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Geschichte

Was die SPD heute von Eduard Bernstein lernen könnte

Vor 125 Jahren erschien das Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, geschrieben von Eduard Bernstein. Heute spielt der Vordenker in der SPD keine Rolle mehr – ein Fehler.

von Hendrik Küpper · 29. Januar 2024
Eduard Bernstein um 1930: Die SPD sollte sich stärker auf den Vordenker besinnen.

Eduard Bernstein um 1930: Die SPD sollte sich stärker auf den Vordenker besinnen.

Der SPD-Politiker und -Theoretiker Eduard Bernstein fristet 125 Jahre nach Erscheinen seines Buchs „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ ein Schattendasein – in der Erinnerungskultur seiner Partei, erst recht aber in der breiteren Öffentlichkeit. Wird gelegentlich doch einmal an ihn und sein Vermächtnis erinnert, geschieht dies meist in verzerrender Form und aus bestimmten politischen Motiven. Während die einen in Bernstein einen Verräter an der Arbeiterbewegung sehen, gilt er anderen als Vorreiter einer moderaten sozialen Demokratie ohne kapitalismuskritischen Impetus. Beide Interpretationen lassen sich durch den bekanntesten Satz aus seinem Hauptwerk falsifizieren – auch wenn dieser oft aus dem Kontext gerissen und missverstanden wird: „Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.“ 

Nachlassverwalter Friedrich Engels

Bernstein stammte anders als andere Vordenkerinnen und Vordenker der Arbeiterbewegung aus von Armut und Geldsorgen geprägten Verhältnissen: Er kam 1850 in Berlin als siebtes Kind eines Lokomotivführers zur Welt; seine Eltern gehörten einer jüdischen Reformgemeinde an. Zwar konnte der talentierte Junge zunächst das Gymnasium besuchen, musste es aber aus finanziellen Gründen vor dem Abitur wieder verlassen. Nach einer Banklehre schloss er sich 1872 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) an und beteiligte sich schon wenig später gemeinsam mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht an der Organisation des Einigungsparteitags in Gotha 1875, bei dem sich die SDAP mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur SPD zusammenschloss.  

Seine intensivere Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen der Arbeiterbewegung begann erst, als er im Oktober 1878 im Exil in Zürich Sekretär von Karl Höchberg wurde, einem wichtigen Finanzier und Herausgeber sozialdemokratischer Zeitschriften. In der Zeit des Sozialistengesetzes zwischen 1878 und 1890, die er zunächst in Zürich und ab 1888 in London verbrachte, lernte er unter anderem Karl Marx und Friedrich Engels kennen, von dem er zum Erben und Nachlassverwalter gemacht wurde, und freundete sich zuvor mit Karl Kautsky an. Er wurde zudem Mitarbeiter der Zeitung „Sozialdemokrat“ und später auch der von Kautsky herausgegebenen Theoriezeitschrift „Die Neue Zeit“.

Seine Ideen entfachten den Revisionismusstreit

Hatte Bernstein den Parteimarxismus zunächst noch mitgetragen, verstärkten sich Anfang der 1890er Jahre seine Zweifel daran. Ab 1896 veröffentlichte Bernstein in der „Neuen Zeit“ seine Aufsatzreihe „Probleme des Sozialismus“ und begann darin sein revisionistisch-reformistisches Sozialismuskonzept zu entwickeln. Auf Anregung von Kautsky bündelte er die Ergebnisse seiner kritischen Überprüfung der marxistischen Theorie schließlich in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, das im Januar 1899 erschien. 

Bernsteins Ideen trafen auf viel Widerspruch und entfachten innerhalb der SPD den sogenannten Revisionismusstreit. Die Kritik drehte sich vor allem um seine Antwort auf die Frage, ob die Eroberung der politischen Macht auf dem Wege einer Revolution oder auf dem Fundament einer parlamentarischen Demokratie erfolgen sollte. Anders als Bernstein vertrat Rosa Luxemburg eine revolutionär-aktionistische Transformationsvorstellung, Karl Kautsky wiederum sprach vom allmählichen Heranreifen der Gesellschaft in Richtung einer Revolution, die er jedoch als unausweichlich betrachtete.

Bernstein war dagegen von einem schrittweisen Hineinwachsen in den Sozialismus überzeugt. Mit seinem praxisorientierten Reformsozialismus setzte er auf Transformation statt auf Revolution, auf „Genossenschaftlichkeit“ statt auf Verstaatlichung – ohne dabei den kapitalismuskritischen Ansatz der Marx’schen Lehre grundsätzlich in Frage zu stellen.

Überwindung des kapitalistischen Systems

Den historischen Determinismus von Marx lehnte Bernstein ab, und dessen Prognose eines unausweichlichen Zusammenbruchs von Staat und Kapitalismus hielt er für empirisch nicht haltbar. Und ohnehin agiere die SPD in der Praxis längst reformorientiert statt revolutionär, so Bernstein. Das Erreichen eines sozialistisches „Endziels“ und die Vorstellung von einer schlagartigen Verbesserung der Lebensbedingungen hielt er für unrealistisch: „Kurz, man kann nicht die ganze arbeitende Klasse im Laufe von ein paar Jahren in Verhältnisse bringen, die sich sehr wesentlich von denen unterscheiden, in denen sie heute leben.“

Dieser Satz macht zweierlei deutlich: Zum einen hielt Bernstein am Klassenkampf fest, auch wenn er dafür plädierte, die Ausdifferenzierung der Klassen und Veränderungen der Sozialstruktur kritisch zu prüfen. Zum anderen strebte auch er nach einer Überwindung des kapitalistischen Systems und nach konkreten Schritten in dieser Richtung, glaubte aber eben nicht daran, dass nach einem historischen Bruch alles schlagartig besser werde. Was ihm vorschwebte, war ein prinzipiengeleitetes Hineinwachsen in den Sozialismus – im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie. Vor diesem Hintergrund ist auch das eingangs erwähnte und oft missinterpretierte Zitat zu verstehen.

Die Demokratie als höchstmögliche Form von Freiheit

Die Demokratie nahm bei Bernstein zudem einen außerordentlich hohen Stellenwert ein. Er betrachtete sie als unabdingbare Voraussetzung für jenes sukzessive Hineinwachsen in den Sozialismus, betonte dabei aber die Bedeutung eines handlungsorientierenden Wissens, das von der sozialistischen Bewegung zur Verfügung gestellt werden müsse. Der Erfolg einer sozialistischen Reformstrategie im demokratischen Rahmen hing aus seiner Sicht ganz maßgeblich vom Willen der Menschen und ihren Wertvorstellungen ab. Bernstein verstand die Demokratie auch nicht als bloße Volksherrschaft, sondern als höchstmögliche Form von Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit. Nur in der Demokratie kann – gewaltfrei und durch Reformen – sozialer Fortschritt und soziale Freiheit errungen werden. 

Bernsteins reformsozialistisches Wirken und Denken, gebündelt in seinem vor 125 Jahren veröffentlichten Buch, hat die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie maßgeblich geprägt. Mit seiner Verbindung von einer an die gesellschaftliche Wirklichkeit angepassten marxistischen Theorie und einer auf demokratischen Grundlagen operierenden Reformpraxis lieferte er bedeutende Impulse für eine Modernisierung der SPD, die 60 Jahre nach Erscheinen der „Voraussetzungen“ im Godesberger Programm von 1959 konkrete Gestalt annahmen.

Heute, im Angesicht multipler Krisen, der Herausforderungen einer sozial-ökologischen Transformation, einer wachsenden sozialen Ungleichheit und einer Identitätskrise der Sozialdemokratie können und sollten Bernsteins Ideen ein wichtiger inhaltlicher und strategischer Kompass sein. Besonders könnte die Sozialdemokratie von Bernstein lernen, die gesellschaftliche Macht zulasten eines kapitalistischen Profitstrebens und der damit verbundenen Ausbeutung von Mensch und Natur werteorientiert nach und nach auszuweiten.

In seiner Kolumne Im Rückspiegel beleuchtet das Geschichtsforum der SPD historische Ereignisse und zieht Parallelen zur heutigen Zeit.

Autor*in
Hendrik Küpper

ist Redakteur der „perspektiven ds – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik“ und arbeitet derzeit als Vertretungslehrer für Politische Bildung und Ethik am Humboldt-Gymnasium Eichwalde.

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3 Kommentare

Gespeichert von Marie B. (nicht überprüft) am Mo., 29.01.2024 - 22:59

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Super relevant, vorallem vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen!

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 30.01.2024 - 11:00

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Bernstein lernte also Karl Marx im Jahr 1888 in London kennen - wann starb Marx ????? (Geschichtsforum). Edde gilt als Erfinder des Revisionismus, das heißt der Überprüfung von Schlussfolgerungen von Marx und Engels) aber auch andere Kautzky, Lenin, Luxemburg etc.) haben solche Überprüfungen gemacht - der Begriff ist also wertfreier zu betrachten als das gemacht wird und er ist noch lange nicht mit dem Reformismus gleich zu setzen.
Auch Friedrich Engels, dessen Nachlass Edde verwaltete, sagte, daß in Deutland und auch anderwo der Parlamentarismus soweit entwickelt sei, daß die Herrschaft des Proletariat an den Wahlurnen und nicht auf den Barrikaden zu erreichen sei.
Ich möchte mich dagegen verwahren, daß der großartige Sozialdemokrat Bernstein, trotz aller Irrungen und Wirrungen, für die mangelhafte Politik der Opportunisten als Kronzeuge aufgerufen wird.

Gespeichert von Hendrik Küpper (nicht überprüft) am Di., 30.01.2024 - 18:53

Antwort auf von Armin Christ (nicht überprüft)

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Sehr geehrter Herr Christ,

in dem Text steht lediglich, dass Bernstein Karl Marx in der Zeit des Sozialistengesetzes zwischen 1878 und 1890 kennengelernt hat. Aus Platzgründen habe ich dies nicht konkretisiert. Konkret reiste Bernstein im November 1880 mit Bebel nach London, um sich mit Engels und Marx über die Politik der Partei auszutauschen (vgl. u.a. Francis Ludwig Carstensen: Eduard Bernstein (1850-1932), 1993, S.22). Zwischen Engels und Bernstein bestand ein regelmäßiger Briefaustausch, der Kontakt intensivierte sich während Bernsteins Zeit in London. Ich bedauere, dass es zu diesem Missverständnis gekommen ist.

Dass der Text Revisionismus und Reformismus nicht gleichsetzt, sollte unter anderem deutlich dadurch werden, dass ganz bewusst von einem revisionistisch-reformistischem Sozialismuskonzept geschrieben wird. Ganz grob lässt sich sagen, dass Bernsteins Revisionismus die theoretische Reflexion und die kritische Durchsicht bestehender Theorien meint. Der revisionistische Anspruch Bernsteins wird u.a. durch die folgenden Worte in seinem Hauptwerk deutlich:
„[D]ie Fortentwicklung und Ausbildung der marxistischen Lehre muß mit ihrer Kritik beginnen. Heute steht es so, daß man aus Marx und Engels alles beweisen kann. Das ist für Apologeten und den literarischen Rabulisten sehr bequem. Wer sich aber nur ein wenig theoretischen Sinn bewahrt hat, für wen die Wissenschaftlichkeit des Sozialismus nicht auch bloß ein Schaustück ist, das man bei festlichen Anlässen aus dem Silberschrank nimmt, sonst aber unberücksichtigt lässt‘, der wird, sobald er sich dieser Widersprüchen bewusst wird, auch das Bedürfnis empfinden, mit ihnen aufzuräumen.“
Abweichend vom Begriff des Revisionismus bezieht sich der Begriff des Reformismus auf die politische Praxis beziehungsweise genauer „auf eine politische Strategie, die politische Ziele durch praktische Reformpolitik zu verwirklichen sucht.“ (Horst Heimann: Eduard Bernstein. Texte zum Revisionismus, 1990, S. 27). Bei Bernstein hängen Revisionismus und Reformismus zusammen, so schreibt Bernstein selbst 1909 in "Der Revisionismus in der Sozialdemokratie": „Revisionismus, ein Wort, das im Grunde nur für theoretische Fragen Sinn hat, heißt in’s Politische übersetzt: Reformismus, Politik der systematischen Reformarbeit im Gegensatz zur Politik, der eine revolutionäre Katastrophe als gewolltes oder für unvermeidlich erkanntes Stadium der Bewegung vor Augen schwebt." Zunächst distanzierte sich Bernstein allerdings von der Bezeichnung "Revisionist" (vgl. Klaus Leesch, https://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/bestand/70943/veroeffentlic…). In unserem Band Heimann/Küpper/Scherer (Hg.): "Geistige Erneuerung links der Mitte", der 2020 im Schüren Verlag erschienen ist, beleuchten wir das Denken und Wirken von Bernstein genauer.

Geläufiger als "Edde" scheint mir übrigens sein Spitzname "Ede" zu sein. So auch in dem bekannten Zitat von Ignatz Auer in Richtung Bernstein: „Mein lieber Ede, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man."

Viele Grüße und ich freue mich sehr über das Interesse an Bernstein
Hendrik Küpper