100. Tauftag: Präsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland im Interview

Was Edith Stein uns heute noch zu sagen hat

Veröffentlicht am 01.01.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ An Neujahr 1922 wurde Edith Stein durch die Taufe in die katholische Kirche aufgenommen. Im katholisch.de-Interview erklärt Beate Beckmann-Zöller, Präsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland, was sie an der Gedankenwelt der heiligen Konvertitin fasziniert – und worin ihr Vermächtnis besteht.

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Jüdin, Christin, Philosophin, Intellektuelle, Ordensfrau: Edith Steins Lebensweg war vielschichtig. Nach wie vor fasziniert ihr Werk Theologen wie Philosophen. Was ist das Bahnbrechende an ihrer Gedankenwelt, das auch die heutige Welt noch anspricht? Und was hätte sie zur den aktuellen Debatten in Gesellschaft und Kirche zu sagen? Die Religionsphilosophin Beate Beckmann-Zöller, Präsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland, befasst sich seit langem mit ihrem Leben und Werk. Mit ihr sprach katholisch.de anlässlich des 100. Jahrestags der Taufe Edith Steins an diesem Neujahrstag.

Frage: Frau Beckmann-Zöller, Sie beschäftigen sich fast Ihr ganzes akademisches Leben lang mit Edith Stein. Was war sie für eine Frau?

Beckmann-Zöller: Sie war eine strenge, ernste Frau, sie hat sich aber auch einen fast kindlichen Glauben an Gott als Vater erhalten. Sie war sehr direkt, klarblickend und hat sehr entschlossen gehandelt. Sie hat gegengehalten gegen die Gefahr der NS-Rassenideologie, die andere, auch ihre Mitschwestern, nicht erkannt haben. Dennoch war sie geduldig und tapfer und hat ihr Schicksal getragen, ohne bitter zu werden.

Frage: Was beeindruckt Sie am meisten an ihrer Gedankenwelt, in ihren Werken?

Beckmann-Zöller: Einerseits ist es diese Schärfe des Denkens, diese Klarheit – und zugleich, in ihrem späteren Leben, die Einfachheit im Glauben. Mich interessiert besonders ihre religionsphilosophische Untersuchung "Freiheit und Gnade", die sie im Sommer 1921 geschrieben hat, als sie den Entschluss gefasst hat, in die katholische Kirche einzutreten. Ihre Überlegung lautet: Kann ich mich binden und gleichzeitig frei bleiben? Sie schreibt dann den großartigen Satz, dass Gott vor der Freiheit des Menschen Halt macht. Gleichzeitig verstehe Gott aber, den Menschen zu überlisten und zu locken, dass dieser sich freiwillig an ihn bindet und ihn in sein Leben hineinlässt.

Dazu kommt ihre Weite, vor allem in der Anthropologie. Ihre Philosophie kennt keine Verengung auf erkenntnistheoretische Fragestellungen. Bei ihr geht Erkenntnis auch über Gefühle, über das Spüren. Am Beispiel der Freude kann man das ganz gut sehen: Sie sagt, auch das Gefühl der Freude hat immer einen Inhalt, kennt ein Worüber. Und diese phänomenologische Zugangsweise, auch zu Gott, hat mich fasziniert. Gerade Edith Steins Zugang zu Gott geht über das hinaus, was wir kirchlich sozialisierten Menschen kennen, weil sie eben von "außen" kam.

Frage: Was prägte ihren Weg von Judentum zum Katholizismus?

Beckmann-Zöller: Eigentlich war sie Atheistin, bevor sie zum Katholizismus konvertierte. Sie schreibt in ihrer Autobiografie, dass sie sich in ihrer Jugend bewusst dazu entschieden hat, sich das Beten abzugewöhnen. Dieser Schritt in den Atheismus wurde dann in ihrer Studienzeit sehr stark von den Philosophen und Psychologen unterstützt, die sie gehört hat. Ihr atheistisches Weltbild wurde dann erschüttert – einerseits durch Christen, die sie kennenlernte, andererseits durch mystische Erlebnisse am Schreibtisch. Diese "religiösen Erlebnisse" schildert sie in philosophischen Werken. Das heißt, Theologen haben das sehr lange überlesen. Es ist die Rede von einer Geborgenheit, die sie plötzlich spürt, sich aber nicht erklären kann; von einer Kraftzufuhr, obwohl sie einen völligen "Burnout" erlebt hatte. 1918 schreibt sie schließlich, dass sie sich intellektuell zum Christentum durchgerungen hat.

Beate Beckmann-Zöller
Bild: ©privat

"Gerade Edith Steins Zugang zu Gott geht über das hinaus, was wir kirchlich sozialisierten Menschen kennen, weil sie eben von 'außen' kam", sagt Beate Beckmann-Zöller (Foto).

Frage: Die Taufe – und damit der offizielle Schritt in die katholische Kirche – erfolgte aber erst knapp vier Jahre später. Warum dieser relativ große Abstand?

Beckmann-Zöller: Eine große Rolle spielte das Zeugnis ihrer Freundin Anne Reinach, einer Physikerin, die trotz des Verlustes ihres Mannes im Ersten Weltkrieg "getröstet wurde durch das Kreuz Christi", wie es Edith Stein beschrieben hat. Das ist auf die junge Philosophin übergegangen, die selber auf der Suche war. Sie hat sich aber auch ganz intensiv mit Teresa von Avila auseinandergesetzt, die zu ihrem großen Vorbild wurde. Besonders faszinierte sie Teresas Topos von der "Freundschaft mit Gott". So reifte in ihr schließlich der Entschluss, katholisch zu werden.

Frage: Was hat Edith Steins katholischen Glauben schließlich besonders ausgemacht?

Beckmann-Zöller: Sie hat auch als Katholikin immer die Verbindung zum Judentum gesucht – und die hat sie vor allem in der Liturgie empfunden. Sie schreibt zudem viel über alttestamentliche Figuren, mit denen sie sich identifiziert, zum Beispiel mit der Königin Esther. In Ihrem Katholisch-Sein hat sie also nochmal ihr Jüdisch-Sein vertieft.

Frage: Edith Stein gilt aufgrund ihrer Lebensgeschichte als Brückenbauerin zwischen Judentum und Christentum. Wie wird ihre Rolle seitens der jüdischen Gemeinschaft bewertet?

Beckmann-Zöller: Dass sie eine Brückenbauerin ist, kann man so nicht sagen. Das ist ein Euphemismus von christlicher Seite. Für viele Juden ist das Thema auch heute noch sehr schwierig. Bei den liberaleren ist das nicht unbedingt der Fall: Wir hatten auf unseren Jahrestagungen auch einen Rabbiner zu Gast, einen jüngeren, der bei diesem Thema keine Berührungsängste hat. Es gibt aber auch welche, die sagen: Lassen Sie uns in Ruhe mit Edith Stein – sie ist für uns keine Gesprächspartnerin.

Frage: Wenden wir uns einem anderen Bereich zu: Edith Stein gilt auch als Kämpferin für Frauenrechte. Ist sie auch für heutige Frauen noch ein Vorbild?

Beckmann-Zöller: Was ich in diesem Zusammenhang sehr interessant finde: Sie hat aus christlicher Perspektive Mädchenbildung und Geschlechteranthropologie durchdacht. Sie kannte auch schon das, was heute Intersexualität heißt – und nimmt das als Einwand gegen starre Geschlechtergrenzen. Sie hat selbst gesehen, dass es in der Nachfolge Christi mutige Ordensfrauen und zärtliche Äbte gibt. Die Menschen gehen somit über die starre Typologie in den Geschlechtern hinaus – und zwar, in Edith Steins Denkweise, durch den Heiligen Geist, mit dem man über die Grenze der Natur hinauswachsen kann. Für mich ist Edith Stein auch in dem Sinne ein Vorbild, weil sie sich durch Rückschläge nicht entmutigen lassen hat. Sie wollte eigentlich heiraten, wurde aber zweimal abgelehnt. Das hat sie tief getroffen, aber sie hat das ertragen. Und durch ihren Glauben an Jesus, der eben auch das Scheitern aufrichtet und anders fruchtbar werden lässt, hat sie einen anderen Weg einschlagen können. Sie ist daraufhin "geistlich Mutter" geworden, wie sie das selbst nennt: Edith Stein war selbst geistlich fruchtbar, indem sie beispielsweise junge jüdische Frauen zur Taufe begleitet hat. Dieses Fruchtbarwerden, das Leben in anderen Menschen wecken kann, macht sie auch heute noch attraktiv.

Bild: ©Edith Stein Archiv / Karmel "Maria vom Frieden" Köln

Edith Stein kam 1891 in Breslau zur Welt. 1922 wurde sie durch die Taufe in die katholische Kirche aufgenommen, 1933 trat sie in den Karmel Maria vom Frieden in Köln ein und nahm den Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce an. "Als Jüdin und Christin" wurde sie von den Nazis verfolgt und am 2. August 1942 nach Auschwitz deportiert. Eine Woche später, am 9. August, wurde sie dort umgebracht. 1987 wurde sie seliggesprochen, die Heiligsprechung erfolgte am 11. Oktober 1998. 1999 wurde Edith Stein zusammen mit den Birgitta von Schweden und Katharina von Siena zur Patronin Europas erklärt.

Frage: Was hätte sie zu den aktuellen innerkirchlichen Debatten – gerade um die Rolle der Frau – zu sagen?

Beckmann-Zöller: Edith Stein ist eine sehr sachliche Diskutantin und lässt sich nicht auf Machtkämpfe ein. Sie denkt eindeutig in drei Kategorien: das Mensch-Sein, das Geschlecht-Sein und das Individuum-Sein. Dieses gemeinsame Mensch-Sein betont sie sehr stark, und damit natürlich auch den gemeinsamen Auftrag aller in der Kirche. Aber sie sieht auch die Geschlechterdifferenz als ein tiefes Geheimnis der fruchtbaren Ergänzung. Es ist für sie ein Geschenk, dass es Männer und Frauen gibt, und gleichzeitig sieht sie sehr realistisch, dass Männer und Frauen sich auch in einem Kampf gegenüberstehen, in Haltungen von Misogynie, Frauenhass, und Misandrie, Männerhass. Sie legt schonungslos dar, was es für Fehlhaltungen im Charakter geben kann. Daher würde sie den Frauen heute raten, ihre Grenzen positiv zu verstehen und das weibliche Fruchtbar-Sein als Geschenk anzunehmen: Einfach die Lücken und die Chancen in der Gesellschaft zu suchen, um als Christin zu wirken.

Frage: Wie ließe sich das im Blick auf die Ämterfrage deuten?

Beckmann-Zöller: Diese Diskussion gab es zu der damaligen Zeit auch schon. Es gibt eine berühmte Textpassage, in der Edith Stein sagt: Natürlich spricht da im dogmatischen Sinne nichts dagegen. Aber gleich darauf sagt sie: Aber Jesus hat nicht einmal seine Mutter zur Apostelin berufen, von daher scheint es ganz klar sein Wille zu sein, dass es eine Geschlechter-Symbolik gibt, die es in dieser Differenz noch tiefer zu ergründen gilt. Aber für sie persönlich war das Priestertum keine Frage. Ich denke auch, das ist eine Verengung, weil es so viele Aufgaben gibt. Es kommt darauf an, das Miteinander von Geweihten und Nicht-Geweihten zu suchen. Dieses Miteinander wäre für Edith Stein das Stärkere. Sie würde das empfehlen, anstatt sich an dieser Frage abzuarbeiten.

Frage: Worin sehen Sie Edith Steins bleibendes Vermächtnis in der Kirche?

Beckmann-Zöller: Sie ist eine Grenzgängerin: Zwischen Juden und Christen, zwischen Männern und Frauen, aber auch zwischen Deutschen und Polen. Durch diese Biografie ruft sie quasi schon zu einer besseren Verständigung auf. Was sie zudem mitgeben kann: die Ermutigung für junge Frauen und Männer, tatsächlich ihre Berufung zu suchen. Und sie spricht tatsächlich auch Menschen außerhalb der Kirche an. Gerade im Blick auf die vielen Menschen, die heute nicht mehr getauft sind, oder auf, die, die auf der Suche sind nach einer geistlichen Heimat, finde ich das sehr wichtig. Ich habe Philosophiestudenten kennengelernt, die nichts mit der katholischen Kirche zu tun hatten: Bei ihnen hat jedoch die Beschäftigung mit Edith Stein dazu geführt, dass sie nach der Taufe gefragt haben.

Frage: Und in der Gesellschaft?

Beckmann-Zöller: Da würde ich erneut ihre Anthropologie nennen, die ist sehr anschlussfähig für heutige Debatten. Sie untersucht Individuum und Gemeinschaft, hat einen wertschätzenden Freiheitsbegriff. Und was man von ihr lernen kann ist das, was sie selbst eine "heilige Sachlichkeit" nennt: eine Forscherhaltung, die auf das Ganze der Dinge blickt, Erfahrungen wahrnimmt und auch die Verschiedenheit der Positionen anerkennt, aber dann aufeinander hört und den intersubjektiven Austausch sucht. Oft zählt heutzutage der am meisten, der sich am lautesten zu Wort meldet. Das wäre nicht Edith Steins Weg.

Von Matthias Altmann

Zur Person

Dr. Beate Beckmann-Zöller ist freiberufliche Religionsphilosophin und lebt mit ihrer Familie südlich von München. Sie hat zu Edith Stein promoviert sowie weitere Werke über sie verfasst und ist Herausgeberin von sieben Bänden in der Edith-Stein-Gesamtausgabe (28 Bände). Seit 2021 ist sie Präsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland.