierung danken für die Bereitschaft der Führung der KP Chinas, die DDR mit Arbeitskräften zu unterstützen. Die DDR-Führung lädt Genossen Lin Hanxiong zu einem baldigen Besuch der DDR ein, um mit den zuständigen Organen der DDR konkrete Absprachen zu treffen.‘“

„Wollten diese Diktatur beseitigen“ – Hier begann der Sturz der DDR

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Quelle: WELT / Nadine Mierdorf

Stoph setzte seinem Vorschlag hinzu: „Wenn Du einverstanden bist, bitte ich Dich, die Absendung dieses Telegramms zu veranlassen.“ Er werde eine „Konzeption für die zu führenden Gespräche“ in Auftrag geben.

Doch die Bürokratie brauchte auch in der DDR ihre Zeit. Erst einen Tag später schickte Stoph eine überarbeitete Version der Antwort zur Übermittlung nach Peking an Außenminister Fischer: „Das Politbüro des ZK der SED und der Ministerrat der DDR danken für die Bereitschaft, die DDR durch Entsendung von chinesischen Arbeitskräften zu unterstützen.“ Bei der Einladung blieb es, um „die notwendigen Vereinbarungen für den Einsatz chinesischer Arbeitskräfte in der DDR treffen zu können“.

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Doch trotz der Bemerkung „Eilt“ in roter Farbe traf dieser Brief erst am 1. November 1989 im Ministerbüro des MfAA ein – dabei betrug die Entfernung zwischen Stophs und Fischers Dienstsitzen gerade einmal zehn Minuten zu Fuß. Dann ging die Antwort vermutlich direkt nach Peking ab; darüber haben sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, das die 26 laufenden Aktenkilometer Hinterlassenschaft der DDR-Diplomatie verwahrt, allerdings keine Unterlagen erhalten.

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Quelle: WELT

Parallel mit der Formulierung der Antwort hatte sich Oskar Fischer bereits am 30. Oktober 1989 von dem Leiter der MfAA-Abteilung Ferner Osten Klaus Zorn über „chinesische Arbeitskräfte in der DDR“ informieren lassen. Aus „außenpolitischer Sicht“ gebe es keine Einwände, hatte der 55-jährige Diplomat mitgeteilt: „Die gegenwärtig im VEB Kombinat Schienenfahrzeugbau tätigen 918 chinesischen Arbeitskräfte haben nach Auskunft der dafür verantwortlichen Spezialisten gut gearbeitet.“

Allerdings sollten keine „pauschalen Zusagen für den zusätzlichen Einsatz chinesischer Arbeitskräfte ohne vorherige konkrete Prüfung der Bedingungen“ gegeben werden. Zorn riet, „auch künftig objektgebunden nach dem Prinzip der Beschäftigung und Qualifizierung“ vorzugehen.

Ausweislich seines Berichts hatte Zorn den eigentlichen Gehalt des chinesischen Angebots nicht verstanden. Denn es ging der KP Chinas ja nicht darum, Arbeitskräfte durch den Einsatz in der DDR zu qualifizieren. Im Gegenteil hatte Lin Hanxiong angeboten, „gewünschte Anzahl und gewünschte Qualifikation an Arbeitskräften“ zur Verfügung zu stellen. Die Genossen in Peking zeigten sich also bereit, jene Lücken zu stopfen, die die Massenflucht gerade in die Reihen jüngerer DDR-Beschäftigter gerissen hatte.

Arbeiter aus anderen sozialistischen Staaten, sogenannte Vertragsarbeiter, beschäftigten die DDR-Betriebe schon seit Mitte der 1960er-Jahre. Einerseits weil es Arbeitskräftemangel gab, andererseits für monotone und körperlich harte Tätigkeiten, die DDR-Bürger nicht verrichten wollten und für die nicht genügend Strafgefangene zur Verfügung standen.

Als das SED-Regime 1988 ins Wanken geriet, lebten etwa 93.500 solche Arbeitskräfte in Ostdeutschland, fast immer kaserniert in einfachen Wohnheimen. Rund 59.000 von ihnen stammten aus Vietnam, weitere 15.000 aus Mosambik und 8300 aus Kuba. Sie erlebten vielfach Alltagsrassismus und teilweise Übergriffe durch Rechtsextremisten; mindestens zwölf Menschen wurden von „völkisch“ aufgehetzten Ostdeutschen getötet.

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Die 918 chinesischen Vertragsarbeiter in der DDR hatten wohl keine so extreme Probleme. Aber zum Beispiel die 388 von ihnen, die wie Yang Gishang im VEB Waggonbau Dessau tätig waren, galten als Fremde. Sie feierten zu laut, kochten seltsam und seien „in Schlafanzügen einkaufen gegangen“. Ohnehin wäre das den Spitzengenossen in Peking wohl gleichgültig gewesen. Sie wollten mit ihrem Angebot der DDR helfen, den existenzbedrohenden Mangel bei qualifizierten Arbeitskräften zu überwinden. Dazu war die KP Chinas bereit, auf die sonst auch zwischen „sozialistischen Bruderländern“ oft übliche Bezahlung in westlichen Währungen zu verzichten und stattdessen Warenlieferungen anzunehmen.

Willi Stoph informierte die Mitglieder des DDR-Ministerrates bei der nächsten Sitzung am 2. November 1989 offiziell über das Angebot aus China; darüber wurde auch Egon Krenz informiert – die bisher einzige, allerdings unbeachtete Spur dieses Angebots. Erst dem Historiker Hans-Hermann Hertle fiel bei nochmaliger Durchsicht von Akten im Berliner Bundesarchiv für die aktuelle Neuausgabe seines Buches zum Mauerfall („Sofort, unverzüglich“. Ch. Links Verlag, Berlin. 368 S., 20 Euro) die entsprechende SED-Hausmitteilung auf.

Doch die wirklichen Hintergründe wurden erst durch anschließende Recherchen des vom Bundesarchiv unabhängigen Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes auf Anfrage von WELT greifbar. Für die Veröffentlichung genau drei Jahrzehnte nach dem Vorgang wurde die grundsätzlich 30-jährige Schutzfrist für diplomatische Akten, die an sich erst am 1. Januar 2020 ausgelaufen wäre, verkürzt. Damit wird dieses Angebot Chinas jetzt zum ersten Mal im Detail bekannt.

„Wollten diese Diktatur beseitigen“ – Hier begann der Sturz der DDR

Leipzig gedenkt mit Kerzen am 30. Jahrestag den „Wir sind das Volk“-Protesten, die den Weg zum Mauerfall ebneten. Zeitzeuge Reinhard Bohse berichtet über die emotionale, friedliche Demonstration von 1989.

Quelle: WELT / Nadine Mierdorf

Es blieb ungenutzt. Die Sitzung des Ministerrates am 2. November 1989 war die vorletzte unter Leitung von Stoph, denn fünf Tage später trat die bisherige DDR-Regierung zurück. Die Massenflucht, deren Folgen für die DDR die chinesische KP-Führung mit Leiharbeitern zu lindern angeboten hatte, weitete sich zur Friedlichen Revolution aus. Das „Schicksal des Sozialismus in der DDR“ war besiegelt.

Es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass die Solidaritätsadressen der DDR nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die ja nicht zuletzt das großzügige Hilfsangebot aus China provoziert hatten, zum moralischen Niedergang des SED-Regimes und zu seinem Sturz beigetragen hatten. Die Volksrepublik China zog aus dessen Scheitern indes ihre Schlüsse – und kreierte in den folgenden Jahren ein Mischsystem aus radikalkapitalistischer Wirtschaft und kaderkommunistischer Politik. Es hat aus dem einstigen Entwicklungsland die zweitstärkste Macht der Welt gemacht.

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Dieser Artikel wurde erstmals im November 2019 veröffentlicht.

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