Der Rezeptionsgeschichte von Tönnies’ Lebens- und Hauptwerk, Gemeinschaft und Gesellschaft wurde bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Besprechungen der ersten Auflage von 1887 wurden nochmals abgedruckt (Fechner 1998). Tönnies selbst setzt sich in den Vorreden zu den späteren Auflagen mit Autoren und Autorinnen auseinander, die sich auf sein Werk beziehen. Die Auswahl der von ihm dabei berücksichtigen Texte ist unvollständig. Besonders fällt auf, dass er auf die Wahrnehmung und Kritik prominenter marxistischer Autoren wie Georg Lukács (1885–1971) oder Karl Korsch (1886–1961) nicht eingeht,Footnote 1 obwohl er sonst in dieser Hinsicht ein emsiger Sammler ist. Der Gemeinschaft und Gesellschaft gewidmete Band 2 der Tönnies-Gesamtausgabe schließt nicht unerhebliche Lücken und enthält Anmerkungen, die sich auf die zu Lebzeiten Tönnies’ erschienen sechs AuflagenFootnote 2 beziehen.Footnote 3

Der vorliegende Aufsatz möchte dem Bild weitere Facetten hinzufügen und der explizit linkenFootnote 4 Rezeptionsgeschichte von Gemeinschaft und Gemeinschaft auf den Grund gehen. Die Darstellung geschieht in chronologischer Reihenfolge, beginnt also zu Lebzeiten von Tönnies und endet in der Gegenwart. Bereits vorab ist festzuhalten, dass eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Haupt- und Lebenswerk von Seiten sowohl der wissenschaftlichen als auch der politischen Linken weitgehend fehlt. Im 19. Jahrhundert gibt es sie partiell auf dem Umweg des Disputs von Franz Mehring und August Bebel insbesondere mit Tönnies um die wissenschaftliche und politische Relevanz der Sozialethik der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, die damit indirekt sozialethische Impulse der ersten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft zumindest streift.

Kritik an Tönnies erfolgt eher beiläufig und oberflächlich, und ist auch nicht frei von Vorurteilen. Tönnies sei in seiner Argumentation wahlweise ein Idealist oder Metaphysiker und bewege sich gerade nicht auf dem Boden des historischen-materialistischen Denkens und des Klassenkampfes. Weitestgehend wird Tönnies als ein bürgerlicher Denker verstanden, der zwar persönlich ein tadelloser Mensch gewesen war, aber, so Teile der Rezeption im 20. Jahrhundert, in und mit Gemeinschaft und Gesellschaft dem nationalsozialistischen Denken den Weg bereitet habe. Den Leser beschleicht mitunter das Gefühl, dass Tönnies gelegentlich auch nur anstandshalber lobend erwähnt wird – er sei eben verdienstvoller Weise der Erste gewesen, der sich der Problematik von Gemeinschaft und Gesellschaft gewidmet habe – nur um schnell zu vergewissern, dass die jeweils eigene Position die richtige sei. Mitunter widersprechen die Urteile einander. Mal ist Tönnies ein rückwärtsgewandter, romantisierender Denker, mal – im Gegensatz zu anderen – gerade nicht.

Strukturell ähnelt die linke Kritik größtenteils, insbesondere in Fragen des Vorwurfes der Metaphysik, einer Tönnies-Kritik, wie sie am bekanntesten etwa René König und in der Form einer Unterstellung konservativer Modernitäts- oder Zivilisationskritik Ralf Dahrendorf veröffentlichten (König 1955 und König 1987, erneut abgedruckt in König 2011. Zu Dahrendorfs Kritik siehe Dahrendorf 1971). Eine tiefergehende Analyse dieser Parallelen muss späteren Forschungsarbeiten überlassen werden. Es geht hier in einem ersten großen Schritt darum, die Bandbreite der Rezeption für Augen zu führen und mögliche Vertiefungen aufzuzeigen. Die Darstellung ist weder vollständig noch erschöpfend. Weitere Forschungsarbeiten zu dem Themenkomplex und seinen verschiedenen Verästelungen sind unabdingbar.

1 Rezeption zu Lebzeiten

Ob Friedrich Engels (1820–1895) Tönnies’ Hauptwerk gelesen hat, muss offenbleiben. In seiner Bibliothek findet sich das Buch zumindest nicht.Footnote 5 Die beiden trafen sich aber persönlich am 27. Juni 1894 in London und tauschten sich auch brieflich aus (Carstens 2013, S. 133). Auch bei anderen Autoritäten der deutschen Sozialdemokratie, wie August Bebel, Franz Mehring, Eduard Bernstein oder Karl Kautsky, lässt sich kein expliziter Hinweis auf die Rezeption von Gemeinschaft und Gesellschaft finden. Gleiches gilt für jüngere Generationen wie die von Rosa Luxemburg. Heinrich Cunow kannte das Buch, dazu gleich.

Aufseiten des Anarchismus lässt sich eine direkte, offensichtliche Rezeption nicht ohne Weiteres finden, allerdings wird in der einschlägigen Literatur häufig erwähnt, Gustav Landauer (1870–1919) sei direkt durch Tönnies‘ Hauptwerk beeinflusst worden (in jüngerer Zeit hierzu Shantz und Williams 2013, S. 25 f.).Footnote 6 Bei marxistischen Theoretikern hingegen liegt die Rezeption offener zu Tage.

Karl Vorländer (1860–1928), ein Gymnasiallehrer, der mehrere weit verbreitete und bis heute vertriebene Bände über die Geschichte der Philosophie vorlegte, zur Marburger Schule des NeukantianismusFootnote 7 gehörte und sozialdemokratischen wie sozialistischen Positionen nahestand, führt Tönnies 1903 in seinem Kapitel zur Philosophie der Gegenwart als einen der jüngeren deutschen Positivisten an. Tönnies nimmt für Vorländer „einen ganz eigenartigen, unter keine bestimmte Rubrik klassifizierbaren Standpunkt ein“ (Vorländer 1911, S. 481 f.). Im „bedeutsame[n]“ Werk Gemeinschaft und Gesellschaft verbindet Tönnies seiner Auffassung nach „empirischen Historismus und psychologischen Rationalismus: eine von großen Gesichtspunkten ausgehende Kulturphilosophie (Soziologie) und eine in ihren Grundbegriffen einigermaßen an Schopenhauer erinnernde Willenspsychologie“ (ebd., S. 482, Hervorhebungen im Original gesperrt). Es folgt eine kurze Zusammenfassung der Tönniesschen Argumentation, ohne weitere Bewertung durch Vorländer (ebd., S. 482 f.) Einige Seiten später zählt Vorländer Tönnies zu denjenigen, die die „Sozialphilosophie (Soziologie)“ entscheidend gefördert haben (ebd., S. 490 f.). Hinzu kommt der Umstand, dass Vorländer und Tönnies persönlich befreundet waren.Footnote 8 In seinem Buch Von Machiavelli bis Lenin. Neuzeitliche Staats- und Gesellschaftstheorien ordnet Vorländer Tönnies denjenigen Intellektuellen zu, die sich im Windschatten des Neukantianismus, den Vorländer als Teil des marxistischen Spektrums versteht, dem Sozialismus annäherten (Vorländer 1926, S. 255).

Der Austromarxist Otto Bauer (1881–1938) erwähnt 1907 in seinem Werk Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie Tönnies‘ Gemeinschaft und Gesellschaft in einer Fußnote. Er bezeichnet darin Tönnies‘ Werk als „[vortrefflich]“, um im gleichen Satz zu Beginn darauf aufmerksam zu machen, dass er die Begriffe gänzlich anders als Tönnies verstehe und gebrauche (Bauer 1907, Fußnote 1, S. 110). Eine nähere Auseinandersetzung findet sich nicht. Ein entscheidender Unterschied zwischen ihm und Tönnies wird aber darin deutlich, dass Bauer die Sprache als eine „äußere Setzung“ im Sinne von Gesellschaft versteht, die notwendig sei, damit Gemeinschaft entstünde. Tönnies hingegen spricht von einer natürlichen Sprache, die grundlegender Bestandteil von gemeinschaftlichen Beziehungen ist (Tönnies 1906).

Der Philosoph und spätere Marxist Ernst Bloch (1885–1977) erwähnt Tönnies an einer Stelle in seiner Dissertation über Heinrich Rickert und das Erkenntnisproblem (Bloch 1909). Er schreibt wie folgt kritisch: „Noch eigentümlicher [als bei Stammler, SK] wird diese Allgemeinheit bei Tönnies ergriffen, der nach einer rein psychologischen und soziologischen Entwicklung, die von der instinktiven Gemeinschaft im Haus oder Dorf zur kapitalistisch differenzierten Gesellschaft in der Großstadt und Weltrepublik führte, gerade die Organisation als konkrete Allgemeinheit zu deduzieren versuchte. Wie jede Obligation auf empfangenes Darlehen in der Tendenz besteht, seine Forderungen gegen den Kontrahenten unrealisiert zu bewahren, so wird die komplexe Idee in der Wirklichkeit durch ein zufällig bestimmtes Territorium oder durch den ganzen Erdball stets nur repräsentiert, da sie selbst erst das gesellschaftliche Verhältnis zu erzeugen hat.“ (ebd., S. 71)

Der marxistische Theoretiker und Politiker Heinrich Cunow (1862–1936) bescheinigt Tönnies „Begriffsbestimmungen“, „die völlig als marxistisch gelten können“ (Cunow 1920, S. 258). Cunow führt dann als Nachweis verschiedene Zitate aus der zweiten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft an. Allerdings kennzeichnet Cunow einen Satz als Tönnies-Zitat, der aber so nicht in Gemeinschaft und Gesellschaft steht. Cunow schreibt: „Eine solche Gemeinschaft ist auch der Staat, errichtet zu dem Zweck, Freiheit und Eigentum seiner Objekte zu schützen.“ – und erweckt dabei durch die Verwendung von Anführungs- bzw. Ausführungsstrichen den Anschein, es handle sich um Tönnies‘ Worte. Ein Rezensent hat auf diesen Umstand bereits 1922 aufmerksam gemacht (Bortkiewicz 1922).

Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer (1864–1943), nach eigenem Verständnis ein liberaler Sozialist, setzt sich mit Tönnies‘ Hauptwerk im ersten Band seines Systems der Soziologie (Oppenheimer 1922) auseinander. Zunächst referiert Oppenheimer anhand der dritten Auflage von 1922 zustimmend die wichtigsten Inhalte und Argumentationslinien von Gemeinschaft und Gesellschaft (ebd., 340–345). Widerspruch formuliert er gegen Tönnies‘ pessimistischen Ausblick auf die künftige Entwicklung der Gesellschaft, die in ihrem Untergang mündet (ebd., S. 345). Oppenheimer hält die zugrunde liegende „entwicklungsgeschichtliche Konstruktion“ für „falsch“ (ebd., S. 346), und bietet eine eigene Darstellung an. Mitnichten sei der Untergang unausweichlich, sondern Oppenheimer hält die „Heilung“ der – seiner Diagnose nach – „kranke[n] Gemeinschaft“ für möglich und sogar sehr wahrscheinlich. Die zeitgenössische Gesellschaft sei von einer „Krankheit“ befallen (ebd.). Für Oppenheimer sind nicht Wesen- und Kürwille, „sondern Wir-Interesse und Ich-Interesse, Wir-Wille und Ich-Wille […] die tiefsten Wurzeln aller Gesellschaft“ (ebd., S. 348). Aus diesem Dualismus ergeben sich dann „zwei Arten der Konkurrenz“, die Tönnies nicht erkannt habe: die eine, die durch das Wir-Interesse begrenzt werde und von hohem gesellschaftlichen Nutzen sei, die andere, durch das Ich-Interesse getrieben, die potentiell die Gesellschaft in ihrer Existenz bedrohen kann (ebd.). Die bisherige Geschichte seit der Entstehung von Staaten sei ein Krankheitsprozess, in dem das ursprüngliche, natürliche Wir-Interesse nach außen hin in ein Ich-Interesse des von Oppenheimer so bezeichneten Gruppen-Ich gewandelt wurde. Dieses Gruppen-Ich sei gegen die anderen gerichtet, wodurch die Gewalt und Ausbeutung von außen in die Gemeinschaft eingedrungen sei (ebd., S. 347). Oppenheimer hält diesen Prozess aber für heilbar.

Der Politiker, Philosoph und Rätekommunist Karl Korsch erwähnt Tönnies‘ Gemeinschaft und Gesellschaft 1923 in einem Artikel (Korsch 1923, zitiert nach Korsch 2017), in dem er sich u. a. mit dem Buch Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie von Heinrich Cunow auseinandersetzt. Cunow habe „die wirklichen Lehren von Marx und Engels über das Verhältnis von Gesellschaft und Staat […] verfälscht“ (ebd., S. 295), indem er eine „höchst überflüssige bedenkliche“, vom „bürgerlichen Gelehrten Tönnies entlehnte ‚Verbesserung‘“ (ebd., S. 295 f.) verwendete. Korsch hält Gemeinschaft und Gesellschaft für eine „völlig ungeschichtliche Unterscheidung“ zweier „abstrakte[r] Grundkategorien“ (ebd., S. 296). In der Folge entstünde, „auf metaphysische[r] Grundlage“, das für den Marxismus „völlig sinnlose Problem“, zu klären, „ob“ der Staat wesensmäßig die Gesellschaft oder die Gemeinschaft darstelle. Korsch hält Tönnies zugute, dass er es „wenigstens so richtig löst, wie ein falsch gestelltes Problem nur gelöst werden“ könne – der Staat wird der Gesellschaft und nicht der Gemeinschaft zugeordnet (ebd.). In Korsch‘ Hauptwerk, Marxismus und Philosophie, spielt Gemeinschaft und Gesellschaft keine Rolle.

Die Tönnies-Rezeption bei Georg Lukács

Georg Lukács verweist 1923 auf Gemeinschaft und Gesellschaft an einer Stelle in Geschichte und Klassenbewusstsein, wobei er Tönnies wie folgt länger direkt zitiert: „Die abstrakte Vernunft in einer speziellen Betrachtung ist die wissenschaftliche Vernunft, und deren Subjekt ist der objektive, Relationen erkennende, d. h. der begrifflich denkende Mensch. Und folglich verhalten sich wissenschaftliche Begriffe, die ihrem gewöhnlichen Ursprunge und ihrer dinglichen Beschaffenheit nach Urteile sind, durch welche Empfindungskomplexen Namen gegeben werden, innerhalb der Wissenschaft, wie Waren innerhalb der Gesellschaft. Sie kommen zusammen im System wie Waren auf dem Markte. Der oberste wissenschaftliche Begriff, welcher nicht mehr den Namen von etwas Wirklichem enthält, ist gleich dem Gelde. Z. B. der Begriff Atom oder der Begriff Materie.“Footnote 9. Inhaltlich folgt diese Stelle einem kurzen Verweis auf Marx, und Lukács kommentiert knapp: „Noch schroffer und prinzipieller […] derselbe Zusammenhang bei Tönnies“ (Lukács 2013, S. 310).

Erst in Die Zerstörung der Vernunft aus dem Jahr 1954 kommt Lukács vergleichsweise ausführlich auf Tönnies und Gemeinschaft und Gesellschaft zurück (Lukacs 1954, S. 466–474).Footnote 10 Tönnies‘ Werk nehme „eine besondere Stellung in der Entwicklung der deutschen Soziologie“ (Lukacs 1954, S. 467) ein. Im Vergleich zu nachfolgenden Soziologen falle vor allem Tönnies‘ „ideologische Verbundenheit“ zu „klassischen deutschen Traditionen“ auf, weshalb er der „progressiven Wissenschaft des Westens“ näherstünde als jene (ebd.). Vor allem Marx und Henry Morgan haben großen Einfluss auf Tönnies‘ Hauptwerk ausgeübt, jedoch auf dem Wege der „radikalen Umarbeitung der Grundgedanken“ (ebd., S. 468), die für Lukács in vier Punkten deutlich wird: a) Bei Tönnies verschwinde jede „konkrete Ökonomie“, wenngleich nicht in derart radikaler Weise wie bei nachfolgenden Soziologen; b) die „konkret historischen Gesellschaftsformationen“ würden zu „überhistorischen „Wesenheiten“ verflüchtigt“; c) der Wille als ein „subjektives Prinzip“ ersetze bei Tönnies die „[objektiv] ökonomische[n] Grundlage der Gesellschaftsstruktur“. Und d) würde ein „romantische[r] Antikapitalismus“ bei Tönnies die „ökonomisch-soziale Objektivität“ ablösen. Als Resultat dieser vier Vorgänge entstünde bei Tönnies die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Die „Subjektivierung“ werde „durch mystifizierte Willensbegriffe“ erzeugt: Kür- und Wesenwille „erscheinen bei Toennies als Schöpfer der beiden Formationen“ (alle Zitate ebd.).

Aus der Position des romantischen Antikapitalismus könne Gesellschaft mit Kapitalismus gleichgesetzt werden. Lukács hält aber Tönnies zugute, dass er im Gegensatz zu anderen nicht nach einer Rückkehr zu früheren, vermeintlich besseren Zuständen strebt. Für ihn ist Tönnies liberal. Dessen Positionierung bilde die Grundlage für eine Kulturkritik, die zur gleichen Zeit „die problematischen, negativen Züge der kapitalistischen Kultur scharf hervorgebt“ und auf die unvermeidliche, schicksalshafte kapitalistische Entwicklung hinweist (ebd.).

Die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft sei zwar nicht originell, aber sie sei bedeutend, denn Tönnies sei mit ihr schließlich zur, für die deutsche Soziologie äußerst wichtigen, Unterscheidung von ‚Zivilisation‘ und ‚Kultur‘ gelangt (ebd., S. 469). Aus marxistischer Perspektive jedoch, wie sie Lukács entwickelt, könne es sich hierbei aber gar nicht um einen Gegensatz handeln. Die Entwicklung des Kapitalismus führe zu einer romantisch-antikapitalistischen, „subjektivistisch-irrationalistischen“ Verzerrung (ebd.). Diese Art der Gegenüberstellung sei „rückwärts“ gewandt und müsse mit Notwendigkeit eine Fortschrittsfeindlichkeit mit sich bringen. Bei Tönnies könne man den Beginn dieser Entwicklung im Denken beobachten. Lukács ist der Meinung, Tönnies entwickle auf Grundlage von Morgan „übergeschichtlich[e]“ Verallgemeinerungen und es entstünde „ein ganzes System von abstrakt aufgebauschten kontrastierenden Subjektbegriffen“ (ebd. S. 472). Aber wie bereits angedeutet, seien bei Tönnies diese „Tendenzen nur im Keime vorhanden“. Tönnies betone „das fortschrittliche Moment“ wesentlich stärker als die ihm nachfolgenden Denker (ebd., S. 473).

Der kommunistische Politiker August Thalheimer (1884–1948) veröffentlichte 1927 eine Sammelrezension, in der er auch auf Gemeinschaft und Gesellschaft eingeht, wobei er sich der ersten Auflage von 1887 bedient, und aktuellere Auflagen ignoriert (Thalheimer 1927, S. 497–508) Thalheimer kritisiert insbesondere Tönnies‘ Zugang zur individuellen Psychologie und schreibt, dass der „Schlüssel zum Verständnis und zur Ableitung“ des individuellen wie gesellschaftlichen Bewusstseins nur durch die „Formen der ‚materiellen Produktion‘“ (ebd., S. 500) gegeben sei. Tönnies‘ Willensbestimmung sei methodisch als „subjektive[r] Idealismus“ zu bestimmen (ebd., S. 501). Die eigentlich „flüssigen historischen Gesetze“ würden so „zum psychologischen Naturgesetz“ „erstarren“, denn der geschichtliche Begriff sei nunmehr nichts weiter als eine hohle „Abstraktion“ (ebd.).

Auch in der linken Arbeiterbewegung im weiteren Sinne waren Tönnies und sein Werk präsent. Maria Krische und Paul Krische (1878–1956) hielten auf der zweiten freigeistigen Woche der Arbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände der deutschen Republik, die vom 22. bis zum 26. April 1924 in Leipzig stattfand, einen Vortrag über Gemeinschaftskultur, in dem sie auch auf Tönnies zu sprechen kommen (Krische und Krische 1924, S. 10–20). Der „Aufbau einer Gemeinschaftskultur“ wird als das „Kernproblem der Gegenwart“ (ebd., S. 10) identifiziert. Die Gemeinschaft wird als die rettende Antwort auf den Zerfall von Ordnung verstanden, gar als Antwort auf „Feindschaft“. Direkt im Anschluss erfolgt der Verweis auf Tönnies und dass er als erster systematisch zu den Begriffen von Gemeinschaft und Gesellschaft gearbeitet hat, wobei sein Werk „[e]rst in letzter Zeit […] Aufmerksamkeit erregt“ habe (ebd.). Im Referat wird dann die „junge“ Disziplin der Soziologie als diejenige Wissenschaft präsentiert, die in den Kreisen der Freidenker die Naturwissenschaft als „führende Wissenschaft“ immer weiter ablöse (ebd., S. 11). Neben der wichtigen Soziologie wird die noch jüngere Disziplin der Gemeinschaftskunde genannt. Auf beide geht der übrige Vortrag näher ein, wobei es erneut Tönnies ist, auf dessen Differenzierung zu Beginn verwiesen wird: „Gemeinschaft ist der Kreis jener Menschen, die natürlich miteinander verbündet sind; Mutter und Kind, Vater und Kind, Blutsverwandte, also real und organisch miteinander Verbundene, während Gesellschaft die Kreise von Menschen umfaßt, die nebeneinander leben, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind (Arbeitergeber und Arbeitnehmer).“ (ebd.). Zum Kreise der Gemeinschaft werden dann noch die Bewohner eines Dorfes oder einer Stadt gezählt, Freunde, Liebendes sowie das Volks als „Schicksalsgemeinschaft“ (ebd.). Was dem folgt, sind die Überlegungen der beiden Vortragenden zur Schaffung einer Gemeinschaftskultur, deren Ausgangspunkt die Familie und das Berufsleben sind. Es geht um die Erneuerung der menschlichen Beziehungen. Tönnies wird nicht mehr namentlich erwähnt, aber mit seinen Begriffen bleibt er in diesem Text stets präsent.

Der Austromarxist Max Adler (1873–1937), Jurist, Politiker und Soziologe, äußert sich zunächst kurz in einem Text von 1925 über Tönnies und dessen Betrachtung von Gemeinschaft und Gesellschaft (Adler 1925, S. 4–34). Tönnies selbst hat diese Erwähnung in seinem Vorwort zur sechsten und siebten Auflage seines Hauptwerkes aufgeführt (Tönnies 2019, S. 106–107). Adler gesteht Tönnies zu, sich als „[e]iner der ersten […] die kritische Bearbeitung des Gesellschaftsbegriffs“ (Adler 1925, S. 30) unternommen zu haben. Allerdings sei Tönnies dabei nicht der Erkenntniskritik verpflichtet gewesen, denn Tönnies‘ Betrachtungen seien nicht der Soziologie, sondern der Biologie zu zuordnen. Ferner meint Adler, metaphysische Elemente zu finden (ebd.).

1936 veröffentlichte Adler den Band Das Rätsel der Gesellschaft. Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaft, in dem er erneut auf Tönnies zu sprechen kommt und die Gedanken aus dem früheren Aufsatz wiederholt. Bei der ersten Nennung in dem Buch schreibt Adler erneut, Tönnies sei „wohl“ „[e]iner der ersten“ gewesen, der den Begriff der Gesellschaft kritisch bearbeitet hat. Er habe in Gemeinschaft und Gesellschaft „eine scharf sondernde Bestimmung“ beider Begriffe geliefert, allerdings keine „erkenntniskritische“. Adler meint, Tönnies‘ Begriffe können nur „sehr wenig zur wirklichen Klärung beitragen“, denn Tönnies denke nicht soziologisch. Vielmehr sei sein Text „von biologischen, ja schließlich metaphysischen Elementen nur allzusehr durchsetzt“ (Adler 1936, S. 39, zitiert nach Adler 2016, S. 39). An einer sehr viel späteren Stelle seines Buches kommt Adler zu dem Schluss, dass Gesellschaft und Gemeinschaft keine Gegensätze bezeichneten, wie seit dem Erscheinen von Tönnies‘ Hauptwerk „häufig angenommen wurde“, sondern Gemeinschaft sei „eine besondere Form der Gesellschaft“ (ebd., S. 184). Erneut behauptet er, Tönnies‘ unterscheide die beiden auf Grundlage einer „metaphysischen Begriffsbestimmung“. Der Wesenwille und der Kürwille schwankten bei Tönnies „unausgesetzt zwischen einer biologischen und metaphysischen Charakterisierung“ (ebd.). Tönnies unterscheide beide dahingehend, dass Gemeinschaft gewachsen und Gesellschaft gemacht sei, was für Adler „das eigentlich soziologische Problem der Verbundenheit von Menschen“ nicht erfasst (ebd.). Außerdem ist er der Meinung, dass Tönnies nur die bejahenden sozialen Beziehungen als solche gelten ließe, und die gegnerischen nicht berücksichtige, da sie weder gemeinschaftlich noch gesellschaftlich seien (ebd.). Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft nach Tönnies sind infolge dessen für Adler „verwirrend“ und würden „sogar direkt gefährlich“, denn der Begriff der Gemeinschaft vermittele eine nur „scheinbare Klarheit“. Diese sei aber das Ergebnis der „Analogie mit dem Organismus“. Es werde der „Anschein einer Erklärung des Sozialbegriffes“ erweckt, dabei handle es sich aber nur die Erneuerung der „alte[n], universalistische[n] Metaphysik des Gesellschaftsbegriffes“ (ebd.).

Als Ausweg aus diesen metaphysischen Verirrungen verweist Adler auf die „erkenntniskritische Tatsache des Sozial-Apriori“. Dieses sei weder kür- noch wesenswillig entstanden, sondern beruhe auf dem „Wesen des Ich-Bewußtseins“. Dieses Ich sei schon immer vergesellschaftet, und, „sobald dies erkannt und zur bewußten Zwecksetzung gemacht wird“, sei das Ich auch in Gesellschaft. Die Gemeinschaft wächst und entfaltet sich „mit der geistigen Entwicklung“ der einzelnen Menschen. Als einen zusätzlichen Begriff führt Adler die Assoziation ein, mit der er die „willkürlich zu bestimmten Zwecken begründeten Verbundenheiten von Menschen“ benennt. Gesellschaft, Gemeinschaft und Assoziation sind laut Adler „Formen der Vergesellschaftung“, die er nicht als eine reine begriffliche Differenz zu Tönnies verstehen wissen will. Vielmehr werde so die Tönnies’sche Metaphysik entfernt und soziologische „Scheinprobleme“ würden vermieden (ebd., Hervorhebungen im Original). Zu Adlers‘ Bedauern muss er die „methodologisch irreführende Fortwirkung“ (ebd., S. 249) der Differenzierung von Gemeinschaft und Gesellschaft nach Tönnies feststellen. Deutliche Spuren solcher Fortwirkung findet Adler bei Ottmar Spann (ebd.), Karl Dunkmann (ebd., S. 258) und Franz Oppenheimer (ebd.).

Adlers heftige Ablehnung der Überlegungen Tönnies’ ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass er selbst inhaltlich mit seinem Buch sehr nahe an die Tönnieschen’ Ausführungen herankommt, was er selbst sich jedoch nicht eingestehen kann oder möchte.

Wie der Historiker Detlef Siegfried als erster deutlich machte, bewegte sich Tönnies als Lehrender des Kieler Instituts für Weltwirtschaft in einem radikalen Milieu, denn einige der Studenten und Studentinnen, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gehörten unterschiedlichen linken Strömungen an.Footnote 11

Eine besondere Stellung in dieser Betrachtung nimmt der Soziologe und spätere Historiker Alfred Meusel (1896–1960) ein. Denn er gehört unmittelbar zum Schüler-Kreis von TönniesFootnote 12 und studierte in Kiel in den Jahren 1918 bis 1922 u. a. Nationalökonomie, Soziologie und Geschichtswissenschaft. Die beiden verbindet eine gegenseitige Wertschätzung, die sich in einem jahrelangen persönlichen wie brieflichen Austausch manifestierte.Footnote 13 Tönnies förderte auch Meusels wissenschaftliche Laufbahn. Meusel tritt darüber hinaus als Rezensent und in verschiedenen Artikeln als kritischer Kommentator Tönnies‘ in Erscheinung. Politisch entwickelte sich Meusel im Laufe der Zeit von einem Anhänger der USPD (1918), der SPD (1921) zu einem Sympathisanten der KPD und wird 1937 deren Mitglied.

Hinsichtlich der soziologischen Methodik orientiert sich Meusel nicht an Tönnies, sondern an Max Weber. Der Einfluss von Tönnies macht sich hingegen bei der Frage des ‚tragischen Bewußtseins‘ (Wierzock) stark bemerkbar, denn Meusel teilt dessen pessimistischen Ansichten über die weitere gesellschaftliche Entwicklung (Wierzock 2018a, S. 27 f.).

Über den Einfluss von Gemeinschaft und Gesellschaft schreibt Meusel 1927 in einer Besprechung über Tönnies‘ Sammelband Fortschritt und soziale Entwicklung (Tönnies 1926) wie folgt: „Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die in unseren Tagen nicht nur in der Jugend mächtig ist, wenngleich aus ihren Reihen vor allem der Ruf nach Neuer Gemeinschaft erschallt, ist eine der Ursachen gewesen die Tönnies‘ Werk […] in den breiten Strom der geistig kulturellen Bestrebungen gerissen hat“ (Meusel 1927, S. 383, Hervorhebungen im Original). Außerdem stellt er eine direkt an Tönnies gerichtete Frage, die hier vollständig wiedergegeben sei: „ist der Zersetzungsprozeß von Gemeinschaft in Gesellschaft unaufhaltsam […] oder ist gerade die Negation der Gemeinschaft in der Gesellschaft die Grundlage einer neuen affirmatio, eines Sozialzustandes, in dem sich die größere Intensität des sozialen Empfindens einer gemeinschaftserfüllten Zeit mit der Achtung vor den Freiheitsrechten des Individuums verbindet?“ (ebd., S. 382 f.) Meusel ist der Auffassung, dass „niemand berufener“ zur Beantwortung dieser Frage sei als Tönnies (ebd., S. 383). Tönnies hat sich einer eindeutigen Antwort darauf, ob und inwiefern eine Wiederbelebung von Gemeinschaft möglich ist, stets entzogenFootnote 14 und ist – soweit bekannt – auch Meusels direkter Aufforderung nicht nachgekommen.Footnote 15

Die Tönnies-Rezeption bei Siegfried Kracauer

Der Soziologe, Filmtheoretiker und Philosoph Kracauer (1889–1966) beschäftigte sich in mehreren seiner journalistischen Veröffentlichungen mit Tönnies. In seiner Auseinandersetzung wird deutlich, dass Tönnies nicht nur Gegenstand akademischer Diskurse war, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit behandelt wurde. Ob Kracauer sich mit seinen Freunden Adorno und Horkheimer, den beiden späteren Köpfen der Kritischen Theorie, über Tönnies ausgetauscht hat, ist unbekannt. Als erstes erschien 1925 eine ebenso kritische wie wertschätzende Besprechung des 1922 gedruckten Werkes Kritik der öffentlichen MeinungFootnote 16. Hier weist Kracauer darauf hin, dass Tönnies „die grundlegende Untersuchung über »Gemeinschaft und Gesellschaft« [zu] verdanken“ (Kracauer 2011, S. 525) ist. Tönnies’ Beitrag in der Festgabe für Max Weber beurteilt Kracauer als „wertvoll“.Footnote 17 Die Beschäftigung mit dem Thema und der Problematik von Gemeinschaft wird in seiner Sammelrezension mit dem Titel „Philosophie der Gemeinschaft“ vom 30. Oktober 1924 deutlich, in der Kracauer Werke von Helmuth Plessner, Karl Dunkmann und Hans Pichler bespricht. Schon im ersten Satz verweist er auf Tönnies: „Das deutsche Denken der Gegenwart hat seit Ferdinand Tönnies (vergl. dessen grundlegendes Werk: »Gemeinschaft und Gesellschaft«) den Begriff »Gemeinschaft« zu einer Kategorie erhoben, die es strikte gegen den Begriff »Gesellschaft« setzt“ (Kracauer 2011a, S. 148). Auch in seinem Artikel anlässlich des 70. Geburtstages des SoziologenFootnote 18 spricht Kracauer von dessen grundlegendem Werk (ebd., S. 270–271) und nennt ihn „eine[n] der Väter der jungen Soziologie“ (ebd., S. 270, Hervorhebungen im Original). Die „Grundbegriffe“ seien „längst“ ganz im Sinne von Tönnies „Allgemeingut geworden“ (ebd.). Kracauer betont darüber hinaus auch das prinzipielle Denken von Tönnies wie folgt: „Unabhängigkeit der Gesinnung zeichnete ihn von jeher aus; er hat offen sich zur Republik bekannt und wiederholt den theoretischen Bereich verlassen, um seine weltzugewandte demokratische Denkweise durch die Stellungnahme zu sozialen und politischen Tagesfragen praktisch zu bewähren.“ (ebd., S. 271).

Die Tönnies-Rezeption in der praktischen Politik

Spuren einer Tönnies-Rezeption, die sich auch in der praktischen Politik niederschlugen, sind schwierig auszumachen. Entsprechend spärlich sind die Rechercheergebnisse: In der Literatur wird lediglich Rudolf Hilferding (1877–1941) genannt, der u. a. in der Weimarer Republik zwei Mal das Amt des Finanzministers bekleidete. Insbesondere Hilferdings konzeptionelle Überlegungen zu einer organisierten Form des Kapitalismus sind nach Darstellung Jan Greitens’ unter dem Einfluss der Lektüre Tönnies‘ entstanden (Greitens 2019).Footnote 19

Eine andere Rezeptionslinie in die praktische Politik besteht möglicherweise über Tönnies’ Verbindung zu dem bereits erwähnten Karl Vorländer, aber auch Franz Staudinger (1849–1921), dem Tönnies ebenfalls freundschaftlich verbunden war und der als Praktiker des Konsumgenossenschaftswesens Wirkung entfaltete. Diese beide wiederum standen, ebenso wie Tönnies, in Kontakt und Austausch mit verschiedenen sogenannten Revisionisten aus den Reihen der Sozialdemokratie. Der bekannteste Name dürfte dabei Eduard Bernstein sein, der u. a. maßgeblich das Görlitzer Programm der SPD von 1921 entwickelte.Footnote 20

War Tönnies ein Marxist?

In der Mehrzahl der Kritiken, die posthumen hinzugenommen, wird Tönnies nicht als Marxist gesehen. Ausnahmen sind der bereits erwähnte Heinrich Cunow und der sozialistische Publizist Max Beer (1864–1943). Letzterer schreibt in seiner Besprechung der Tönniesschen Marx-Monographie: „Professor Tönnies ist nichts weniger als Marxist“ (Beer 1921, S. 404). Tönnies übe Kritik an Marxschen Gedanken und Theorien, halte aber den „ganzen Gedankenbau für ungewöhnlich“ (ebd.) und beurteilt Marx alles in allem explizit positiv.

Karl August Wittfogel (1896–1988), kommunistischer Soziologe und Sinologe, lange Jahre dem Kreis um das Frankfurter Institut für Sozialforschung zugehörig, bezeichnete, noch bevor er während des Kalten Krieges entschiedener Antikommunist wurde, Tönnies 1931 als einen „Pseudosozialist[en]“, der auch kein „Kryptomarxist“ sei (Wittvogel 1982, S. 600, zuerst 1931 erschienen).Footnote 21 Er habe Marx „in oft grotesker Weise mißverstanden“, mit dem Ziele der Verbesserung und Berichtigung (ebd.). Dies bewertet Wittfogel aber als „Versuch der Diffamierung und Bekämpfung der Revolution“ (ebd., S. 613). Er urteilt über Tönnies, dieser habe „weder den Theoretiker noch den mi diesem untrennbar verbundenen großen Revolutionär Marx auch nur oberflächlich verstanden“ (ebd., Hervorhebungen im Original).Footnote 22

Für eine umsichtige Antwort auf diese Frage müssten allerdings die zahlreichen Texte von Tönnies zum Thema Historischer Materialismus, Sozialismus und Marx etc. einer eingehenden Prüfung unterzogen werden, die an dieser Stelle Künftigen überlassen werden muss.

Abweichend vom übrigen Textcharakter sei es an diesem neuralgischen Punkt erlaubt, ein vorläufiges Urteil zu fällen: Am ehesten kann er aber als Staatssozialist eingeordnet werden, der nicht an den radikalen Wandel durch Revolution glaubte, sondern ganz entschieden auf ausgleichende politische Prozesse zwischen Kapital und Arbeit, Bourgeoisie und Proletariat setzte und Gewalt vollkommen ablehnte. Ein gesellschafts-politischer Zustand ohne eine stabile politisch-staatliche Ordnung war ihm, so viel ist aus der Lektüre seiner Werke herauszulesen, ein Greuel. Er war ein intimer Kenner insbesondere des Marxschen Kapitals, entwickelte aber ein eigenes Verständnis der Genese des Kapitalismus, die auch im Kontrast zur zeitgenössischen Protestantismus-These Max Webers steht. Sein Denken kann als eindeutig antikapitalistisch bewertet werden. Zahlreiche seiner)der zeitgenössischen deutschen wie englischen, gelegentlich auch französischen und italienischen sozialistischen und historisch-materialistischen Literatur und Diskussionen aus. Die Entwicklung des Genossenschaftswesens war einer seiner Interessensschwerpunkt, ebenso wie die Entwicklung der sozialen Frage. Dabei hatte er auch die Bewegungen und Prozesse außerhalb des deutschsprachigen Raumes im Blick, war also durchaus Internationalist.

2 Posthume Rezeption

Auch nach seinem Tod am 9. April 1936 blieben Tönnies und sein Hauptwerk Gegenstand linker Rezeption und Kritik.

Dass sich der Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi (1886–1964) mit Gemeinschaft und Gesellschaft offensichtlich beschäftigt hat und sich mindestes strukturelle Verbindungen hierzu in seinem Hauptwerk The Great TransformationFootnote 23 finden, machen Gareth Dale und Michael Brie in ihren einschlägigen Veröffentlichungen deutlich (Dale 2008 und Brie 2019). Hier bedarf es weiterer Analyse, um die Verknüpfungen zu erforschen.

Tönnies und Entfremdung

Wie bereits kurz erwähnt, hat sich Tönnies nie zum Begriff der Entfremdung geäußert. Nichtsdestotrotz lässt insbesondere die Lektüre von Gemeinschaft und Gesellschaft eine Verbindung und Auseinandersetzung mit dieser Thematik zu. Das maßgebliche Werk hierzu hat Fritz Pappenheim in den Vereinigten Staaten 1959 veröffentlicht. Das Buch erlebte mehrere Neuauflagen. Der Sozialist Pappenheim war Tönnies persönlich verbunden, hatte 1928 eine längere Darstellung über dessen aktuelle Veröffentlichungen publiziert (Pappenheim 1928), rezensierte den dritten Band der Soziologischen Studien und Kritiken (Pappenheim 1930) und verfasste 1936 im Exil auch einen Nachruf (Pappenheim 1936). Außerdem hatte er in den 1920er Jahren Tönnies an der Kieler Universität besucht. In seiner Monographie The Alienation of Modern Man An Interpretation Based on Marx and Tönnies (Pappenheim 1959) vergleicht Pappenheim die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx in ihrer Entfremdungsthematik mit Gemeinschaft und Gesellschaft, erkennt eine strukturelle Verwandtschaft in den beiden Werken und wendet die Diagnose analytisch auf die moderne industrielle US-Gesellschaft an. Den Kernpunkt bildet dabei das vierte von insgesamt fünf Buchkapiteln. Meines Wissens hat niemand sonst dieses Motiv verfolgt. Im deutschsprachigen Raum wurde Pappenheims Arbeit nur am Rande wahrgenommen, eine nennenswerte Rezeption ist nicht nachweisbar. Dass Tönnies die Pariser Manuskripte selbst nicht rezipiert hat, darauf geht Pappenheim nicht ein.

Der linke Sozialwissenschaftler Joachim Israel (1920–2001) führt zwar Gemeinschaft und Gesellschaft in seinem Buch zum Begriff der Entfremdung, geht aber nie inhaltlich auf Tönnies’ Werk ein, sondern betrachtet die mit Gemeinschaft und Gesellschaft bezeichnete historisch-gesellschaftliche Entwicklung als übergeordnete Problematik, die auf die gesellschaftliche Ausbreitung von Entfremdung einen großen Einfluss hat und als eine der Ursachen für diese Entwicklung ausgemacht werden kann (Israel 1972, S. 51 und S. 383).

Tönnies in der Kritischen Theorie und bei Heinz Maus

Theodor W. Adorno (1903–1969) äußerte sich 1952 in einer Rede mit dem Titel Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland (Adorno 1998) im Rahmen seiner Betrachtung der Entwicklung der deutschen Soziologie wie folgt: „Ferdinand Tönnies, dem die neuere Soziologie gewiß viel verdankt, hat diese Begriffspolarität, unter Abstraktion von dem philosophischem Zusammenhang, der ihr Sinn und Begrenzung verlieh, als alleiniges Ordnungsprinzip der gesellschaftlichen Erkenntnis zugrunde gelegt. Seine Absicht dabei ist die lauterste gewesen: die Soziologie in den Dienst der Herstellung menschlicher Verhältnisse zu stellen. Indem er aber die Begriffe der Gemeinschaft und Gesellschaft zu ausschließlichen Klassifizierungsprinzipien machte, hat er sie nicht nur vergröbert, nicht nur ein partielles Moment zum alleinherrschenden erhoben, sondern dem Unfug Tür und Tor geöffnet. Die zwei dünnen Begriffe erlaubten es der deutschen Soziologie in ihrer vorfaschistischen Verfallszeit, die gesellschaftliche Welt nach Schafen und Böcken aufzuteilen. Gemeinschaft galt es gut, Gesellschaft für schlecht. Von dort war nur noch ein Schritt bis zum Kultus naturwüchsiger Verhältnisse, von Blut und Boden, von der Rasse – Konsequenzen, von denen Tönnies, der selber von den Nazis diffamiert wurde, niemals sich hätte träumen lassen. Noch heute trägt die deutsche Soziologie Spuren dieser Denkweise.“ (ebd., S. 480 f.). Kritik an Adorno übte die streitbare, linke Publizistin Sibylle Tönnies (1944–2017)Footnote 24 in ihrem 1996 erschienen Buch Die Feier des Konkreten, das in seiner Gesamtheit eine polemische Abrechnung mit dem Philosophen darstellt (Tönnies 1996). Adornos Aussagen würde viel mehr auf ihn selbst zutreffen als auf Tönnies (ebd., S. 74). Dessen Werk allerdings leide „unter dem verkrampften Versuch, sich positivistischen Wissenschaftsanforderungen zu unterwerfen“ (ebd.). Sybille Tönnies verteidigt aber die „Gemeinschaft-und-Gesellschaft-Konzeption“ als „energische Zurückweisung aller ideologischen Übergriffe aus dem Gesellschafts- und Gemeinschaftsterrain, aller Versuche eine falsche Idylle zu schaffen“ (Tönnies 1987, S. 157), zugleich qualifiziert sie Tönnies als „Apologet[en] der Gemeinschaft“ (ebd.).

Adorno hatte Tönnies und sein Hauptwerk in einem Vortrag im Jahr 1951 über die Aktualität der Soziologe als ein Beispiel der „traditionelle[n] deutsche[n] Soziologie“ angeführt, deren Ausführungen „in ihrer unmittelbaren überkommenen Form“ der Realität der Gegenwart nicht mehr genüge (Adorno 2019a, S. 38). Adorno führt als Begründung zum einen den größtenteils „spekulative[n] Charakter“ der Aussagen an, zum anderen habe sich diese Soziologie teilweise willentlich, teilweise unwillentlich, „in den Dienst der ideologischen Verschleierung“ gestellt (ebd.). Anstatt sich auf empirische Fakten zu berufen, habe man sich im Nachgang zum „zergangenen“ Idealismus in seinen verschiedenen Ausprägungen nur mit „begriffliche[r] Konstruktion“ beschäftigt, die immer schwächer geworden sei in ihrer Entwicklung hin zu einem „bloße[n] Empirismus“, der zunehmend abgetrennt von den „philosophischen Konzeptionen“ entstand und nicht mehr in der Lage war, die eigentliche selbstgestellte Aufgabe adäquat zu lösen (ebd., S. 38 f.). Als Untermauerung seiner Argumentation führt Adorno Gemeinschaft und Gesellschaft an, das er gleichwohl ein „verdienstliches Buch“ (ebd., S. 39) nennt: An diesem könne man „sehen, wie dünn im Laufe dieser Entwicklung die Begriffe geworden sind, und je dünner die Begriffe geworden sind, eine um so größere Gewalt mußten sie dann der Realität antun, um nur ja alles, was überhaupt begegnet ist, unter ein derartig enges und beschränktes Thema zu zwingen.“ Im Ergebnis entstehe, so Adorno, „eine bestimmte Art der Respektlosigkeit gegenüber dem Seienden, die dann, ganz gewiß entgegen der Gesinnung von Gelehrten, wie Tönnies einer war, schließlich doch geholfen hat, eine Stimmung vorzubereiten, in der man ohne Rücksicht auf die ‚stubborn facts‘ auf die unwiderleglichen Elemente der Realität, gerade im Bereich der gesellschaftlichen Konstruktion sich berechtigt geglaubt hat, irgendwelche Werthierarchien starr und ohne jede Kontrolle zu errichten, die dann schließlich geendet haben in der Unterscheidung derer, die umgebracht werden sollen von Staats wegen, und deren, mit denen das nicht der Fall ist“ (ebd.). Die „Verachtung der Empirie“ war für Adorno eine der Voraussetzungen für den Nationalsozialismus (ebd., S. 40). Als Person war also Tönnies erneut von jeglicher Schuld freigesprochen, aber seine Konstruktion von Gemeinschaft und Gesellschaft habe die gedankliche Entwicklung hin zum Nationalsozialismus mitbestimmt.

Ein drittes Mal geht Adorno kurz auf Tönnies und sein Hauptwerk 1957 in einem Vortrag (Adorno 2019b) ein. Erneut klingt eine gewisse Hoch- und Wertschätzung an, aber Kritik unterbleibt. Auch diese Passage verdient es, vollständig zitiert zu werden, denn Adorno beschäftigt sich hierin erneut mit der nationalsozialistischen Ideologie: „Aber eine Reihe der spekulativen Begriffe der Soziologie wurden in der unvermeidlich verwässerten und heruntergekommenen Weise, die alles sogenannte nationalsozialistische ‚Geistesgut‘, wie man das so schön genannt hatte, kennzeichnet, eben doch verwertet. Ich darf Sie dabei etwa erinnern an das Begriffspaar, das den Titel des berühmten Buches von Ferdinand Tönnies abgibt, ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘. Diese beiden Begriffe, die von dem ehrwürdigen Gelehrten ganz anders gemeint waren, sind dann in das nationalsozialistische Vokabular eingedrungen in der Weise, daß ‚Gemeinschaft‘ nun einfach ein Positives, nämlich die Verbundenheit der durch ‚Blut und Boden‘ Zueinandergehörigen bezeichnen sollte, während ‚Gesellschaft‘ die böse Verbindung der rationalistisch-kapitalistischen westlichen Länder vorab charakterisieren sollte, wobei natürlich, wenn ich das vorwegnehmen darf, unterschlagen worden ist, daß auch in Deutschland, als einem hochindustrialisierten Land, in Wirklichkeit alles eher als Gemeinschaft vorwaltete; daß in Deutschland die Menschen also nicht in einem so unmittelbaren Verband gelebt haben wie ein Clan oder eine Horde in primitiven oder rein agrarischen Gesellschaften, sondern daß es sich immer um Gesellschaft, nicht um Gemeinschaft handelte und daß die ganze Gemeinschaft, die man uns serviert hat, eigentlich nur ein äußerlicher Aufputz war, der an das Wesen der Gesellschaft überhaupt nicht rührte.“ (ebd., S. 190).

Tönnies wurde auch in den Seminaren Adornos thematisiert. Aufschluss gibt das Protokoll vom 5. Juni 1962 im Hauptseminar Grundbegriffe der Soziologie (Adorno 2021, S. 337–343). Adornos eigene Bewertung wird hier wie folgt wiedergegeben: Tönnies habe „die gesellschaftliche Arbeit“ als „Wurzel […] sekundäre[r] Formen der Beziehungen zwischen Individuen“ unterschlagen (ebd., S. 342). Tönnies neige zudem zur neologistischen Sprachschöpfung (ebd., S. 340) und schaffe es insgesamt nicht, „das soziale Leben“ zu erfassen (ebd., S. 341).

Von Max Horkheimer (1895–1973) ist lediglich bekannt, dass er 1964 an Günther Rudolph schreibt, er zähle Tönnies „ohne Zweifel zu den großen Figuren der deutschen Soziologie“Footnote 25. Außerdem erwähnt Rudolph, dass sich Horkheimer bereits im Rundfunk 1963 über Tönnies in eben dieser Weise geäußert habe (Rudolph 1995, S. 22).

Immerhin konnte Tönnies 1935 in der Zeitschrift für Sozialforschung eine Besprechung unterbringen (Tönnies 1998a, S. 428–442). Die Schriftleitung der Zeitschrift leitet Tönnies’ Beitrag wie folgt ein: „[…] Dem Wunsch von Geheimrat Tönnies, ihm unsere Zeitschrift für eine ausführliche kritische Beurteilung des norwegischen Professors Bosse über das Recht auf Arbeit zur Verfügung zu stellen, sind wir gerne gefolgt, obwohl Problemstellung und Problembehandlung in diesem Werk uns nicht im Zentrum der gegenwärtigen Aufgaben der Sozialforschung zu stehen scheinen. Es wird von allgemeinem Interesse sein zu hören, wie Professor Tönnies, der die Soziologie auf deutschen und ausserdeutschen Universitäten nachhaltig beeinflusst hat, in der heutigen Situation wissenschaftlich argumentiert. Eine Stellungnahme behalten wir uns vor. […].“ (Tönnies 1998b, S. 534). Diese Worte lassen eine grundlegende Wertschätzung für Tönnies anklingen, ohne dass damit eine inhaltliche Zustimmung verbunden wäre. Außerdem gibt es einen von Tönnies auf Englisch verfassten Brief an Horkheimer, der auf den 17. Oktober 1935 datiert ist.

Der in Marburg lehrende nonkonformistische Soziologe Heinz Maus (1911–1978) merkt in einem Artikel aus dem Jahr 1959 nur kurz an, dass – im Grunde schon lange vor 1933 – „wider Tönnies’ Absicht“ die in Gemeinschaft und Gesellschaft dargelegten „Strukturen zwischenmenschlichen Verhaltens zu einem politisch allzu brauchbaren, eindeutigen Gegensatz hypostasiert worden waren“ (Maus 1959, S. 77, Hervorhebungen im Original). Die Veröffentlichung der letzten Auflage des Buches 1935 ebenso wie das Erscheinen von Geist der Neuzeit im Jahr darauf im Jahr Verlag Hans Buske führt Maus auf die „Protesthaltung des jungen Verlegers Hans Buske“ zurück und nicht auf die Politisierung der Begrifflichkeiten und trifft damit durchaus, was sich inzwischen auch in den Quellen erwiesen hat (ebd.).Footnote 26

In seinem mehr als 100 Seiten langen Beitrag über die Geschichte der Soziologie im von Werner Ziegenfuß (1904–1975)Footnote 27 1956 herausgegebenen Handbuch der Soziologie bezeichnet Maus Tönnies’ Buch gemeinsam mit Ludwig Gumplowicz’ Grundriß der Soziologie (1885) als „die ersten grundlegenden, zur eigentlichen Soziologie zählenden Arbeiten in deutscher Sprache“ (Maus 1956, S. 12). Gemeinschaft und Gesellschaft bleiben für Tönnies bis zuletzt die grundlegenden Begrifflichkeiten und „wider allen modischen Gemeinschaftskult“ (ebd., S. 64) bekenne sich Tönnies zum ‚Geist der Neuzeit‘, der, so erhoffe sich Tönnies, „zu einem liberalen Sozialismus“ (ebd.). Zugleich spreche sich Tönnies in seinem letzten Werk gegen den Nationalsozialismus aus (ebd., S. 114).

Der marxistische Soziologe Karl-Hermann Tjaden (1935–2021)Footnote 28 führt Tönnies mehrfach in seiner Habilitationsschrift Soziales System und sozialer Wandel (Tjaden 1969) auf. Gleich zu Beginn wird Tönnies als einer derjenigen Denker der Soziologie genannt, die „den Gedanken einer in sich einheitlichen Theorie“ (ebd., S. 1) vorbereitet haben. Die „Loslösung des Gegenstandsbereichs der Soziologie aus den Dimensionen der Natur und Geschichte“ sei auch von ihm „[konsequent] … vollzogen worden“ (ebd., S. 36), schon in Gemeinschaft und Gesellschaft. Tjaden bescheinigt Tönnies insbesondere mit seiner Differenzierung des Willens eine „besondere Bedeutung […] in der soziologischen Dogmengeschichte“ (ebd., S. 60).

Rezeptionslinien in der Deutschen Demokratischen Republik

In der Wissenschaft der DDR wurde Tönnies nur randständig und dabei überwiegend abschätzig rezipiert, mit zwei nennenswerten Ausnahmen.Footnote 29 Während der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Kurt Braunreuther (1913–1975) Tönnies als einen unter mehreren Denkern behandelt, war es der Ökonom und Soziologe Günther Rudolph (1929–2017), der in den 1960er Jahren über ihn promovierteFootnote 30 – Braunreuther war sein Doktorvater – und sich auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder mit Tönnies beschäftigte.

Eine erste größere Spur der Rezeption findet sich 1962 in einem Band zur deutschen Philosophie der Jahre 1895 bis 1917, dessen Inhalt zu Teilen aus der mehrbändigen Geschichte der Philosophie, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, stammt. Der erste Abschnitt wurde von dem Philosophen Wolfgang Heise (1925–1987) verfasst (Heise 1962). Tönnies wird von ihm der bürgerlichen Soziologie zugeordnet und die „Widersprüchlichkeit“ dieser werde bei ihm „besonders sichtbar“ (ebd., S. 53). Er sei „zunächst Sprecher kleinbürgerlicher Bedürfnisse und Illusionen“ gewesen und habe „dem rechten Flügel innerhalb der Sozialdemokratie“ nahegestanden (ebd.). Da Tönnies in Gemeinschaft und Gesellschaft vom Denken und Wollen ausgehe wird sein Ansatz als idealistisch bezeichnet. Ferner sei er ein Voluntarist, der die Gesellschaft psychologisch interpretiere. Die Geschichte werde bei ihm enthistorisiert, die Soziologie psychologisiert und die Wirtschaft als nachrangig behandelt (ebd., S. 54). Dass sich Tönnies kapitalismuskritisch äußert, wird anerkannt, aber seine Kritik sei „Kritik von rechts, vom Standpunkt der Apologetik vorkapitalistischer Formationen, vom konservativen Standpunkt der historischen Schule“ (ebd., S. 54 f.). Tönnies begreife nicht, dass die Produzenten durch die Produktion beherrscht würden, sondern vertausche dieses Verhältnis. Seine Vorstellungen von Sozialismus seien die eines Staatskapitalismus (ebd., S. 55). Der Pessimismus in Tönnies’ Schrift spiegele „die Perspektivlosigkeit“ der vom Untergang der kapitalistischen Ordnung betroffenen, besitzenden Klassen und Schichten wieder, die zudem große Furcht von dem Sozialismus hätten – „[i]insofern ist Tönnies’ Konzeption zutiefst reaktionär.“ (ebd., Hervorhebungen im Original) Dies liefere auch die Erklärung für die reformistischen Ansätze von Tönnies. Sein Sympathisieren mit dem Historischen Materialismus und dem Kommunismus wird als „Täuschung, Selbsttäuschung und Demagogie“ bewertet. Tönnies’ „romantischer Antikapitalismus“ sei „objektiv ein Element der spezifisch imperialistischen ‚‚Gemeinschafts’demagogie‘ geworden, auch wenn einzelne Elemente durchaus treffend gewesen seien (ebd.) Aber bereits sein „Gemeinschaftsideal“ sei grundlegend reaktionär: die „rückständige[n] Verhältnisse“ würden verklärt, die Konzeption sei an sich völlig irrational, denn nicht auf Wissenschaft aufbauend, sondern auf Gefühlen und es handle sich um eine Konstruktion sowohl gegen den Kapitalismus wie auch Sozialismus (ebd., S. 55 f.). Tönnies würde fälschlicherweise die Gemeinschaft „jenseits“ des Klassenkampfes suchen – der aber gerade eben nötig sei, um Gemeinschaft überhaupt zu erreichen (ebd., S. 56). Ohne dies anzustreben, habe Tönnies mit seinen Überlegungen die Vorlage für diejenigen Gemeinschaftskonzeptionen geliefert, an deren Ende die „[hitlerfaschistische] ‘Volksgemeinschaft‘“ steht (ebd.).

Heise erwähnt Tönnies auch in seinem 1964 erschienenen Buch Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, das auf seiner im Jahr zuvor eingereichten Habilitationsschrift beruht. Er kontrastiert Tönnies’ Denken mit dem von Nietzsche, beiden verkörperten eine spezifische Form bürgerlichen Krisenbewusstseins:

„Während bei Nietzsche der Klassenaffekt gegen den revolutionären Kampf der Volksmassen im Vordergrund steht, ist es bei Tönnies die aufdämmernde Ahnung der Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber der immanenten Entwicklungstendenz des Kapitalismus, gegenüber der sachlichen Übermacht der gesellschaftlichen Verhältnisse, gegenüber der Macht des Kapitals und seiner Bewegung. Ist die Ausgangsposition Nietzsches charakteristisch für weltanschaulich-politische Kampfpositionen, die entwickelt werden, so diejenige Tönnies’ für die zahlreichen Diagnosen, welche ein Unbehagen am Kapitalismus reflektieren und eine solche Theorie liefern, die über eine Scheinkritik illusionärer Versöhnung der sozialen Gegensätze und der Fixierung der Ohnmacht gegenüber den materiellen Beziehungen führen“ (Heise 1964, S. 164).

Heise ist der Auffassung, dass Tönnies „theoretisch-methodologische Grundkonzeption“ zu Ergebnissen führe, die Tönnies selbst „bewußt“ nicht beabsichtigte. Tönnies sei Begründer „der modernen enthistorisierenden und psychologisierenden Methode in der deutschen Soziologie“. Er habe einerseits die „Protestimmungen“ des Kleinbürgertums und der Bauern zum Ausdruck gebracht, habe sich bei Marx und Engels umfangreich bedient, anderseits habe er „den empirischen Inhalt in ein theoretisches System ahistorischer Kategorien“ gebracht, „das dann schulbildend für die imperialistische Demagogie für die Kleinbürger und für das Aufnehmen und Umbiegen antikapitalistischer Stimmungen werden konnte“ (ebd.).

Tönnies habe sich zwar in der Darstellung des ausbeutenden Charakters des Kapitalismus vielfach beim Marxismus bedient, aber dann einen völlig anderen Bezugsrahmen erstellt, den „kreislaufartig[en]“ Vollzug der Geschichte von der Gemeinschaft hin zur definitiv zum Untergang verurteilten Gesellschaft (ebd., S. 165).Footnote 31 Heise kritisiert vor allem das Fehlen einer revolutionären Perspektive (ebd., S. 166) und wirft Tönnies vor, Sozialismus lediglich als „Variante des Gleichen“ zu denken und nicht als qualitativ andere Ordnung (ebd., S. 165). Anstatt der „Dialektik des Materialismus“ werde „eine subjektivistische, voluntaristische Metaphysik“ wirksam (ebd., S. 166). Die Gemeinschaft bestünde bei Tönnies so „jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, jenseits des Klassenkampfes“. Diese Vorstellungen bräuchten in der Folge nicht mehr wesentlich verändert zu werden, damit „aus der reaktionären Sehnsuchtsutopie dieser Gemeinschaft die imperialistische Demagogie eines dritten Weges und der Scheinrevolution durch eine Gemeinschaftsbildung auf dem Wege bloßer Willenserneuerung oder Erweckung wurde.“ (ebd.).

Abschließend hält Heise fest, dass bei Tönnies jeglicher Fortschritts- und Technikglaube verloren gegangen sei. Die ihm nachfolgenden bürgerlichen Philosophen brächten „[i]m Grunde“ das von Tönnies Vorweggenommene nur noch in ihrer jeweiligen „spezifischen Interpretation“ (ebd.).

Wie erwähnt handelt sich hier um die Publikation seiner wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit, die Heise zu einer Professur verhelfen sollte. Möglicherweise bewegten den Autor auch ideologisch-wissenschaftsstrategische Motive, die ihn zu seiner Tönnies-Analyse brachten.

Kurt Braunreuther erachtet es in einem Text aus dem Jahr 1964 für falsch, Tönnies „subjektiver präfaschistischer oder faschistischer Sympathien zu verdächtigen“ (Braunreuther 1964, S. 56). Aber „hinsichtlich der objektiven Wirkung seiner Ideen in dieser Richtung“ könne er „nicht von der historischen Verantwortung freigesprochen werden“ (ebd., S. 57). Denn der „intellektuelle Arbeiter kann bezüglich negativer Wirkungen seiner fixierten und der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Gedanken nicht entlastet werden“ (ebd.). Dass aber „reaktionäre Kräfte“ seine Ideen verfälscht haben, sei ihm nicht anzulasten. Schuldig sei er dann aber doch, denn Tönnies sei passiv und nicht wachsam gegenüber solcherlei „Mißbräuchen“ gewesen (ebd.) Braunreuther rechnet ihm hoch an, sich auch während der Zeit des Nationalsozialismus in der achten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft und im Geist der Neuzeit positiv auf Marx und Engels zu beziehen (ebd.). Abschließend bezeichnet er ihn als einen „müde[n] bürgerliche[n] Republikaner und gemäßigte[n] Demokrat[en] im Zeitalter des Imperialismus“ (ebd., S. 58).

Für Braunreuther ist Tönnies ein Vertreter des „bürgerlich-ökonomistischen Materialismus“ (ebd., S. 49), der zudem eine „subjektivistische Werttheorie“ (ebd., S. 51) vertrete. Gemeinschaft und Gesellschaft beurteilt Braunreuther als „ideelle […] Typen“ einer „soziologische[n] Geschichtsauffassung“ (ebd., S. 54), mit denen Tönnies das System sowie die Verhältnisse von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und Produktionsverhältnissen und Überbau „auf den Kopf“ stelle (ebd., S. 56). Ursache hierfür ist die von Tönnies verwandte „psychologische Kategorie des Willens“, worin er „philosophisch-idealistisch den menschlichen Willen verabsolutiert“ (ebd.). So kann Tönnies für Braunreuther nur sehr bedingt den tatsächlichen Verhältnissen auf den Grund gehen.

Differenzierter argumentiert 1967 die Dissertation von Günther Rudolph. Die Arbeit gehört zu den wichtigsten Forschungswerken über Tönnies und ist bis heute lesenswert und erkenntnisbringend. Welche ideologischen Schwierigkeiten und Verrenkungen mit dem Verfassen einer Arbeit über den bürgerlichen Soziologen verbunden war, schildert Rudolph in seiner Vorbemerkung aus dem Jahr 1995 (Rudolph 1995). Als Buch konnte die Doktorarbeit erst nach dem Ende der DDR publiziert werdenFootnote 32, zuvor existierte nur eine mehrfach vervielfältige Manuskriptfassung. Rudolph arbeitet die in seinen Augen widersprüchliche Lage von Tönnies heraus – einerseits die Kritik der kapitalistischen Verhältnisse und Entwicklung, ohne allerdings andererseits „auf die Positionen des sozialistischen Proletariats“ (Rudolph 1995, S. 229) überzugehen.

Mit Bezug auf Gemeinschaft und Gesellschaft stellt Rudolph positiv heraus, dass Tönnies im Gegensatz zu anderen bürgerlichen Soziologen die Gesellschaft als „funktionales Ganzes“ (ebd., S. 193) betrachte und prinzipiell eine Sozialkritik verfasst hat (ebd., S. 192). Ebenso herausragend sei der offen vertretene positive Bezug auf Marx (ebd., S. 193).Footnote 33 Aus historisch-materialistischer Perspektive verbleiben aber auch jede Menge Kritikpunkte. Insbesondere die „Abfolge der Gesellschaftsformationen“ (Rudolph 1995, S. 196) weicht mit Blick auf die Vergangenheit und die Zukunft entscheidend von den Entwürfen und Einteilungen des Historischen Materialismus ab (ebd., S. 195 f.). Auch die Fokussierung Tönnies’ auf den Willen verhindere, dass er in seiner „Begründung der gesellschaftlichen Beziehungstotalität“ (ebd., S. 193) das Niveau marxistischer Überlegungen erreiche, aber immerhin sei er gegenüber anderen bürgerlichen Positionen hierin als fortgeschritten zu bewerten (ebd.). Rudolph verteidigt Tönnies entschieden gegen dessen zeitgenössische bürgerliche Kritiker. Aber auch gegen die marxistische Kritik, wie sie hier dargestellt wurde, lassen sich Rudolphs Gedanken richten. So urteilt er, dass die „tendenzielle Psychologisierung der Gesellschaftskategorien“ im Werk von Tönnies „nicht im Sinne einer subjektiven Individual- sondern im Sinne einer objektivierenden Sozialpsychologie“ zu verstehen sei (ebd., S. 194, Hervorhebungen im Original).

Eine solche niveauvolle und umsichtige Beschäftigung mit Tönnies und Gemeinschaft und Gesellschaft geschah erst wieder 1987, kurz vor dem Ende der DDR als selbständigem Staat. Am 19. November 1987 fand anlässlich des 100. Jahrestages des Erscheinens von Gemeinschaft und Gesellschaft ein Kolloquium der Sektion Marxistisch-leninistische Philosophie statt, dessen Ergebnisse 1989 in einem Sammelband abgedruckt wurden (Bauermann et al. 1989). Günter Rudolph war mit einem Aufsatz zur Kritik Tönnies’ an Nietzsche hieran beteiligt, außerdem verfasste er gemeinsam mit Dieter Pasemann einführende Vorbemerkungen, die in deutlichen Worten den bisherigen Umgang mit Tönnies’ Werk kritisieren. Rudolph und Pasemann betonen entschieden, dass Tönnies in der Tradition der Aufklärung gestanden und die Gemeinschaft, wenngleich „inkonsequent“ (ebd., S. 7), gegen romantische Sichtweisen verteidigt habe. Er habe ernsthaft und leidenschaftlich aufseiten der Arbeiterbewegung gestanden, habe sich positiv, wenn auch nicht ohne Widersprüche, auf Karl Marx bezogen, und sei als Kritiker rassistischer und sozialdarwinistischer Positionen aufgetreten. Während des Ersten Weltkriegs habe er keine chauvinistischen Ansichten vertreten, sondern habe sich sogar bemüht, ausgleichend zu wirken (ebd., S. 8). Als Tönnies’ „Grenze […]“ machen die beiden seine ablehnende Haltung gegenüber den durchaus gewalttätigen Revolutionsversuchen der Jahre 1918/1919 aus. Hinsichtlich des von ihm als Notwendigkeit angesehenen Sozialismus habe Tönnies eine evolutionäre Entwicklungserwartung vertreten (ebd., S. 9), weshalb er radikaleren Ansätzen deutlich eine Absage erteilte. Nicht zuletzt könne laut Pasemann und Rudolph in Tönnies ein „möglicher Verbündeter […] gegen die grassierende Nietzsche-Renaissance“ (ebd., S. 10) gefunden werden. Eben diese Positionen Tönnies’, die sich ohne weiteres in seinem Werk nachverfolgen ließen, seien bislang aus marxistischer Perspektive nicht hinreichend genug berücksichtig worden, was einer gerechten und umsichtigen Beurteilung Tönnies’ entgegenstand (ebd., S. 9).

Die elf folgenden interdisziplinären Beiträge zollen Tönnies’ Respekt und machen – immer unter Betonung einer marxistischen Grundhaltung – deutlich, dass sich eine wertschätzende und ausgewogene Beschäftigung mit Tönnies‘ lohnt und für eine reflektierte marxistische-leninistische Philosophie sogar notwendig sei. Eine Fortentwicklung solcher Einsichten entfiel angesichts der folgenden historischen Entwicklungen, eine marxistische Haltung war danach nicht mehr Voraussetzung für wissenschaftliche Aufmerksamkeit.

Anlässlich des 50. Todestags von Tönnies veröffentlichte Günther Rudolph einen Artikel im Neuen Deutschland (Rudolph 1986). Diese Veröffentlichung wurde von Wolfgang Harich (1923–1995), einem kommunistischen Philosophen und Journalisten, der in der DDR unter schwierigen Umständen lebte, bissig in einem zu Lebzeiten nicht veröffentlichten ArtikelFootnote 34 wie folgt kritisiert: Er habe die „Würdigung des Wirkens von Ferdinand Tönnies“ „nur mit gemischten Gefühlen aufnehmen“ können. Der Soziologie habe sich „um manches verdient gemacht“. Harich nennt Tönnies’ Nietzsche-Kritik und Hobbes-Forschung, erwähnt seine positive Bezugnahme auf Marx in Zeiten des Sozialistengesetzes und nennt ihn einen „aufrechte[n] Antifaschist[en]“. Diese zunächst positive Einführung endet mit den Worten: „Diesen Gelehrten bei uns geehrt zu wissen, wohl im Zeichen der Koalition der Vernunft, die der Besinnung von Kommunisten und Sozialdemokraten auf gemeinsame Tradition günstig ist, tat mir gut“. Dennoch sei Harich „erbost“ gewesen. Denn Tönnies’ Begriff der Gemeinschaft sei, „weil unmarxistisch gedacht, weil gewonnen aus romantischem Mißverstehen der Aussagen von Morgan und Engels über den Urkommunismus, einst zum Ausgangspunkt reaktionärer Entwicklungen in der deutschen Soziologie geworden“. Diese wiederum waren die Grundlage der späteren faschistischen Volksgemeinschaftsideologie. Harich bemängelt, dass dieser Sachverhalt nirgend von Rudolph erwähnt wurde. In den folgenden Zeilen wird der eigentliche Grund für Harichs Empörung deutlich: Denn am 13. April 1986 jährte sich der 101. Geburtstag von Georg Lukács und Harich ist der Auffassung, letzterem hätte zum 100. Geburtstag ein ganzseitiger Artikel zugestanden. Außerdem: „Und wieso, frage ich mich, ist der Verfasser des Artikels gar nicht auf die Idee gekommen, erst einmal bei Lukács nachzuschlagen, um sich zu vergewissern, wie Tönnies vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus aus einzuschätzen ist? Wieso hat [dies] sogar dem Redakteur, als er das Manuskript in Satz gab, ferngelegen? Wo leben wir eigentlich?“.Footnote 35 Harichs Artikel ergeht sich dann in einer Lobeshymne auf Lukács, für ihn nach Lenin der größte marxistische Philosoph. Es geht Harich offensichtlich darum, den aus seiner Perspektive mangelhaften politischen und publizistischen Umgang mit Lukács in der DDR zu kritisieren.Footnote 36

Die Auseinandersetzung mit Tönnies muss vor dem Hintergrund der spannungsreichen Geschichte der Soziologie in der DDR interpretiert werden. Soziologie wurde vielfach politisch wie wissenschaftlich als überflüssig angesehen angesichts der Existenz und des vollumfassenden Anspruchs des Historischen Materialismus als der einen wahren Wissenschaft. Aufschlussreich könnte einer Untersuchung der Lebensläufe derjenigen Soziologen sein, die ihre akademische Ausbildung und Laufbahn in der Weimarer Republik begannen und nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR fortsetzten. Ein besonders spannender Fall ist der erwähnte Alfred Meusel, der in der DDR als Historiker wirkte, seine akademische Profession also wechselte. Soweit wie bekannt hat er sich in dieser Zeit zu Tönnies nicht öffentlich geäußert.Footnote 37

Nach 1990

In jüngerer Zeit ist es der Philosoph Peter Ruben (* 1933), der sich aus explizit linker Position mit Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft auseinandersetzt (Ruben 2002). Ruben möchte „mit Blick auf die vergangene kommunistische Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa zur Erkenntnis der „Grenzen der Gemeinschaft“ beitragen“ (ebd., S. 1). In einem Vortrag kam Ruben 2015 nochmal auf Gemeinschaft und Gesellschaft zu sprechen und hob die Nützlichkeit der darin von Tönnies getroffenen Unterscheidungen hervor (Ruben 2015).Footnote 38

Hingewiesen sei noch auf die Arbeit des Nationalökonomen und Sozialphilosophen Alfred Sohn-Rethel (1899–1990). Cornelius Bickel macht bereits 1991 darauf aufmerksam, dass Tönnies in Gemeinschaft und Gesellschaft „strukturelle Analogien zwischen dem Abstraktionsprozeß des begrifflichen Denkens in der neuzeitlichen Wissenschaft und dem Vordringen der Geldwirtschaft“ entwickelt, die der Sache nach die Grundzüge der Erkenntnistheorie Sohn-Rethels „vorausleuchten“ (Bickel 1991, S. 279). Ob diese Parallelen auf eine Tönnies-Lektüre Sohn-Rethels zurückgeht, muss hier offenbleiben.