Egon Bahrs Grundsatzrede 1963: Wandel durch Annäherung? - WELT
Newsticker
Schlagzeilen, Meldungen und alles Wichtige
Die Nachrichten heute: Newsticker, Schlagzeilen und alles, was heute wichtig ist, im Überblick.
Zum Newsticker
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Egon Bahrs Grundsatzrede 1963: Wandel durch Annäherung?

Geschichte Egon Bahrs Grundsatzrede 1963

„Aber unsere Polizei darf nicht zurückschießen“

Sollte man auf die Feinde der Freiheit zugehen? Im Sommer 1963 hielt Egon Bahr seine wegweisende Rede über „Wandel durch Annäherung“. Sie veränderte die Deutschland- und Ostpolitik von Grund auf. Eine Analyse.
Textchef ICON / Welt am Sonntag
In Begleitung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt (l), steht der amerikanische Justizminister Robert Francis Kennedy am 22.2.1962 auf einer Aussichtsplattform direkt an der Berliner Mauer. Der demokratische Politiker war kurz zuvor in Berlin eingetroffen und nahm zum ersten Mal den 1961 von der DDR errichteten Antifaschistischen Schutzwall in Augenschein. | Verwendung weltweit In Begleitung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt (l), steht der amerikanische Justizminister Robert Francis Kennedy am 22.2.1962 auf einer Aussichtsplattform direkt an der Berliner Mauer. Der demokratische Politiker war kurz zuvor in Berlin eingetroffen und nahm zum ersten Mal den 1961 von der DDR errichteten Antifaschistischen Schutzwall in Augenschein. | Verwendung weltweit
Annährung mit den Mauerbauern? Diese Frage stellten sich 1962 wohl auch Willy Brandt und US-Justizminister Robert Kennedy beim Besuch der Berliner Mauer
Quelle: picture-alliance / dpa

Die beste Methode, eine Rede vor übergroßen Erwartungen zu bewahren, besteht darin, am Anfang tiefzustapeln. Und was immer man sonst über Egon Bahr (1922–2015) sagen mag, diese Technik hat er im Sommer 1963 in Vollendung vorgeführt.

Der Sprecher von Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von West-Berlin, eröffnete seine Ansprache an der Evangelischen Akademie Tutzing mit der Feststellung, lediglich „einige Bemerkungen“ zum Thema Wiedervereinigung machen zu wollen.

Damit kam er als Kandidat für die Untertreibung des Jahrzehnts in Betracht: Der SPD-Politiker entwarf nicht weniger als eine neue Deutschlandpolitik, an der sich entscheidende weltanschauliche Schlachten der kommenden Jahrzehnte entzünden sollten.

Egon Bahr war der „Architekt der Ostpolitik“

Im Alter von 93 Jahre alt ist Egon Bahr gestorben. Sichtlich bewegt, spricht SPD-Chef Sigmar Gabriel über einen großen Mann der Politik. Ohne ihn wäre es nicht zur Deutschen Einheit gekommen.

Quelle: N24

„Wandel durch Annäherung“ – diese Formel aus der Rede bringt noch immer manchen Sozialdemokraten ins Schwärmen und manchen Konservativen in Wallung. Im Kern ging es um eine Frage, die sich auch heute wieder stellt: Ist es legitim, als Repräsentant eines freiheitlichen Systems auf Herrscher zuzugehen, die die Freiheit verachten? Fest steht, dass Bahr für seine These, in der Annäherung an den kommunistischen Ostblock liege eine Chance für den Westen, einige rhetorische Akrobatik präsentieren musste. Ihr nachzugehen kann vor dem Hintergrund der heutigen Bedrohungen aus Peking, Pjöngjang, Moskau und Teheran nicht schaden.

„Unvoreingenommen“, sagte Bahr, wolle er die Wiedervereinigungspolitik neu durchdenken. Eine wuchtige Sprachfigur, sie implizierte, dass alle, die zu anderen Schlüssen kämen als man selbst, nicht objektiv seien.

Das Manöver erschließt sich, wenn man bedenkt, dass Bahrs Gedanken 1963 gewagt waren – und diverse Voraussetzungen erfüllt sein mussten, damit er sie äußern konnte: Zum einen hatte US-Präsident John F. Kennedy zuvor unter den Schlagworten „Politik des Friedens“ einen neuen Weg eingeschlagen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Dwight D. Eisenhower wollte er durch verbesserte Wirtschaftsbeziehungen Einfluss auf das Geschehen im sowjetischen Machtbereich nehmen.

His Master‘s Voice: Senatspressechef Egon Bahr (l.) erläutert 1963 neben Berlins Regierendem Bürgermeister Willy Brandt eine Regelung in der Passierscheinfrage. Foto: dpa (zu dpa-Themenpaket "100 Jahre Willy Brandt" und zum dpa-Interview "«Willy sagte, Kranz niederlegen reicht nicht» vom 16.12.2013) | Verwendung weltweit
His Master's Voice: Senatspressechef Egon Bahr (l.) und der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt 1963
Quelle: picture alliance / dpa

Zum anderen stand zum Zeitpunkt der Ansprache fest, dass die Hallstein-Doktrin der Bundesregierung, der zufolge die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR durch Drittstaaten als „unfreundlicher Akt“ gegenüber der Bundesrepublik betrachtet werden musste, weder den Mauerbau verhindert noch die Macht des Stalinisten Walter Ulbricht beschädigt hatte. Zu bedenken ist schließlich, dass Adenauers Kurs der Westbindung von Bonn aus umgesetzt wurde, Bahr dagegen hatte in West-Berlin die Konfrontation mit dem Osten stets vor Augen.

All das dürfte seine neue Herangehensweise befördert haben. Als erstes stellte Brandts Sprecher fest, die deutsche Frage könne unmöglich von den Deutschen allein gelöst werden. Als Teil des Ost-West-Konflikts sei die Beteiligung der Amerikaner und vor allem der Sowjets zwingend erforderlich. Bei der Redewendung „Deutsche an einen Tisch“ handele es sich um sozialistische Propaganda.

Die Rolle Moskaus in Ostdeutschland beschönigte Bahr dabei keineswegs: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Sowjetunion auch heute noch ihre harte Hand auf dem deutschen Glacis hält.“ Wer denke, die Wiedervereinigung sei mit Ost-Berlin zu erreichen, „hängt Illusionen nach und sollte sich die Anwesenheit von 20 oder 22 gut ausgerüsteten sowjetischen Divisionen vergegenwärtigen“.

Anzeige

Der Ansatz Kennedys und der Amerikaner ziele dagegen darauf ab, die kommunistische Herrschaft nicht zu beseitigen, sondern zu verändern. Die Schwierigkeiten, die daraus resultierten, benannte Bahr ganz klar: Die Wandlung des Ost-West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollten, diene der Überwindung des Status quo, obwohl der Status quo zunächst nicht verändert werden solle: „Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat.“ Die Schwierigkeiten, die Kennedys Konzept mit sich brachte, wogen damit für den SPD-Politiker nicht annähernd so schwer wie diejenigen, die der bisherige Kurs geschaffen hatte.

The Brandenburg Gate is seen through a barbed wire fence, in June 1968. The berlin wall was built by the East German government to seal off East Berlin from the part of the city occupied by the three main western powers (USA, Great Britain and France), and to prevent mass illegal emigration to the West. The wall, built along the border between German Democratic Republic (GDR) and Federal Republic of Germany, was the scene of the shooting of many East Germans who tried to escape from GDR. The two countries remained divided until November 1989 when the wall was unexpectedly opened following increased pressure for political reform in GDR. / AFP (Photo credit should read /AFP via Getty Images)
Das Brandenburger Tor nach 1961 – abgesperrt durch Mauer und Stacheldraht, aber mit DDR-Flagge
Quelle: AFP via Getty Images

Es folgte ein rhetorischer Meisterzug. Bahr erläuterte, die Strategie des Wandels setze größeres Vertrauen in die eigene Stärke als die bis dahin gültige Idee, den Kommunismus zu beseitigen. Eine Aussage, die zu überprüfen gewesen wäre – doch das unterließ der SPD-Politiker wohlweislich. Ihm ging es darum, zu markieren, dass der von ihm skizzierte Glaube an die eigene Stärke den Versuch denkbar mache, „sich selbst und die andere Seite zu öffnen“.

Von diesem Punkt aus leitete er nun doch zu der Aufgabe über, die den Deutschen in der bipolaren Welt zukommen könne. Aus der Erstarrung des Status quo resultierte für Bahr, dass eine Politik des Alles oder Nichts gegenüber der DDR ausscheide: „Entweder Wahlen als erster Schritt oder Ablehnung, das ist nicht nur hoffnungslos antiquiert und unwirklich, sondern in einer Strategie des Friedens auch sinnlos.“

Merkwürdig an diesen Passagen erscheint, dass Bahr die harte Konfrontation mit Ost-Berlin für erledigt erklärte, aber gleichzeitig die Politik der Bundesregierung als völlig gescheitert hinstellte und damit selbst so konfrontativ wie irgend denkbar agierte. Doch brauchten diese Aussagen Schärfe, hatten sie doch den Zweck, die zentrale Behauptung des Textes vorzubereiten: Aus einer Weigerung, mit den kommunistischen Herrschern zu sprechen, konnten sich Bahr zufolge keine konkreten Verbesserungen für die Menschen in der „Zone“ ergeben – einfach weil jeder Versuch der Einwirkung unterlassen werde.

„Wenn heute ein Flüchtling durch die Spree schwimmt ...“

Brandts Sprecher gab zu, dass die Kontaktaufnahme in Deutschland besonders schwierig sei, konnte aber darauf verweisen, patriotisch zu denken, weil er die 15 Millionen Deutschen im Blick hatte, die hinter dem Eisernen Vorhang lebten.

Nun hatte Bahr das Problem zu lösen, dass eine Annäherung als ein Schritt in Richtung Anerkennung der DDR gelten konnte. Er fand eine elegante Methode, indem er darlegte, in welchen Situationen der Westen die DDR faktisch schon anerkennen musste, freilich ohne es offen einzuräumen: „Wenn heute ein Flüchtling durch die Spree schwimmt und beschossen wird oder der Bus von Flüchtlingen sich in dem Slalomsystem verklemmt und auf die Menschen geschossen wird, dann geschehen doch Verbrechen, oder nicht? Aber dann darf unsere Polizei nicht zurückschießen und nichts tun, um diese Verbrechen zu verhindern. Und niemand hat bisher zu sagen gewagt, dass dies die brutalste Form der Anerkennung sei.“

Bahrs Fazit lautete, unterhalb der juristischen Anerkennung des Zwangsregimes im Osten habe sich im Westen so viel eingebürgert, dass es möglich sein müsse, dies in einem „für uns günstigen Sinne zu benutzen“. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt, Gespräche mit den DDR-Oberen unbedingt erforderlich erscheinen zu lassen.

Warten auf ein Wunder: „Das ist keine Politik“

Anzeige

Interessant ist in der Rückschau vor allem, was Bahr zum Thema Konsum zu sagen hatte: Im Osten herrsche ein Bewusstsein dafür, nicht das Warenangebot des Westens bieten zu können. Eine Verbesserung habe bereits in der Sowjetunion zu einer Entspannung der Lage geführt – und es sei nicht einzusehen, warum das in der DDR anders sein solle.

Zum Schluss unterstrich Bahr noch einmal seine Begabung als Redner: Er führte aus, wer nicht bereit sei, seinem Konzept „ohne Illusionen“ zu folgen, müsse auf ein Wunder warten – „und das ist keine Politik“. Es offenbart sich ein absoluter Geltungsanspruch für die eigene Position in einer unauffälligen Verpackung.

Noch immer ist es fast unmöglich, die Rede sauber einzuordnen. Das größte Hindernis besteht darin, dass sich Bahrs Worte heute nicht ohne das Wissen um die Ereignisse lesen lassen, die ihnen folgten – so ist es unmöglich, die Darlegungen ohne den Mauerfall zu betrachten. Auch die weltanschaulichen Konflikte um das Konzept und die Figur des Autors schwingen bei der Lektüre immer mit. So mussten sich die Vertreter des „Wandels durch Annäherung“ oft zu Recht vorwerfen lassen, es mit der Nähe zu den Granden in Ost-Berlin und Moskau übertrieben zu haben.

Ironischerweise führte Helmut Kohl die Strategie als Kanzler in den 80er-Jahren im Grundsatz stillschweigend weiter. Viele SPD-Genossen hatten sich da schon komplett in der deutschen Zweistaatlichkeit eingerichtet. Bahr selbst sprach noch fünf Tage nach dem Mauerfall davon, eine Wiedervereinigung sei völlig illusorisch. Das wirft die Frage auf, ob es diesem Initiator des Wandels durch Annäherung je darum gegangen war, die beiden Deutschlands wieder zusammenzuführen. Endgültig entscheiden kann das niemand.

Deutlicher liegt aus jetziger Perspektive zutage: Ohne die atomare Drohkulisse des Westens hätte Bahr keine Möglichkeit gehabt, seine Ideen in Politik zu übersetzen, denn ohne diese Drohung hätte wohl niemand hinter dem Eisernen Vorhang die Notwendigkeit gesehen, sich überhaupt mit ihnen zu beschäftigen. Seiner Wortwahl zufolge war das dem Autor der Rede zumindest im Jahr 1963 noch bewusst.

Und es können einen bei der Lektüre allen inhaltlichen Ambivalenzen zum Trotz nostalgische Gefühle überkommen. Bahrs Ausführungen waren knapp, unverblümt, entschieden in der Sache und warben mit allen rhetorischen Finessen für die eigene Sichtweise. Solches Redetalent lässt sich heute in kaum einer politischen Ansprache mehr finden. Es ist erlaubt, das zu bedauern.

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema